Der Zopf des Unglücks

Mann mit Zopf
Quelle: Dieses Bild wurde mittels Grok entwickelt.

Die Welt dreht sich weiter – doch der Ton wird schriller, düsterer, hoffnungsloser. Müssen wir wirklich immer nur klagen? Ein nachdenklicher Appell für mehr Respekt, Debattenkultur und den Mut, negative Gedankenschleifen zu durchbrechen.

1983 veröffentlichte Paul Watzlawick seine „Anleitung zum Unglücklichsein“. Dieses übersichtliche und humorvolle Werk des österreichisch-amerikanischen Philosophen und Kommunikationswissenschaftlers erklärt jene Grundhaltung ständiger Unzufriedenheit und der daraus resultierenden Larmoyanz, die er in seinem gesellschaftlichen Umfeld erkennt und ironisch kommentiert. Dieses Umfeld ist die in voller Blüte stehende westliche Welt, eine Elitegesellschaft, die sich in einem ständigen Überlebenskampf wähnt.

Die Sowjetunion kämpft in Afghanistan, Grenada wird US-militärisch gemaßregelt. Das Wettrüsten läuft auf Teufel komm raus, und ein unbekannter russischer Oberstleutnant, Petrow, verhindert in letzter Sekunde einen Atomkrieg. Helmut Kohl steuert Westdeutschland durch unruhige Zeiten. Die fröhliche Wiedervereinigung der deutschen Stämme stand, wenn überhaupt, in den Sternen. So war das damals, vor bald 40 Jahren.

… der hängt immer hinten

Seither hat sich die Welt gleichmäßig weitergedreht. Was sich allerdings auf ihrer Oberfläche abspielt, scheint in einem sich ständig beschleunigenden Teufelskreis den Watzlawickschen Vorgaben zu folgen; es dreht und verwickelt sich verzweifelt.

Adalbert von Chamisso beschreibt dieses Verhalten schon im frühen 19. Jahrhundert:

Tragische Geschichte
’s war einer, dem’s zu Herzen ging, / Daß ihm der Zopf so hinten hing, / Er wollt es anders haben. /
So denkt er denn: wie fang ich’s an? / Ich dreh mich um, so ist’s getan – / Der Zopf, der hängt ihm hinten. /
Da hat er flink sich umgedreht, / Und wie es stund, es annoch steht – / Der Zopf, der hängt ihm hinten. /
Da dreht er schnell sich anders ‚rum, / ’s wird aber noch nicht besser drum – / Der Zopf, der hängt ihm hinten. /
Er dreht sich links, er dreht sich rechts, / Es tut nichts Guts, es tut nichts Schlechts – / Der Zopf, der hängt ihm hinten. /
Er dreht sich wie ein Kreisel fort, / Es hilft zu nichts, in einem Wort – / Der Zopf, der hängt ihm hinten. /
Und seht, er dreht sich immer noch, / Und denkt: es hilft am Ende doch – / Der Zopf, der hängt ihm hinten.

Da braucht es keine handwerklich geschickte, intellektuell fundierte oder philosophisch gelehrte Maßnahme; der Zopf bleibt, wo er ist. So komme ich zum Drehzirkus der Meinungen, der unter anderem auch im hochgeschätzten „Overton“ digital ins Haus kommt. Ich bin seit Beginn ein treuer Leser der Plattform und hatte ab und zu das Privileg, inhaltlich etwas beizutragen. Mal mit mehr, heute mit allmählich erlahmendem Interesse verfolge ich auch die Kommentare, die zu den Beiträgen geschrieben werden.

Sowohl in den Beiträgen als auch in den Kommentaren wird ein pessimistisches Klagen ständig lauter und eindringlicher. Eine Jeremiade, die sich aus sich selbst nährt, die kaum eine Sparte des politischen oder gesellschaftlichen Lebens auslässt und den ständigen Niedergang beschwört. Oft sind es gut recherchierte und formulierte Untergangsszenarien von anerkannten Frauen und Männern, die wissen, wovon sie reden. Selten finden sich positive Lösungsansätze. Geradezu gefeiert werden die Abgründe, die sich auftun. Brückenbauer sind nicht in Sicht. Das Höllenfeuer droht, sei es durch Klima oder Wirtschaft, Krieg oder Wissenschaft, Rentenpolitik, Genderfragen oder Ernährung. Auf alles wird zunächst mit Hiobs Botschaft und zeigendem Finger verwiesen; Menetekel um Menetekel erscheint, die Zukunft ist pechschwarz. Gerne fällt die Leserschaft mit ergänzenden Texten in diesen Chor ein: Von „Das wissen wir doch alles bereits“ über knackige Kurzbemerkungen, interne Beleidigungen, Wutschreie bis hin zu ausufernden Buchstabenwüsten aus unüberprüfbaren, irgendwo aufgeschnappten oder selbst gezimmerten Thesen. Nicht selten schert sich der oder die Ergänzende kaum um den Inhalt eines Artikels, sondern grätscht mit eigenen Themen dazwischen. Overton möchte die Debattenkultur fördern? Leider ist das Internet übervoll mit solchen „Debatten“, die keine sind, sondern nur bestätigen, dass der eigene Bauchnabel – auch mit vielen Worten dekoriert – nicht von öffentlichem Interesse ist.

Ihn abschneiden?

