Die falsche Seite der Geschichte

Skizze von Frank-Walter Steinmeier.
bearbeiteter Screenshot, phoenix

Jetzt geht es dem Staatsoberhaupt an den Kragen. Die Bildzeitung nennt ihn einen »falschen Präsidenten«. Dem kann man sich anschließen, aber die von Bild erbrachten Vorwürfe sind selektiv – werden der Person Steinmeiers nicht gerecht.

Steinmeier könne »niemand mehr aufrütteln«, heißt es am Einheitstag in einem Bild-Kommentar von Filipp Piatov. Alleine diese Aussage ist schon fragwürdig. Konnte der amtierende Bundespräsident das je? Eigentlich ist er im Land als Anästhesist bekannt. Wo er spricht, konnte man stets fein schlummern. Dann listet uns der freiberufliche Journalist Piatov auf, wo Steinmeier auf der falschen Seite stand: 2014 widersprach er seinem Amtsvorgänger Gauck, als dieser – wie man es von ihm kennt – vor den Russen warnte. Später habe er der NATO Säbelrasseln vorgeworfen. Und: Als Bundespräsident gratulierte er 2019 den iranischen Mullahs zum Revolutionsjubiläum.

Das war’s. Mehr werfen ihm Bildzeitung und Piatov nicht vor. Dabei hieß es in einem einleitenden Satz noch: »Kaum ein deutscher Politiker stand so oft auf der falschen Seite der Geschichte wie unser Staatsoberhaupt.« Große Ankündigung für zwei lausige Punkte? Dabei könnte man wirklich noch einige Punkte aufführen, wo er auch – oder besser gesagt: wirklich – auf der falschen Seite stand.

Kuscheln mit USA und Neoliberalen: Waren das keine Fehler?

Doch das formuliert man lieber nicht, es reicht, wenn man ihm jetzt zu viel Freundlichkeit gegenüber Russland und dem Iran attestiert, den Schergen der Stunde, vor denen sich zu distanzieren jetzt das Gebot des Augenblicks ist. Seine Nähe zu amerikanischen Geheimdiensten und ihren exterritorialen Foltergefängnissen: Warum dazu kein Wort, Herr Piatov? Womöglich passt das nicht in eine Zeit, in der amerikanische Geheimdienste die eigentlichen Elefanten im Raum darstellen. Oder bildlicher gesprochen: In der Ostsee badende, zuweilen tauchende Elefanten.

Natürlich stand Steinmeier recht oft auf der falschen Seite der Geschichte. Das, was die Bildzeitung ihm unterstellt, sind jedoch keine Gründe. Eine europäische Friedensordnung ohne Russland ist schlicht nicht vorstellbar. Daher kann man sein Bemühen um Russland wirklich nicht als Fehler kennzeichnen. Steinmeier hat ja dummerweise selbst die Steilvorlage dazu gegeben, indem er recht früh »seinen Fehler« eingestand.

Bekenntnisse: Die Zeiten erforderten mal wieder welche. Also lieferte er. So kennt man das von Steinmeier.

Seine Rolle als graue Eminenz der Agenda 2010 ist noch so eine Beteiligung, die sich auf der falschen Seite der Geschichte abspielte. Steinmeier war maßgeblich daran beteiligt, seine eigene Partei zu zerlegen und ihre Klientel zu verprellen. Als Kanzlerkandidat 2009 schmierte er bitter ab, 23 Prozent erhielt seine Partei damals – bis heute das zweitschlechteste Ergebnis seiner Partei bei einer Bundestagswahl. So richtig angetan hat er es den Wählerinnen und Wählern also nicht. Und das, obgleich er uns in jenen Jahren immer wieder als der beliebteste Politiker im Lande vorgestellt wurde.

Steinmeier, der Sparpräsident

Steinmeier saß seinerzeit mit am Tisch der Hartz-Kommission, spielte die Mittlerrolle zwischen Regierung und dem so genannten Expertenrat. So wurde es zumindest einige Zeit kolportiert. Im Laufe der Zeit sprach man davon, dass er viel stärker involviert und nicht nur Mittler war, sondern Architekt der Reformen, die den Arbeitsmarkt und das Sozialsystem schleifen sollten. Die Reformen, so sagte er einst, haben »Deutschland so wettbewerbsfähig wie nie zuvor« gemacht.

All diese Reformen, die von der SPD angeschoben wurden, strebten eine Entwicklung an: Die Staatsausgaben senken. Die galten als die Ursache dafür, dass die Bundesrepublik sich als »kranker Mann von Europa« stilisierte. Der Sozialstaat wurde sukzessive eingehegt, Regelsätze stampften persönliche Lebens- und Arbeitsleistungen ein und die auf Unterstützung Angewiesenen hatten zunächst von der eigenen Substanz zu leben oder sich von der Familie abhängig zu machen.

