Wer nicht arbeitet, soll auch nicht regieren

Plenarsaal des Deutschen Bundestages.
CC BY-SA 3.0, A. Delesse (Prométhée), CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Seit Jahren beklagen sich die Bürger, dass es der Politik an Bürgernähe fehle. Das könnte man vielleicht mit einer Wahlrechtsreform eindämmen: Indem nur noch in den Bundestag gewählt werden darf, der schon mal von seiner Hände Arbeit leben musste.

Stammtischsprüche habe einen schlechten Ruf. Aber wie das mit schlechten Rufen so ist: Manche haben dieses wertmindernde Prädikat ganz zu Unrecht verliehen bekommen. Denn nicht jeder Stammtischspruch ist gleich schlecht, zumal es Stammtische und Stammtische gibt. Nehmen wir nur mal diesen beliebten Einwand, wonach Politiker mal was arbeiten sollten: Mag sein, dass diese Parole nicht ganz richtig ausformuliert ist – aber falsch ist sie deshalb noch nicht.

Denn geht man dieser geselligen Forderung auf den Grund, wird mancher Stammtischbruder redselig, dann zeigt sich, was eigentlich damit gemeint ist: Bürgerferne. Was auch immer bedeutet: Arbeitsmarktferne. Politikerinnen und Politiker, so fühlt man das mancher da draußen, wissen nicht so recht, wie es zugeht, wenn man seine Arbeitskraft zu Markte schleppen muss. Wie abhängig, wie ohnmächtig und wie schwach man zuweilen ist etwa. Diesen Missstand könnte man beheben, zumal Wahlrechtsreformen gerade beliebt sind.

Wahlrechtsreformen sind nötig

Emilia Fester (Die Olivgrünen), die jüngste Abgeordnete im Bundestag, machte neulich ganz freudig erregt darauf aufmerksam. Auf die Drucksache 20/3499 des Deutschen Bundestages nämlich: Entwurf eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Europawahlgesetzes. Damit junge Leute in Europa nicht diskriminiert werden, so liest es sich dort, gibt es nur eine Lösung: Dass »das Mindestwahlalter für das aktive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in § 6 des Europawahlgesetzes von 18 auf 16 Jahre abgesenkt wird.«

Nun lässt sich ganz ausgezeichnet darüber streiten, wie sinnvoll so ein Vorhaben ist: Ob es beispielweise einer gewissen Reife bedarf, sein Votum abgeben zu dürfen. Und sei es nur die Geschäftsfähigkeit als Grundvoraussetzung. Ohne gleich in die falsche Ecke verfrachtet zu werden, darf man doch wohl noch Zweifel an einem Konzept anmelden, in dem junge Menschen die Verantwortung einer Wahlentscheidung auf ihre Schultern nehmen dürfen, während sie weder einen rechtsverbindlichen Vertrag unterschreiben können, noch vor Gericht als vollkommen selbstverantwortliche Rechtsperson betrachtet werden.

Auf eine Debatteneröffnung in dieser Frage wollen diese Zeilen aber gar nicht hinaus. Emilia Fester hat ihre Freude jedenfalls um eine Perspektive erweitert: So ein Wahlrecht für Sechzehnjährige, so stellt sie hoffnungsfroh in Aussicht, müsse bald auch für Bund und Länder kommen. Anders gesagt: Wahlrechtreformen sind in diesem Land, in dem Wahlrechtsreformen nicht sonderlich beliebt waren in den letzten Jahren, doch noch möglich. Warum also nicht mal darüber nachdenken, dass – in diesem Falle passive – Wahlrecht dahingehend zu verändern, es an Faktoren zu knüpfen, die gegeben sein müssen, um sich zur Wahl anbieten zu dürfen.

Reifeprüfung

Weniger geschwollen formuliert: Was spricht denn dagegen, dass potenzielle Abgeordnete aus eigener Erfahrung wissen sollten, wie es ist, auf dem freien Markt Geld zu verdienen, sich und seine Hände Arbeit feilbieten zu müssen? Im Notfall geht natürlich auch des Kopfes Arbeit. Kleinlich muss man da echt nicht sein. Aber immerhin, mal irgendwo gegen einen Lohn oder ein Honorar gearbeitet zu haben, mit Sorgen um einbrechende Auftragslagen oder drohende Arbeitslosigkeit ins Bett zu gehen: Das kann doch wahrlich für den weiteren Lebensweg in einem Parlament nicht schaden!

