
Vom Studium der Vokabeln. Fortsetzung zu einem wenig beachteten Thema.
In der Quarta begann ich, ungefragt und ohne darum gebeten zu haben, im Godesberger Gymnasium mit Latein. Der Lateinlehrer erwies sich bald als Ohrfeigen austeilender Prügelpauker, die Sechs war mir also sicher. Ich sprach zu diesem Zeitpunkt ausgezeichnet Deutsch, ein recht passables Amerikanisch und hatte bis eben noch super Farsi gesprochen. Also Persisch – in Persien erlernt.
Irgendwann kam dann auch noch Französisch hinzu, was mir immerhin Vergnügen bereitete, weil die Lehrerin winzig klein war und es mir Spaß machte, sie zu imitieren. Bis zur Obersekunda ging das Latein freudlos weiter, dann hatte ich das Große Latinum – ohne je irgendeinen lateinischen Klassiker gelesen zu haben. Außer Asterix, aber der kam erst später.
DFA statt AFD
In all diesen Jahren hatte mich aber auch kein einziges Mal ein Lehrer gefragt, wie gut oder wie schlecht ich denn Persisch sprechen könne. Aber insgeheim wusste man natürlich irgendwas, denn ab und zu gab es abschätzige Hinweise, dass wir hier nicht in Teheran seien, oder dass ich wahrscheinlich deshalb so „falsch“ sänge, weil ich das auf einem persischen Basar so gelernt hätte und mir das schleunigst abgewöhnen müsse. Dass mir das Latein beim Englischlernen, Französischlernen, Italienischlernen oder Spanischlernen etwas nützen könnte, wurde übrigens auch nie erwähnt. Jahrelang bin ich also mit einem Latein-Lehrbuch in Deutschland auf irgendwelchen Feldwegen entlanggewandert und habe lateinische Vokabeln gebüffelt. Zehnmal die gleiche Seite durchgehen, bis mir dieses oder jenes Wort endlich im Gedächtnis haften blieb.
Ungefähr 50 Jahre später kam ich allmählich darauf, dass ich besser daran getan hätte, ein besonders dickes Wörterbuch durchzublättern. Eines, wo die lateinischen Vokabeln mit ihren jeweiligen englischen oder sonstigen Derivaten aufgelistet wären, damit ich gleichzeitig Spanisch, Französisch, Italienisch et aliter lernen könnte.
Wenn mir jemand damals geflüstert hätte, dass ich meine Wanderungen durch Berg und Tal auch mit einem Persisch-Lehrbuch hätte vornehmen können, dann würde ich die Sprache vermutlich bis heute noch richtig sprechen und sogar lesen oder schreiben können. Aber nein. Es gab an meiner Godesberger Schule zwar eine Klasse mit DFA – Deutsch für Ausländer – aber kein AFD – Ausländisch für Deutsche. Nun gab es in Bonn-Godesberg damals viele Kids, die aus irgendeinem Grund in Südafrika, Indonesien, Ägypten, USA, Norwegen oder eben Persien zur Schule gegangen waren. Dieses ganze Potenzial war aber quasi dem deutschen Staat schnuppe. Im Gegenteil, man legte Wert darauf, den Auslandsanteil – Sprache, Lieder, Feiertage etc. – zu ignorieren, und stattdessen auf alles Deutsche besonderen Nachdruck zu legen.
Lernen im gehobenen Alter
Ich habe trotzdem im Laufe der Zeit etliche deutsche Dialekte in mein Gehirn eingebaut – und auch mühelos gelernt: Comics auf Französisch, Spanisch, Italienisch und sogar Brasilianisch zu lesen. Nur eben das Persische blieb dabei irgendwo im Geäst hängen.
Mit 77, also im gehobenen Alter, habe ich nun meine versammelten Persisch-Lehrbücher wieder hervorgekramt um ernsthaft Vokabeln zu büffeln, so wie einst beim Latein. Die erste Feststellung war, dass ich in so einem Buch von 400 Seiten, auf jeder Seite ein, zwei, drei Vokabeln, bereits kannte, ohne mich sonderlich anzustrengen. Ich musste sie nicht erlernen, sie lagen in der Erinnerung griffbereit auf dem Tisch. Oder auf meiner Zunge. Trotzdem kam ich mir vor, als ob ich noch immer „Latein“ lernen würde, denn ich paukte die Vokabelseiten so wie einst, markierte oder umkringelte die schweren Brocken, die sich nicht meinem Gedächtnis einprägen wollten. Aber ich schien sie nur für knapp drei Sekunden im Gedächtnis zu behalten. War das also vielleicht doch das Alter? Denn hatte ich nicht als Kind immer den ganzen Sums in Nullkommanix gelernt? Einmal Micky Maus gelesen und schon kannte ich den Inhalt des ganzen Heftes auswendig. Ich konnte alles aus dem Gedächtnis auswendig aufsagen. Was Micky sagte, was Goofy sagte. Aber wie war das damals, als mein deutscher Freund K. nach drei Jahren im Iran noch immer keinen einzigen Satz auf Persisch sagen konnte? Ich hatte dagegen stante pede unzählige persische Wörter im Gedächtnis eingelagert.