Langfristig hat sich Hartz IV als Programm zur Verwaltung und Gängelung von arbeitslosen Menschen erwiesen. Das System hat indes die Langzeitarbeitslosigkeit verfestigt, denn von der Parole »Fördern und Fordern« blieb nur letzteres übrig. Gefördert wurde wenig, man steckte Arbeitslose zwar nach wie vor in Bewerbungskurse, aber Umschulungsangebote wurden zusammengestrichen. Knauserige Regelungen des Zuverdienstes minimierten zudem die Motivation.

All das – und noch einiges mehr – bedeutete Steinmeier IV einst wirklich. Der Mann ist maßgeblich für diese verkorkste Sozial- und Gesellschaftspolitik verantwortlich. Er war Rädelsführer bei einer Reformpolitik, die Regionen und Landstriche und auch weite Teile der Gesellschaft spalten sollte. Später haderte er freilich zögerlich mit Hartz IV, mahnte Reformen an. Das waren die Lippenbekenntnisse der Zeit, die Sozialdemokratie wollte diese leidige Geschichte irgendwie hinter sich lassen und ihre Geschichte klittern. Der Sparpolitiker musste dem vermeintlich »empathischen Volkspolitiker« weichen. Es war damals eben mal wieder Zeit für Bekenntnisse: Und Steinmeier, Opportunist der er immer war, lieferte welche.

Wieso sollte Frieden schädlich sein?

Wir stecken gerade in Zeiten, in der man über vergangene Fehler sprechen, die sich aber nur rund um Putin und Russland drehen dürfen. Als ob das politische Personal sonst völlig fehlerlos und mit reiner Weste durch die Lande tingelte.

Diese »Aufarbeitung« ist natürlich Augenwischerei, lenkt vor den zentralen Themen sozialer Ungleichverteilung ab. Am Beispiel Steinmeiers sieht man das jetzt besonders gut. Die Spaltung in diesem Lande ist nämlich Ausdruck seiner politischen Karriere. Als Statthalter der Neoliberalisierung hat er enorm dazu beigetragen, diesem Land die Substanz zu entziehen und die Armut zu forcieren.

Darüber spricht man aber nicht so wahnsinnig gerne. Man hat sich jetzt lieber Putin auserkoren, um Abbitte leisten zu können. Denn das die Zeiten ein klein wenig Einsicht und Aufarbeitung bedürfen, das spürt man wohl in den PR-Abteilungen dieser Republik. Der Kuschelkurs der herrschenden Politik und Ökonomie mit dem Neoliberalismus hat jedoch weitaus mehr Schaden in den Leben und Existenzen der Bürgerinnen und Bürger verursacht, als ein friedlicher Umgang mit Russland es je hätte fabrizieren können. Wie könnte auch Frieden und Partnerschaft schädlich sein?

Wir leben in einem Land und in einer Zeit, in denen es als verwerflich gilt, jemals friedliche Absichten mit dem europäischen Nachbarn im Osten gepflegt zu haben, während es immer noch als lässlich und nicht der Rede wert betrachtet wird, gezielt am sozialen Unfrieden im Inneren mitgearbeitet zu haben. Die wachsende Ungleichheit, die auf den entfesselten Markt zurückzuführen ist, ist noch nicht mal ein Kavaliersdelikt, das man den politischen Akteuren vorhalten möchte. Man fokussiert sich lieber total fanatisiert auf jedes freundliche Wort, das man Putin und Russland angedeihen ließ. Es steht eben nicht nur der Bundespräsident viel zu oft auf der falschen Seite der Geschichte …

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13 Kommentare

  1. Herr Steinmeier war seinerzeit auch, zusammen mit Herrn Westerwelle, auf dem Maidan demonstrieren. Später legte er sich ins Zeug, damit die Ukraine nicht explodiert, dieser Sachverhalt wird ihm besonders von Herrn Melnyk vorgeworfen und selbiger schämt sich nicht, einem, der seinem Klientel zur Macht verholfen hat und das Staatsoberhaupt von Europas Zahlmeister darstellt, öffentlich zu erniedrigen. Politik ist eine Hure, man ist gut beraten, die offiziell vorgesetzten, vergifteten Süppchen zu meiden.

    1. Geh ich voll mit, aber nicht die Politik ist schuldig, es sind die Parteien die es versauen und ihre Fraktionsvorsitzenden und der Lobbyismus und so weiter. Die Politik lebt dank unserer Parteien und den Institutionen nicht mehr. Vielleicht doch mal ein bisschen Schweiz probieren, wenn dann aber schnell, sonst seh ich leider schwarz. Ja und auch das Schweizer System ist nicht perfekt, aber ein Anfang. Ach ich häng mal noch den letzten Diskurs von Herrn Sonneborn mit Herrn Bühlow an, war recht erhellend.
      https://www.youtube.com/watch?v=KCRD1-8zgHY

      1. „aber nicht die Politik ist schuldig“
        Und wer macht Politik, wenn nicht eben jene Parteien, die Sie mit recht kritisieren?
        Politik ist keine Jungfrau, die verschämt in der Ecke steht und wartet, bis jemand sie zum Tanze auffordert.
        Politik folgt ökonomischen Vorgaben und Interessen,

  2. So friedlich war nun Steinmeier doch nicht. Er „gilt“ zwar der Propaganda als „Architekt von Minsk 2“, was an sich schon Hochstapelei ist, aber spätestens nach seiner Aufforderung an Kiew, das Abkommen nicht umzusetzen, zieht er mit Poroschenkow gleich und offenbart, ebenfalls das Abkommen nie ernst gemeint zu haben.