Die oben genannte Stammtischparole von einer Politik, die mehr und mehr den Bezug zum arbeitenden Volk verliert, ist ja dieser Tage wahrlich nicht mehr von der Hand zu weisen. Man spürt das nicht nur im Geist und der Stoßrichtung der herrschenden Politik, sondern eben auch in vielen kleinen Nebensätzen, die die Sprechautomaten des politischen Betriebes immer wieder absondern. Dass diese Leute nicht wissen, wie es sich als Lohnabhängiger oder aber als Ladenbesitzer, Dienstleister oder Freiberufler, vielleicht auch als Arbeitsloser lebt, lässt sich immer wieder herauslesen. Sie sind weg von der Basis der Werktätigen, kennen sie bestenfalls nur aus sterilen Berichten und saisonbereinigten Statistiken – oder aber aus Betriebsvisiten, die natürlich von langer Hand geplant und so strukturiert werden, dass sie die Probleme von Branche und Angestellten gar nicht erst zu Gesicht bekommen.

Ein Mandat für die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes übernehmen zu wollen, sollte eigentlich an einer Form der Reifeprüfung geknüpft sein. Da eine Prüfung wie beim Führerschein nicht zielführend ist, scheint doch das Arbeitsleben als Schule prädestiniert zu sein: Wer direkt aus dem Studium in die Politik strebt, muss sich doch die Frage gefallen lassen, wen er eigentlich vertreten will und auf welcher empirischen Grundlage? Leute, die ohne diese erworbene Reife in den Politikbetrieb drängen, muss es zwangsläufig an der Sensibilität fehlen, die Lebenswirklichkeit von Millionen von Menschen zu kennen – Ausnahmen mögen hier die Regel bestätigen.

Natürlich arbeiten auch Politiker – aber …

Natürlich werden jetzt einige einwenden, dass das schlimmster und dümmster Populismus sei. Eine Stammtischparole eben, die es sich zu einfach macht – der bierselige Mythos, wonach Politiker sich einen schönen Lenz machen. Das stimmt natürlich nicht, wer über das Leistungspensum von Parlamentariern etwas lesen möchte, dem sei Roger Willemsens »Das Hohe Haus. Ein Jahr im Parlament« aus dem Jahre 2014 wärmstens ans Herz gelegt. Der viel zu früh verstorbene Willemsen hat von der Zuschauertribüne die Kleinteiligkeit der Berliner Politik beobachtet, die Detailarbeit, das statutenbasierte Fachwissen, das sich in 80- oder 90-Stunden-Wochen angelesen und erworben wird – und das zuweilen, auch das schreibt Willemsen, in Realitätsferne mündet.

Gleichwohl fallen Politikerinnen und Politiker nicht hart. Ihre Bezüge sind unantastbar, Pensionen sind nach einem Jahr im Parlament sicher. Das Arbeiten im Bundes- oder Landtagen als eine Art von Surrogat zu den Dynamiken von Jobs in der freien Wirtschaft stilisieren zu wollen, wäre unstatthaft – und ja, gewissermaßen auch »umgekehrter Populismus«. Die Angst tief in die Arbeitslosigkeit und Armut zu fallen, existiert dort nicht. Bezüge werden regelmäßig angepasst, ganz anders als bei vielen Arbeitnehmern im Land, die seit Jahren stagnieren und seither nicht mal einen Inflationsausgleich erhielten.

Wenn man indes Emilia Fester beobachtet, zweifelt man schon sehr an dem, was Roger Willemsen berichtete. Die junge Frau macht lustige Tanzvideos aus dem Inneren des Bundestages und spuckt Gift und Galle, wenn man das kritisiert. Sie und ihre Anhängerschaft nennen das »Neiddebatte«. Dabei ist Neid ein völlig deplatzierter Begriff, wenn Menschen, die diese politische Vertretung bezahlen, mal freundlich nachfragen, ob ihr finanzielles Engagement auch mit dem nötigen Ernst und Respekt honoriert wird. Dieser Grundgedanke könnte indes leichter verstanden werden, hätten wir ein Wahlrecht, das einen vorherigen Arbeitsplatz notwendig macht, bevor man sich wählen lassen kann.

