Mehr Maradona wagen

Maradona beim Spiel Argentinien gegen England während der WM 1986 in Mexiko.
Dani Yako, Public domain, via Wikimedia Commons

Die Weltmeisterschaft ist vorbei. Argentinien ist Weltmeister. Für die DFB-Mannschaft war das Turnier schon lange vorbei. Weil sie den Fokus auf Politik legte? Das sicher auch. Gleichwohl spielt sie Fußball von der Stange.

Am Tage des Halbfinales Argentinien gegen Kroatien, kramte die Frankfurter Allgemeine wieder die alte Kamelle von den betrügerischen Gauchos heraus. Es ging um gekaufte Spiele und um Maradonas Ursünde. Die argentinische Elf, so hieß es in der FAZ, habe wieder »das alte Erfolgsmodell für sich entdeckt«. 1978 hat die argentinische Delegation einen Kantersieg gegen Peru erkauft: Diese Geschichte ist wahr, sie wird selbst in Argentinien nicht mehr in Frage gestellt. Aber dass die aktuelle Elf um Messi etwas Ähnliches getan hätte – weiß man in den Frankfurter Redaktionsstuben etwa mehr?

Das Bashing Maradonas jedoch hat in Deutschland alte Tradition. Beliebt war er ja nie, der Goldjunge, der pibe de oro aus Villa Fiorito, einem der ärmsten Stadtteile von Buenos Aires. Natürlich war er ein Großmaul, irgendwann wuchsen ihm Erfolg und Beliebtheit über den Kopf, seine späten Jahre in Neapel waren nicht durch Sportgeist getragen, um es vorsichtig zu sagen, er geriet in falsche, in kriminelle Kreise. All das trifft zu. Doch eine Spur Klassismus schwingt in dieser fast schon traditionellen Maradona-Verachtung auch mit: Denn der Argentinier betonte seine Herkunft gerne und laut, auch gegenüber denen, die auf die Armen herabblickten – ja, besonders denen gegenüber. Das machte ihn in gewissen Kreisen freilich verdächtig, unter Umständen auch gefährlich, so einen musste man im Auge behalten und schlechtreden, wo es nur geht.

Aus der Krise in die Krise

Bis heute hält sich hartnäckig das Gerücht, dass Diego Armando Maradona bei der Weltmeisterschaft 1994 nur deshalb eine Spielsperre erhielt, weil man fürchtete, seine Mannschaft könnte den Titel gewinnen. Maradona hatte in Aussicht gestellt, den Pokal in diesem Falle Fidel Castro zu widmen: Und das ausgerechnet im Gastgeberland USA. Natürlich wurden damals bei ihm Substanzen nachgewiesen, er hatte Schmerzmittel verabreicht bekommen. Ein ähnlicher Vorfall während der Weltmeisterschaft 1986, als ein spanischer Spieler positiv getestet wurde, ahndete man allerdings noch viel rücksichtsvoller – so berichtet es jedenfalls Jimmy Burns in seiner Maradona-Biographie von 1998. Die FIFA mochte Maradona ohnehin nicht sonderlich, weil er sich wiederholt mit deren fadenscheinigen Präsidenten Havelange angelegt hatte.

Eigentlich soll es an dieser Stelle gar nicht um längst vergangene Geschichten gehen. Aber es passt ins Bild, dass die FAZ sich auf Maradona stürzt, während die Nationalmannschaft Deutschlands bei diesem aktuellen Turnier keine Rolle spielte. Zumindest nicht sportlich. Politisch machte sie natürlich von sich Reden. Nach dem Ausscheiden der DFB-Elf wurde man in den Kommentarspalten nicht müde, diese Politisierung als Grund des Scheiterns zu benennen. Ganz falsch ist das nicht. Aber letztlich hat der Misserfolg auch andere Gründe – es fehlt dieser blutleeren Elf nämlich einer wie Maradona. Ein unorthodoxer, vorlauter Bengel, der sich nicht anpasst, taktische Vorgaben auch mal links liegen lässt. Man gesteht sich das in diesen aalglatten Zeiten nur nicht so gerne ein.

Ein kurzer Rückblick: Der deutsche Fußball steckte Ende der Neunziger-, Anfang der Nullerjahre in einer tiefen Krise. Noch immer spielte man mit Libero, Raumdeckung war der deutsche Weg innerhalb eines Weltfußballs, der längst Räume verstellte und nicht Gegenspielern notorisch auf die Fersen stieg. Trainer, die anders spielen ließen, hatten noch keine Deutungshoheit, auf Ralf Rangnick schielte man wie auf ein exotisches Tier – und Wolfgang Frank trainierte nur Zweitligisten. 1990 tönte der scheidende Teamchef Beckenbauer noch, dass Deutschland mit den Spielern aus dem Osten, über Jahre unschlagbar sei. Das war ein fataler Irrtum. Man wurde selbstzufrieden beim DFB.