Jetzt, als alter Mann, kam mir die Erkenntnis erst langsam: ich muss nicht einzelne Wörter, sondern Wörterketten lernen, drei Vokabeln, die zusammenhängen. Oder ich müsste mir kleine Gedächtnis-Stützen basteln, egal wie blöde. Und nicht nur zusammenhängende Vokabelketten, sondern auch ganze Sätze müsste ich auswendig lernen.
Finnisch im Crash-Kurs
Nun hat das schöne DDR-Lehrbuch, das ich in einem westdeutschen Reprint besitze, die Absicht gehabt, den Studenten in Ostdeutschland nicht nur die persischen Wörter, sondern auch das Schreiben derselben beizubringen. Literativität, ein hohes Bildungsziel. Im westdeutschen Nachdruck des Buches sind die orientalischen Kringel dagegen kaum noch zu entziffern, weil so winzig, vor allem für einen älteren Herrn, dem die „Floaters“ – sogenannte „Mouches volantes“ – im Auge umherschwirren. Dazu haben sich die Autoren wundervolle grammatikalische Bezeichnungen einfallen lassen, die der einfache Lernende nicht unbedingt braucht, und anderswo auch nicht ohne Mühe wiederfindet. So helfe ich mir nebenher mit Leila Moschiris englischem Schnell-Lernbuch – und erziele bereits nach zwei Kapiteln spürbare Fortschritte.
Aber es gibt auch noch andere glückliche Zufälle. Irgendein Freund hat mir offenbar im Jahr 2011 einmal auf einer CD den Audio-Teil eines Finnisch-Kurses abgespeichert – und dito einen Persischen. Das Finnische rattert rasant und unverständlich daher, aber das Persische bleibt klar und deutlich bis in jeden Winkel eines jeden Wortes, sowohl in der weiblichen Stimme wie in der männlichen. 80 Prozent davon verstehe ich mühelos. Und 100 Prozent davon kann ich schon bei der ersten Wiederholung problemlos mitsprechen. Es ist ein schönes und zugleich kurioses Gefühl, so, als ob ich Deutsch locker daherparlieren könnte – ohne wirklich Deutsch sprechen zu können.





Sprachen lernen im Alter?
Den meisten wünsche ich, das sie SPRECHEN lernen!
Das wäre mal ein Fortschritt!
Ja für das Alter, die Bucketlist mit den Sprachen Afrikaans, Transnistrisch und Suomi.
Baie dankie большое спасибо Paljon kiitoksia
Век живи — век учись.
Lebe ein Leben lang, lerne ein Leben lang.
Edith, dieser Film tut es auch: https://www.imdb.com/de/title/tt9738784/?ref_=nv_sr_srsg_0_tt_1_nm_0_in_0_q_Persischstunden 😉
Comics auf Brasilianisch – Der ultimative Literaturgenuss. 😉
Auch Friedrich Engels hat mit über 60 Jahren noch persisch zu lesen gelernt (nicht zu sprechen), weil er Klassiker in der Originalsprache lesen wollte. Er konnte dann 15-16 Sprachen, einige nur lesend. Karl Marx kam immerhin auf 5-6 Fremdsprachen, mit über 50 Jahren lernte er noch russisch.
Es ist eine Schande daß man in dt. Schulen meist nur Französisch als zweite Fremdsprache angeboten bekommt. Da müßte viel mehr möglich sein. Im Gegenzug könnte man überflüssige Schulfächer streichen, denn Fremdsprachen waren für mich das Wichtigste im Leben. Alles andere was man in der Schule lernte war meist unnütz.
Genau, die vier Grundrechenarten, Prozentrechnung, Dreisatz, Grundlagen von Physik und Chemie, Deutsch, Sport, Heimatkunde, Geographie, alles unnütz. Deswegen schneiden Schüler in der dritte Welt Stadt Bremen auch immer so gut ab beim Pisatest…