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18 Kommentare

  1. Diese Art von Kompetenz wäre auch in anderen Bereichen angebracht (Behörden, Unternehmensberatung usw.).
    Da aber jegliche Reform von der realitätsbefreiten Politikaria genehmigt werden muß, habe ich leider keine Hoffnung.
    Während in der Vergangenheit eine gewisse Verschlagenheit und kräftiger Opportunismus, sowie familiäre Netzwerke Voraussetzung für eine politische Karriere waren, stehen heute wohl eher Narzissmus, Moralisierungsdrang und Inkompetenz (wird gern als Vorteil deklariert) im Vordergrund.

      1. Eine sehr gute Seite, die auch andere in der Gesellschaft vorhandene Meinungen abbildet. Für die anderen Menschen, die da kognitiv nicht mitkommen, gibt es ja betreutes Denken im Tagesspiegel, SPON & Co.

  2. Die beste Staatsform zeichnet es aus, dass sie mit einem Minimum an Gesetzen auskommt.
    Das setzt wiederum voraus, dass es auch Bürger gibt, die damit auch klar kommen würden.

    1. Ohne Autonomie und Eigenverantwortlichkeit kann es keine vernünftige Staatsform geben. Vernunft ist nämlich jedem gegeben. Dass man die Vernunft aller aus Gründen des Machtinteresses nicht gemeinsam nutzt, ist das Wesen des Staates. Deshalb hätte ich am liebsten eigentlich keinen.

  3. @Roberto J. Der Lapuente

    Guter Text dem nur zuzustimmen ist zumal in Zeiten wo jeder Besucher im ersten Jahr einer Wirtschaftsschule mehr Kompetenz als ein deutscher Wirtschaftsminister namens Robert Habeck hat, dem jegliche wirtschaftliche Kompetenz völlig abgeht.

    Gruß Bernie

  4. An sich eine gute Möglichkeit.
    Mir stellt sich eher die Frage ob die derzeitige Parteiendiktatur überhaupt den Begriff Demokratie verdient.
    Allein die Vereinnahmung der ÖRR durch Lobbygruppen und die Steuerung derselben erinnert fatalerweise an Ereignisse wie sie schon einmal in diesem nicht mehr unserem Lande stattfanden. Wenn man das derzeitige System ein wenig an die basisdemokratische Kandare nehmen wollte, wäre ein effektives, neutrales und kontrolliertes Informationsgebot der ÖR der wichtigste aktuelle Schritt.
    Ich befürchte, Ihr Vorschlag Herr L, ist ein Tropfen auf dem heißen Stein.

  5. Aus dieser(n) Scheindemokratie(n) in der BRD/ westlichen Staaten eine wirkliche Demokratie zu machen, bedarf es wirklich mehr. Da hast du, lieber Veit Tanzt, absolut recht!

    Wurde der Wille des Volkes in den letzten 30 Jahren der neuen Bundesrepublik schon mal umgesetzt?

  6. Das Mädel hat es schon richtig erkannt, das geborene Fachpersonal hat in sehr vielen Fällen ihr Studium abgebrochen, ein plagiierte Doktorarbeit vorgelegt, oder ein Gesundheitsminister der ein Experte- Pandemie-Kampagne fährt um letztendlich auch eine Villa a la Spahn zu erhalten. Also warum nicht fair Teilen im Korruptionstadel Täuschland zwischen jung – mittel – alt?

    Traurig, aber das grüne Mädel sollte darauf hingewiesen werden, „Frau“ muss sich nicht zur Wahl stellen soweit ihre Loyalität passt. Siehe Ursula…

    1. Ein Onkologe hat Medizin studiert, ein Politiker….

      Das Problem das du nicht erkennst, ist das Problem der fehlenden Parität in der demokratischen Politik. Da nur Menschen mit genug Zeit, um ihre seilschaften zu pflegen heute noch aufsteigen können, ist die Zusammensetzung der Parlamente alles andere als divers. Eine Arbeiter und Angestelltenquote wäre wichtiger als eine Frauen- oder sonstige Attribute quoten, denn die soziale Herkunft ist entscheidender für die Politik.

      Oder um das auf dein Beispiel runter zu brechen. Auch der krebskranke muss bei der Entwicklung von Behandlungen involviert werden. In der heutigen Politik haben aber nur Heilpraktiker das sagen.