Ja, ich bin es leid, diese Ergüsse zu lesen. Ich wünschte mir ein eigenes Bewusstsein der Lesergemeinde. Aufbauende Kritik statt wucherndem Dünkel, positive Ansätze oder Beispiele, die Lösungen entwerfen, offener Austausch von Meinungen statt kleinliche Seitenhiebe auf Autoren oder Mitkommentatoren. Nachfragen statt belehren. Man sollte sich zur Sache äußern. Debattenkultur eben.

Gefragt sind Toleranz und Respekt. Als Kommentarschreiber muss man nicht jedes Wort und jedes Komma überprüfen. Doch ob jemand die Verantwortung für seine Sätze übernimmt, lässt sich unschwer an Stil und Duktus ablesen. Wer schreibt, der bleibt. Auch wenn im Zeitalter der digitalen Wortfluten dieser alte Spruch etwas verblasst ist. Eigene Meinung und konstruktive Vorschläge sind interessant, Hinweise auf andere Inhalte weiten den Horizont. Per se ist Kommentare-Schreiben interaktiv. Das soll es bleiben. Nicht umsonst ist Journalismus ein Beruf, bei dem oft und gerne von Sorgfaltspflicht gesprochen wird. Das muss für Leserbriefschreiber nicht gleichermaßen gelten. Doch nicht von ungefähr werden die Lesermeinungen in den meisten Medien durch die Redaktionen gefiltert. Es ist mir klar: Eine kleine Redaktion wie die von Overton ist rein personell nicht in der Lage, auch noch die Debatten zu moderieren. Es liegt also an uns, den Lesern, hier behutsamer zu denken, bevor wir hastig etwas in die Tasten hauen.

Die selbsterfüllende Prophezeiung als Folge negativer Zukunftsbilder hat Hochkonjunktur. Da füllen sich Hirn und Herz mit angstmachenden Fakten. Wenn es dann passiert, bleibt einem nur noch das verbitterte „Habe ich es nicht gesagt!“, mit dem man im Mainstream steckengeblieben ist. Es ist mehr wert, positive Entwürfe in die Welt zu schicken. Das wäre mein Wunsch zum neuen Jahr.

Der Zopf hängt hinten. Eine Lösung wäre, ihn abzuschneiden. Dann hat die arme Seele Ruhe.

Guten Rutsch.

David Höner

David Höner arbeitete nach seiner Kochausbildung fünfzehn Jahre als Koch, bevor er 1990 journalistisch tätig wurde. Langjährige Auslandsaufenthalte führten ihn nach Quito, Ecuador, wo er als Mitarbeiter in Kulturprojekten (Theater, Radio), in Entwicklungsprojekten und als Gastrounternehmer aktiv wurde. 2005 gründete er die Hilfsorganisation Cuisine sans frontières CSF.
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4 Kommentare

  1. Wenn man sieht wie dem westlichen Imperialismus langsam die Luft ausgeht, dann ist das in der Tat kein Grund zum Klagen, sondern doch eigentlich eine „Frohe Botschaft“. Es sind die Gläubigen der westlichen Narrative, die klagen, dass ihre Ideale in die Brüche gehen.

  2. Hmmm. In einem hat der Autor recht: „Jeremiaden“ über die bestehenden Zustände werden deutlich häufiger kommentiert als konstruktive Verbesserungsvorschläge. Das habe ich bei meinen eigenen Beiträgen deutlich gemerkt. Jedoch: Beides ist notwendig. Wenn ein gewesener Finanzminister mit fetter Pension herumnölt, die Schwarzmalerei gehe ihm auf den Keks, dann steigt bei mir der Brechreiz hoch. Fett genährte Berufsopimisten gibt es genug in diesen Tagen . Ja, die guten, alten Zeiten waren bei weitem nicht so gut, wie sie sich in der Retrospektive ausnehmen, aber draußen ist es kalt, die Gasspeicher sind so leer wie schon lange nicht mehr: Ganz ohne Neubefüllung langt der Vorrat für 18 Tage, also bis zum 15. Januar. Das könnte knapp werden. Die Ölkrise habe ich als Kind erlebt. Meine Eltern hatten kein Auto und waren begeistert von den autofreien Sonntagen. Die nächste Energiekrise könnte unangenehmer werden. Es ist kein Fehler, darauf hinzuweisen. Das „Es hot noch emma jut jejan“ ist fehl am Platz, erst recht, wenn es nicht von einem unbekümmerten Kölner, sondern von einem kniepigen Sauerländer kommt.

  3. Mir geht es umgekehrt, mir geht die Schönrederei, die Schönfärberei auf die Nerven. Da nervt es mich weniger wenn auf Overton gemeckert wird.
    Gemeckert wurde auch viel in der DDR, in den Mittagspausen, vielleicht sogar in den Gängen auf Parteitagen?
    Die Obrigkeit redete die kleine Welt der DDR schön, als es nichts mehr zum schönreden gab.
    So kommt mir jetzt die BRD vor. Politiker und die Medien reden die Welt schön, schöner als sie ist. In den staatstragenden Medien sucht man krampfhaft nach positiven Nachrichten, um die Stimmung im Land zu verbessern.
    So war es auch in der DDR. Kurz darauf ging sie unter.
    Leider wird aber die BRD nicht so schnell untergehen. Zu stark ist ihre Polizei (siehe Polizeigewalt Berlin) und noch zu wirksam ist die Propaganda. Da freut es mich umso mehr wenn gemeckert, denn damit fängt es an

  4. Konstruktiv moppert der Autor über moppernde Leser.

    Ein Moppermops schlich in die Küche…

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