Dass etwas geschehen musste, speziell im Bereich des Nachwuchses, lag also auf der Hand. Darüber waren sich alle Experten und Insider einig. Das Zauberwort hieß Nachwuchsleistungszentrum (NLZ). Endlich sollten junge Talente professionell begleitet werden, nicht auf der Straße spielen müssen, sondern unter besten Bedingungen, während sie nebenher schulisch und dann später beruflich betreut werden.

NLZ: Stress, Druck und Nachwuchs von der Stange

»Der große Traum«, so nannte Ronald Reng sein letztes Buch: Darin geht es um den Traum jedes jugendlichen Fußballers, nämlich Profi zu werden. Besser gesagt um den Weg, den man in Deutschland beschreiten muss, um ihn sich – Talent vorausgesetzt – zu verwirklichen. Hierzu begleitete der Autor einige Jahre drei jugendliche Talente, die den Sprung in ein NLZ schafften. Zwei landeten am Ende in unterklassigen Vereinen, einer ungewollt, der andere mit Vorsatz, er hatte genug vom angehenden Profigeschäft – der Dritte im Bunde wurde tatsächlich Profi: Marius Wolf, derzeit bei Borussia Dortmund unter Vertrag.

Reng beschreibt fast minutiös die Entwicklung der jungen Kicker, was die NLZ mit ihnen anstellten: Der Anspruch ist an sich die Zweigleisigkeit, die Spieler werden erst schulisch betreut, dann sollen sie einen Beruf erlernen und sich nebenher, aber eigentlich hauptsächlich fußballerisch entwickeln – nebenher und doch hauptsächlich: Das kann nicht funktionieren.

Das Scheitern des Konzeptes liegt auf der Hand: Die NLZ verlangen ihrem Nachwuchs alles ab, die Jungen reiben sich auf zwischen Anspruch und Wirklichkeit, manche setzen alles auf eine Karte, kündigen ihr Ausbildungsverhältnis – dann soll es mit dem Traum Profi zu werden klappen: Wenn das nicht gelingt, nehmen sie schlecht bezahlte Engagements in der Unterklasse an, später werden sie als Ungelernte zunächst das Nachsehen haben.

Gleichzeitig haben sich die großen Vereine mit den NLZ eine Art Ersatzteillager für ihre Ersten Mannschaften installiert. Schon früh werden die Kicker in ein taktisches Korsett gezwängt, spielen in der Formation, die später auch in der Ersten Elf angewandt wird. Der Leistungsdruck ist immens, der Jugend-Spielbetrieb dient nicht etwa nur dem Erlernen und Sammeln von Erfahrung, nein, Titel müssen her – es geht dort fast zu wie im Profizirkus: Trainer werden gefeuert, Spieler aussortiert. Eine schwindend geringe Zahl an Talenten verwirklicht den großen Traum. Die Mehrzahl scheitert oder – fast schlimmer noch – erlebt den Kampf um die Karriere als Alptraum, der psychische Folgen zeitigt.

Zurück zu Maradona

Die NLZ gelten nach wie vor als der ganz große Wurf nach der Krise des deutschen Fußballs vor etwa zwei Jahrzehnten. Raphael Honigstein sprach nach dem deutschen WM-Titel von 2014 sogar davon, dass sich der deutsche Fußball neu erfand – und meinte damit ganz besonders die NLZ. Sein Buch »Der vierte Stern« darf als Loblied auf diese Einrichtung gelesen werden. Nachdem man damals in Brasilien als Weltmeister zurück nach Deutschland kam, konnte man das durchaus glauben, schließlich war man zurück an der Weltspitze – die DFB-Mannschaft von 2014 war fast ausschließlich mit Spielern bestückt, die in einem NLZ ausgebildet wurden.

Einer wie Maradona, um nochmal auf ihn zurückzukommen, hätte in einem deutschen Nachwuchsleistungszentrum keine Chance mehr. Ganz gleich, wie brillant am Ball er auch wäre, völlig einerlei, ob er – wie 1986 bei seinem Jahrhunderttor in Mexiko gegen England – quer über den halben Platz gegnerische Mannschaften zum Tanz bitten würde – seine Unpünktlichkeit, sein fehlender Trainingseifer – zu gewissen Zeiten, nicht immer –, seine Familiennähe, sei freches Mundwerk und der laxe Umgang mit Medienvertretern und Offiziellen, all das fiele ihm dort auf die Füße.

Und Diego Armando Maradona spielte in so einem Szenario am Ende vermutlich lediglich bei Eintracht Trier oder beim Münchner Vorort-Verein SV Lohhof, wie so viele, die es in den NLZ nicht geschafft haben.