  3. Lapuente schreibt es: es war die Agenda2010 (und ihre Konstrukteure wie die ‚Initiative NS Marktwirtschaft‘), die Privatisierung aller Versorgung, was man Steinmeier vorwerfen muss. Er war auch Schroeders Pate, selbst die Schroeder-Lache (bekannt vom Kabarett) war urspruenglich von Steinmeier.
    In „Politik ist die Hure“ steckt es auch drin: Politik brauchen wir immer, notfalls selber machen, aber wenn gemacht wird, was _bezahlt_ wird, wird es zum Problem.
    In der Bildungspolitik wurde behauptet: „Bildung ist am besten, wenn man dafuer bezahlt“ (vermutlich wie im Bordell: Sex ist am besten, wenn…) – hier wird es offensichtlich, wie bekloppt Steinmeiers ‚Geld regiert die Welt‘-Ideologie wirklich ist. Nur eine Fortsetzung der CDU mit anderen Mitteln: Umverteilung von unten nach oben. _Das_ kann man ihm vorwerfen, dem „beliebtesten Bundespraesi“ (DLF).
    Und Melnyk wird sich niemals fuer irgendwas schaemen, und vermutlich nur mit aller Gewalt reich werden wollen. Hat er eigentlich Selenskis ‚Praeventiv-Atomschlag‘ kommentiert? Das muesste doch ganz nach seinem Geschmack sein.

    1. Lapuente meint die Initiative nationalsozialistische Marktwirtschaft und die Lache Schröders Frauen stammt von Gerd mit Pferd, nicht von Steinmeier. Steinmeier kann gar nicht lachen. Steinmeier hat sein Lachen dem Teufel verkauft. Wenn der Lapuente so schludrig weiter recherchiert, dann kriegt er noch ne Abmahnung von der Bildzeitung.

  4. Jetzt kommt der Doppelbums von der Regenbogenpresse/Yellow Press. Bei Christian Wulff hat daß auch bestens geklappt. Ganz großes Demokratie Kino für die Untertanen. Unterhaltung in schlechten Zeiten!

  5. Natürlich kann Steinmeier weg!
    Bloß die Begründung ist falsch!

    Ich hätte auch einen Namen im Kopf, der dass Amt besser für das deutsche Volk ausfüllen kann. Ein EX-SPDer und kurzzeitiges Mitglied in der Schröderregierung. Heute parteilos.

    Da würde die BILD und ihr Auftragsrolatius der Herr Piatov aber noch mehr blubbern…..

  6. „Dann listet uns der freiberufliche Journalist Piatov auf, wo Steinmeier auf der falschen Seite stand: 2014 widersprach er seinem Amtsvorgänger Gauck, als dieser – wie man es von ihm kennt – vor den Russen warnte. Später habe er der NATO Säbelrasseln vorgeworfen. Und: Als Bundespräsident gratulierte er 2019 den iranischen Mullahs zum Revolutionsjubiläum.“

    Heute habe ich das mea culpa von Herrn Gabriel gehört und nachdem auch schon Merkel und Steinmeier und vielleicht noch so man anderer sich nach der „Zeitenwende“ von seinen politischen Haltungen distanzierte, frage ich mich, ob das nicht alles Anzeichen für ein „1984“ sind.

    Zur Erinnerung: Die Hauptperson arbeitet dort im Ministerium für Wahrheit und ihr Hauptaufgabe besteht darin, die Nachrichten in den Archiven zu bereinigen, falls mal wieder zwischen den drei im Krieg befindlichen Machtblöcken ein Partnerwechsel statt gefunden hat. Denn natürlich fallen diejenigen, die vorher ein Bündnis mit der „falschen Seite“ geschlossen hatten, ganz plötzlich in Ungnade.

  7. „Statthalter der Neoliberalisierung“ Gute Charakterisierung.
    „In der Ostsee badende, zuweilen tauchende Elefanten.“ Und noch eine. Ein gutes Beispiel, wie man mit Surrealismus die Realität sichtbar macht.

  8. Wer als Außenminister der wichtigste Diplomat seines Landes war und sich bei erster Gelegenheit als Staatsoberhaupt von einem ungehobelten Typen wie Melnyk beleidigen lässt, sich in Sack und Asche wirft und nach Canossa kriecht, nur weil man einst seine diplomatischen Aufgaben wahrgenommen hat, der darf sich nicht wundern, wenn jeder Respekt sich umgehend verflüchtigt. Er hätte es wissen müssen, dass auch die „Bösen“ zu Recht ein Sicherheitsbedürfnis haben. Seine Reue ist jämmerlich und peinlich.

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