Die Romantik und ihre Zukunft

Marc Chagall - Krieg
Marc Chagall, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Artur Becker besuchte neulich eine Ausstellung – und machte sich Gedanken über Chagall und Klimaaktivisten.

Chagall in der Frankfurter Schirn

Ich besuchte neulich eine Chagall-Ausstellung. Einige seiner berühmtesten Gemälde wurden nämlich weltweit ausgeliehen und nach Frankfurt geholt, um sie in der Schirn-Kunsthalle zu präsentieren. Ich war in der Ausstellung nicht allein, Maja, eine Malerin, Autorin und Sängerin aus Leipzig, begleitete mich. Ich muss vorweg etwas Wichtiges zugeben: Ich gehe ungern allein in eine Ausstellung, in ein Museum. Ich brauche ein Gegenüber, eine Gegenstimme, um das Gesehene nicht nur für mich zu reflektieren, sondern auch sofort mit jemandem zu besprechen.

Jedenfalls erkannte ich einige Bilder Chagalls sofort wieder; als Jugendlicher hatte ich sie in meinem Zimmer an die Wand geklebt – als Postkarten oder Plakate hingen sie in meinem Reich und sorgten für eine Widerspiegelung meiner Sehnsucht nach dem geheimnisvollen Kosmos, dem Weltall und dem Transzendenten – dem Wald der Dinge; und nach der Liebe zum Mythischen, die man überall dort spürt, wo es Geheimnisse und Engel und Sterne und Götter gibt, aber dann auch das symbolisch stets Unverbrauchte: die Devotionalien des Alltags, die Haustiere, die Kirchen, die Krämerläden, die Priester, Jesus Christus am Kreuz und die Synagogen. Ziegen und Klezmer, Hühner und Blumen.

Ich erkannte also auch das Gemälde „Um sie herum“ von 1945 wieder, eine Art Autoporträt, wobei der Kopf des Malers ganz einfach „auf dem Kopf steht“ – er wurde umgedreht und sitzt mit seinem dunklen üppigen Haar auf dem Hals des Malers. Seine Frau, gekleidet in eine rote Bluse mit einem weißen Kragen, scheint sich eine Träne abzuwischen. Ein Dorf aus dem zaristischen Russland schwebt zwischen dem Liebespaar wie eine Schneekugel, wie ein Miniplanet, und eine Taube leuchtet mit der Kerze und ein junges Brautpaar gleitet geisterhaft über den Himmel, den Dorfplaneten – vor dem dunkelblauen Hintergrund. Die Torarolle darf natürlich nicht fehlen.

Ich sagte zu meinem Gast aus Leipzig, dass Chagalls Werk ein wichtiges Dilemma eines Künstlers in der Migration zeige: Die Zerrissenheit zwischen Vergangenheit, dem geliebten, jedoch verlorenen Leben, und der Gegenwart, die voller Widersprüche und Unruhe sei. Chagall führte zwar als Migrant in Paris und dann in New York, ein Weltbürger also, ein mondänes Leben, aber mit dem anderen Fuß weilte er ständig in seiner Heimat, voller Sehnsucht nach ihr.

Die migrantische Zerrissenheit kenne ich zur Genüge

Ich kenne das Gefühl auch: Schreibe ich über das Hier-und-jetzt in Westeuropa, wo ich lebe, will ich sofort fliehen und den nächsten Roman in meiner Heimat platzieren, in Ermland und Masuren in Polen. Dieses Hin-und-Her-Springen ist nicht nur ein Ausdruck der Sehnsucht – es geht hier auch um eine fundamentale Frage nach dem Zuhause, dem geistigen, dem unvergänglichen, wie man es in der Kindheit einmal, wenn sie glücklich war, besessen hatte: Die Zeit spielte keine Rolle, jeder Tag war unendlich lang und der Aufenthalt in diesem Land der Ewigkeit machte Hoffnung, dass die Zukunft noch rosiger und spannender sein würde.

Maja erklärte mir die Bedeutung der Symbolik in den Bildern von Chagall. Sie hat als Künstlerin natürlich einen geübten Blick. Chagalls Herzensgüte, Liebe zum Meschen, sei in jedem Bild sichtbar, aber auch das Böse, der Tod, die bösen Omen, die Leiden Christi und die Vorboten des Holocausts seien in dieser durch die starke Symbolik und die Archetypen geprägten Welt deutlich sichtbar; man müsse nur seine Augen und sein Unbewusstes öffnen, um den blauen Ozean Chagalls deuten zu können.