Es mag bei dieser Weltmeisterschaft in Katar aus deutscher Sicht vieles falsch gelaufen sein: Insbesondere die Aktion mit der Armbinde, danach die Zurschaustellung des mannschaftlichen Trotzes, als die Elf sich den Mund zuhielt, übrigens auf Initiative von Neuer und Goretzka, die restliche Mannschaft wollte das gar nicht. Aber das alleine reicht nicht aus, die Misere zu erklären. Schließlich schied die DFB-Elf zum zweiten Mal hintereinander in einer WM-Vorrunde aus. Vielleicht fehlt dem deutschen Fußball eben mehr von der Schlampigkeit eines Genies, womöglich ist da zu viel Aalglätte, zu viel Kalkül-Kick und ein Übermaß an Kreativbändigung am Werk.

… und Mama: Ich bin verliebt!

Dass die Frankfurter Allgemeine Maradona als etwaiges Negativbeispiel des Fußballsports aufführte, zeigt im Grunde nur an, dass in Deutschland das NLZ-System auch weiterhin als notwendig betrachtet, nicht aber als überprüfenswert angesehen wird. Schließlich muss alles geordnet und systematisiert ablaufen. Dass nichts dem Zufall überlassen werden darf, dafür stehen diese Kaderschmieden: Der zeitgenössische Fußball erlebt einen Generalangriff auf den Zufall. Der spielt in diesem Sport ja mit wie in fast keinem sonst. Der Zufall machte den Fußball beliebt, denn er machte, dass es immer mal wieder Überraschungssieger gab. Die taktische »Überschulung« heutiger Prägung ist nichts anderes als der Versuch, den Zufall einzuhegen.

Der Videobeweis ist hingegen die Vollendung dieses Gedankens. Noch sechzig, siebzig Jahre später über ein Tor zu sprechen, das vermutlich gar keines war: Die künftigen Generationen werden solche Fußballgeschichten nicht mehr erzählen können. Klar, es ist ein Zugewinn an Gerechtigkeit, wenn ein nicht erzieltes Tor nicht als solches behandelt wird. Aber welcher Verlust das für die Faszination des Sports ist, lässt sich kaum in drei Sätzen erklären.

Man erlaube mir am Ende dieses Textes einige persönliche Worte: Es mag sein, dass ich befangen bin. Ich bin Fußballromantiker, andere gucken Fußball. Das tue ich selten. Ich lese ihn. Es gibt gute Literatur zu diesem Themenkomplex, David Winners »Oranje« ist beispielsweise eine Offenbarung. Mir ist klar, dass man heute besser spielt denn je, die Spieler nehmen 40-Meter-Pässe aus der Luft an, wie einst nur Maradona und einige andere »Auserwählte«. Dennoch fehlt mir der alte Kick. Er war nicht perfekt, die Stadion waren heruntergekommen. Heute suggerieren sie einem nur Hochglanz. Aber da war noch was, ein Gefühl. Damals waren Kicker schon keine Rebellen, aber kantige Typen gab es durchaus. Wo sind sie heute? Wo ist Maradona?

»Ich habe Maradona gesehen und Mama: Ich bin verliebt!«, sangen in den Achtzigern die neapolitanischen Fans. Welcher Spieler erzeugt heute noch solche Liebesbekundungen? Darüber gäbe es noch viel zu schreiben. Heute allerdings soll es reichen …

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10 Kommentare

  1. Ein „unorthodoxer, vorlaufer Bengel“ wie Maradona wäre weder bei Löw noch bei Flick je ins Mannschaftsaufgebot gekommen. Deutschlands Fußball krankt an aalglatten Typen wie Neuer und Co. Von da ist es kein weiter Weg zum Rückwärts- und Sicherheitsfußball, der nach vorne ohne Ideen und eigentlich eine Beleidigung für zahlende Zuschauer ist. Dabei hat Deutschland heute technisch erstklassige Fußballer, wie es sie selten hatte. Ihnen allen ist aber eigen, dass sie sich, sobald sie für Bayern München oder die Nationalmannschaft spielten, nicht mehr weiterentwickelten. Sie entwickelten sich zurück, vergaßen ihre große jugendliche Kreativität und wurden zu Fußballbeamten, denen in einem starren System nur noch wenig einfiel. Hoffentlich haben sie Alle das Endspiel zwischen Argentinien und Frankreich gesehen!
    Nein, dem einzelnen Nationalspieler ist kaum ein Vorwurf zu machen. Das System taugt nichts, angefangen vom neuen Trainer, der nicht bemerkte, dass er „seine Jungs“ in die gleiche falsche Richtung führte wie sein Vorgänger. Dabei hatten sie ihm in den ersten Spielen nach seinem Amtsantritt gezeigt, was sie können. Auch die Causa Bierhoff zeigt, wie kapputt das System ist. Da geht einer freiwillig (dem kaum ein Vorwurf für das Versagen zu machen ist), und schon nehmen das alle übrigen zum Anlass, sich an ihren Jobs festzukleben. Es wäre ja nun alles in Ordnung. Das System deutscher Fußball hat große Ähnlichkeit mit allem, woran es in diesem Lande krankt – bis hin zur Meinungspolizei. Eine Änderung zum Besseren ist nicht in Sicht.