  7. Die herrschenden wollen keine Wahlrechtsreform, weil sie keine Demokratie wollen, sondern die eigene Macht. Ob das ein Naturgesetz der Macht ist, oder nur auf so braune beschränkt, da bin ich nicht sicher.
    Die 5% Klausel und die Not, „taktisch“ zu wählen ließe sich z.b. Durch ein Stimmentestament von ev. zu kleinen Parteien an größere aufllösen, ohne deren angeblichen Sinn zu beschädigen.
    Die Furzparteien wollen aber keine Demokratie. Nicht mal eine echte parlamentarische.

  8. Dürfen sich dann Menschen, die verantwortungslos mit der Umwelt umgehen noch aufstellen lassen. Oder die Philosophie praktizieren.
    Wahrscheinlich fallen jedem noch 5 andere willkürliche Ausschlusskriterien ein.
    Völlig sinnloser Artikel.

  9. Zumindest sollte jemand, der im Bundestag sitzt, eine abgeschlossene Berufsausbildung oder gerne Studium haben. Ob sie berufstätig waren ist nicht 100 % nachprüfbar, wenn Mutti oder Vati ihren Sprößling in Ihrer Anwaltskanzlei oder Baugeschäft proforma beschäftigt haben. Die Reduzierung im Bundestag wäre ganz einfach, jeder Wahlkreis stellt den Kandidaten, der direkt gewählt wurde und die Partei, die die meisten Stimmen hat, schickt Ihren 1. Listenplatz aus ihrem Wahlkreis. Egal welchen Geschlechtes oder welcher Regenbogenfarbe. Aber dann wären vielleicht manche , die jetzt dort sind, nicht mehr dort ?

  10. “ Indem nur noch in den Bundestag gewählt werden darf, der schon mal von seiner Hände Arbeit leben musste.“ Das klingt ja fast chinesisch. Nicht aktuell, aber aus der Zeit, wo das kleine Rote Buch Maos in Deutschland massenweise verteilt wurde.
    Ich ergänze, weil es dabei nicht allein um Demokratiefragen und das Verhältnis zwischen Bürgern und Repräsentantinnen geht: Ohne das, was man im früheren östlichen Teilstaat polytechnische Erziehung nannte, kann von umfassender Bildung nicht die Rede sein. Eine Schulzeit und Studium folgende abhängige Beschäftigung in einem Abgeordnetenbüro reicht nachweislich nicht aus, um die Bedeutung realer, menschlicher Arbeit für die Entwicklung des Einzelnen und der Gesellschaft zu erfahren. „Erfahrung ist der beste Lehrmeister. Dies nur im Einzelunterricht.“ Handelnder Umgang mit den Dingen, die uns umgeben, ist unerlässliche Voraussetzung einer anzustrebenden möglichst umfassenden Weltsicht. Ohne diese Erfahrung droht die Ersetzung global denkender Menschen durch globalistische Ideologen.

  11. Es gibt mittlerweile einige Studien zum Thema Pubertät, dass das Verantwortungsbewusstsein selbst mit 18 nur bedingt ist. Insofern sehe ich Abgeordnete mit 16 sehr kritisch.

    Abgeordnete müssen nicht unbedingt vorher gearbeitet haben. Es sollten jedoch ein paar Dinge geändert werden:
    1) Keine Pensionen sondern normale Beiträge in die DRV und die sonstige Sozialversicherung. Sie verdienen gut und dürfen gerne privat vorsorgen wie wir alle.
    2) Keine Nebentätigkeiten während der Abgeordnetenzeit. Wer eine Kanzlei oder Firma hat muss eben jemanden einstellen für diese Zeit.
    3) Lediglich 2 Legislaturperioden hintereinander sind möglich. Dann nach einer Pause von 1 oder 2 Legislaturperioden darf man wieder dabei sein. Das alleine wird dafür sorgen, dass viele Abgeordnete einer beruflichen Tätigkeit nachgegangen sein werden.
    4) Das Parlament hat eine Nenngröße, aber an die Parteien werden lediglich die Sitze im Verhältnis der Wahlbeteiligung vergeben. Die restlichen Sitze werden in der Art eines Bürgerrats repräsentativ ausgelost.

    Leider ist das mit den Parteien ganz sicher nicht machbar. Petition?

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