Chagall, der Romantiker

Mir ist das nie in den Sinn gekommen, aber nach dem Besuch der genialen Ausstellung in Frankfurt ist Chagall für mich ein Spätromantiker geworden, allerdings so einer, als hätte er sich bei seiner Geburt 1887 verlaufen. Er hätte in der Zeit geboren werden müssen wie William Blake, der auch gemalt hatte: kurz nach 1750. Blake war ein Mystiker und Prophet der Menschheit und des menschlichen Geistes im Kosmos. Es dürfe nur eine Religion geben, so Blake, weil es in Wahrheit nur eine einzige wahre Liebe gebe, die der kreativen und lichten Kräfte des Kosmos. Der Mensch in seiner Urschöpfung sei kein Produkt des kalten szientistischen Verstandes, sondern der Vorstellungskraft, der Imagination. Und natürlich ist Blake synkretistisch und eklektisch und mystisch – wie sich das gehört, wenn man zu dem Kreis der Dichter zählt, die das verlorene Paradies, praktisch den Urzustand des menschlichen Daseins, als etwas Wahrhaftiges und Elementarstes erleben und beschreiben. Adam Kadmos lässt hier grüßen, und auch der Urmensch Platons, der Kugelmensch aus seinem Werk „Das Gastmahl“, der die Dualität in sich perfekt vereinen konnte.

Die Überwindung der Widersprüche: Das ist etwas, was auch Chagall beschäftigte, und die Romantik, die nicht nur Gutes und Großartiges hervorgebracht hat, bedenkt man, wozu der Nationalismus fähig war und ist, darf eigentlich nicht mehr auf die Epoche des Übergangs vom 18. ins 19. Jahrhundert reduziert werden. Sie lebt heute anders und weiter, aber sie ist immer noch da. Ich möchte fast schon unterschreiben, was der polnische Dichter Czesław Miłosz immer wieder versucht hat, in seinem poetischen Werk zur Sprache zu bringen: dass die Entzauberung der Welt durch den Positivismus und die Reduzierung des Daseins auf Dinge, die nur dann eine Berechtigung hätten, wenn man sie rational würde erfassen können, zu schlimmen Verbrechen geführt haben, wie wir sie aus dem 20. Jahrhundert kennen. Die kalte Ratio ohne ein lebendiges transzendentes liebendes Herz ist tödlich.

Die jungen Klimaaktivisten

Chagall in der Schirn betrachtend, über Blake und Miłosz nachdenkend, fragte ich mich, wie sich die heutige Generation der jungen Klimaaktivisten im Alter an ihre Jugend und ihren Aufstand gegen die Umweltzerstörung und -zerstörer erinnern wird. Werden sie auch lichte Momente haben, Symboliken, die archetypisch sind? Werden sie mit Sehnsucht an diese Zeit und Welt denken, die sie heute als eine apokalyptische erleben? Glauben sie an einen Garten Eden, an seine Einmaligkeit, Unheimlichkeit seiner einzigartigen Schönheit, die unser perfektes Zuhause sein kann? Sind sie bereit, Grenzgänger zu werden? Schreien sie nach einer holistischen Zusammenarbeit aller Fachleute, um unsere Umwelt zu retten? Oder betreiben sie in Wahrheit Welt- und Zivilisationsflucht, weil sie wie Blake nach der Wiederherstellung der Zeiten, des verlorenen Paradieses, der Kugelmenschen schielen? Oder sind sie Egozentriker im Dienst einer geretteten Zukunft?

Der dunkle Stern, der ihnen leuchtet, wird noch lange nicht ausgehen. Und das ist gut so, da Zukunft auch im Geheimnisvollen und noch nicht Verständlichen geboren wird.

 

Hotel Lindley, Frankfurt am Main, 31.01.2022

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Ein Kommentar

  1. „Die kalte Ratio ohne ein lebendiges transzendentes liebendes Herz ist tödlich.“ -ein schöner Satz, gefällt mir sehr gut, wobei die „kalte“ Ratio noch in der Lage sein sollte, das fehlen eines lebendigen Herzens zu bemerken oder bezieht sich der Autor mit „kalter Ratio“ auf ‚Irrratio‘, für deren unzulängliche Prämisse ein kaltes Herz geradezu Voraussetzung ist?

    Herzlichst …

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