  2. Ich hätte mir gewünscht, dass wenigstens so Politikkanäle, die normal kein Sport bringen, ihrer Linie treu bleiben. Ich will von dem Informationsmüll nichts wissen. Bei der letzten WM klappte das noch. Jetzt meinen manche Autoren Fußball sei ein wichtiges Thema. Nein, ist es nicht.

    Ich habe jetzt schon auf 4 Kanälen, wo ich nicht drauf geklickt habe, um über die WM was zu erfahren, gleich ganz oben präsentiert bekommen, dass Argentinien WM wäre. Dazu noch dieser bescheuerte Personenkult um die „Superstars“, die eigentlich im Knast sitzen würden, wenn sie nicht gerade gut in Fußball wären. Fußball ist eine Verblödungsmaschinerie für den Pöbel.

    1. Einem Fußballromantiker sei das verziehen. Ich gebe zu, bin selber einer 😉

      Und mal ehrlich, die Verblödungsmaschinerie läuft doch allerorten.
      Kommt nur drauf an ob man sich verblöden lässt.

      Btw.: Der Coach Argentiniens, Cesar Luis Menotti, verweigerte nach dem Sieg im Finale 78, dem damaligen Diktator Argentiniens Videla den Handschlag . Während Berti Vogts nichts von politischen Gefangenen wissen wollte.
      Es gab schon immer Leute mit und ohne Eier.

  3. „Nichts dem Zufall zu überlassen“ ist das generelle Problem aller Sportarten, mit denen im großen Stil Geld verdient wird. Denn das Geld kommt über Sponsoren, die das Produkt „Erfolg“ kaufen – und der Verkäufer muss halt liefern, sonst sinkt seine Ware im Preis.

    Dazu gehört aber nicht nur der sportliche Erfolg, sondern das marketingkonforme Auftreten der werbenden Protagonisten Heldendarsteller. Früher Sportler genannt.

    Das Gesamtresultat heisst „Professionalisierung“ und ist im Endeffekt der Tod des Sportgedankens. Aber hier geht es ja auch nicht wirklich um Sport, sondern um das Vermarkten einer Idee durch professionelle Darsteller. Das es nach wie vor beim Zuschauer als „Sport“ aufgenommen wird, ist illusorisch – aber essentieller Teil des Marketingkonzepts.

  4. Hallo Roberto, mir geht es ganz genauso mit Schuster.
    Mich interessiert Fußball im Grund nicht, aber es gibt in den verschiedenen Sportarten immer wieder mal Akteuren innen die einen in den Bannziehen weil sie die Idee spielen.

    1. Lieber Peter, meinen Sie mit Schuster etwa Bernd Schuster?
      Falls ja: Für mich war das der vielleicht beste Fußballer, den Deutschland je hatte. In seiner Zeit in Barcelona ist er ja auf Maradona getroffen, die beiden verstanden sich gut. Beide wollten zum Abschiedsspiel von Breitner reisen. Der Klub hatte ihre Ausweise eingezogen und so dei Ausreise verhindern wollen. Maradona ging mit Schuster in die Pokalkammer des Vereins und warf allerlei Pokale durch die Gegend.

      1. Ja, ich meine Bernd Schuster.
        Die ganzen anderen Fußballer, die genannt worden sind, sind sicher auch hervorragende Fußballer. Aber Schuster oder Maradona sind da noch eine andere Klasse. Ich sehe jetzt noch wie Schuster aus dem Fußgelenk ganz genau 30 Meter gepasst hat. Oder wie Maradona sich durch die ganzen Beine durchgehäkelt hat.

  5. Ich hätte noch Miro Klose anzubieten. Kein Zuchtstar. Viel Willen und Eigenart. Ist natürlich ein ganz anderer Typ, aber auch besonders, auf seine Weise. Und er fehlt mir.

  6. Ja Schuster, klar oder früher Stan Libuda- die bewegten sich anders als der Rest, oder gestern Messi mit dem tiefen Schwerpunkt und die langen Franzosen hatten einen Knoten in den Beinen. Viele kicken, wenige zaubern: George Best, Cruyff…

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