Der Gentleman und die Ichfizierung

Gentleman hält einer Frau die Tür auf
Quelle: Dieses Bild wurde mittels Grok entwickelt.

Ist der feine Herr und Kavalier, kurz der Gentleman: Ein Auslaufmodell?

Ein Buchauszug.

Es sind nicht die Schlagzeilen, in denen er verschwindet. Keine Eilmeldung informiert uns darüber, dass er nicht mehr ist. Kein Talkshow-Tisch debattiert seinen Abgang. Und doch: Der Gentleman ist fort. Nicht plötzlich, nicht dramatisch, sondern lautlos. Wie eine Zigarette, die bis zum Filter herunterbrennt, während sich niemand mehr fragt, wer sie angezündet hat. Was bleibt, ist ein aschener Geschmack von etwas, das einmal Stil, Rückgrat und Anstand bedeutete.

Der Gentleman war keine Berufsbeschreibung. Auch kein gesellschaftliches Statussymbol. Er war ein kulturelles Versprechen. Und dieses Versprechen lautete: Ich sehe dich. Ich sehe dich als Frau, als Gegenüber, als Mensch. Ich nehme mich zurück, um dich zu achten. Nicht, weil du schwach bist. Sondern weil ich stark genug bin, mich selbst nicht zum Zentrum der Welt zu machen.

Der Gentleman war nie ein Chauvinist

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Heute ist dieses Versprechen zerbröselt. Wer heute die Tür aufhält, wird nicht selten belächelt. Wer sich erhebt, wenn eine Dame den Raum betritt, wird belächelt. Wer Komplimente verteilt, tut gut daran, vorher juristische Beratung einzuholen. Der Respekt vor dem Anderen ist einer kollektiven Vorsicht gewichen. Es herrscht das Gesetz der Kränkbarkeit. In dieser Welt wird der Gentleman zum Risikofaktor. Nicht weil er falsch handelt, sondern weil sein richtiges Handeln falsch gedeutet werden kann.

Fangen wir mit einem der Symptome an: Instagram. Treffender wäre vielleicht Ichtagram, wie ich es zu nennen pflege. Dort wird nicht beobachtet, sondern dargestellt. Nicht nachgedacht, sondern gepostet. Nicht gefragt, sondern gefiltert. Wer sich selbst im Spiegel der eigenen Kamera inszeniert, hat wenig Raum für den Anderen. Der Gentle­man aber war das Gegenteil davon. Er war keine Projektionsfläche, sondern ein Spiegel. Er machte anderen Platz, nicht sich selbst. Und genau das macht ihn in dieser Zeit so unbrauchbar wie ehrenwert.

Das Digitale ist dabei nur Ausdruck eines tieferliegenden Kulturwandels. Die alte Ordnung der Begegnung, des Blickkontakts, des Austauschs ist ersetzt worden durch eine neue der Selbstbespiegelung. Die Maxime lautet: Sichtbarkeit über Substanz. Der Gentleman jedoch war Substanz – sichtbar oder nicht.

Ein weiterer Brandherd ist die Verwechslung von Gleichwertigkeit mit Gleichartigkeit. Gleichberechtigung – zweifellos ein Fortschritt. Gleichmacherei hingegen – ein Irrtum. Wer Unterschiede nicht mehr zu benennen wagt, macht sich blind für die Besonderheit des Gegenübers. Zwischen Mann und Frau herrschen biologisch wie emotional Unterschiede. Diese zu leugnen heißt, das Menschliche zu entwerten.

Wenn ein Mann einer Frau die Autotür öffnet, sagt er nicht: »Du kannst das nicht.« Er sagt vielmehr: »Ich schätze dich.« Wenn er sich ihr gegenüber zurücknimmt, sagt er nicht: »Du brauchst mich.« Sondern: »Ich respektiere dich.« Der Gentleman war nie ein Chauvinist. Er war ein Zuhörer. Er war kein Lautsprecher. Und er wusste: Macht zeigt sich nicht im Lautsein, sondern im Stillsein-Können.

Mal wieder die Tür aufhalten

Und was ist mit der Lady? Auch sie hat sich zurückgezogen. Einst stand sie für Eleganz, für Haltung, für Anmut, ohne Arroganz. Sie war der Spiegel des Gentleman, nicht sein Schatten. Doch in einer Zeit, die Weiblichkeit oft nur noch in Reiz und Reaktion denkt, ist auch sie marginalisiert worden. Wer heute als Frau Haltung zeigt, wird oft als konservativ belächelt. Wer eine gewisse Form wahrt, wird verdächtigt, sich dem Patriarchat anzubiedern.

Dabei war die Lady nie ein Abziehbild, sondern eine Möglichkeit. Eine Einladung zur stilvollen Gegenseitigkeit. Eine Frau, die sich schätzen ließ, weil sie sich selbst schätzte. Wer das heute sagt, gilt als reaktionär. Doch vielleicht ist Reaktion genau das, was wir brauchen: eine Reaktion auf die Entwürdigung des Gegenübers im Namen einer falsch verstandenen Freiheit.

Haltung zu zeigen ist heute verdächtig geworden. Wer sich zu geradlinig gibt, gilt als unflexibel. Wer Werte lebt, nicht nur benennt, gilt als moralinsauer. Doch vielleicht liegt genau darin die Kraft des Gentleman: in der stillen Weigerung, sich dem Zeitgeist zu unterwerfen. In der aufrechten Figur in einem Raum voller gebeugter Rücken.

Der Gentleman ist ein Anachronismus. Ja. Und genau das macht ihn nötig. Denn nicht jeder Anachronismus ist ein Überbleibsel. Manche sind Mahnung. Haltung als subversiver Akt.

Was also tun?

Vielleicht dies: den Gentleman nicht verklären, aber erinnern. Ihn nicht kopieren, aber fortführen. In der Art, wie wir sprechen. Wie wir begegnen. Wie wir unterscheiden zwischen der Wucht des Ichs und der Würde des Du. Die Welt braucht keine weitere App. Aber sie braucht Haltung. Sie braucht Menschen, die nicht nur »Respekt« fordern, sondern ihn leben. Nicht nur sich selbst feiern, sondern den Anderen sehen.

Und vielleicht – das wäre ein Anfang – einfach mal wieder die Tür aufhalten.

Markus Langemann

Markus Langemann ist Publizist, Autor und Medienunternehmer. Er gründete Sender, entwarf Formate für Leitmedien und prägte die deutsche Medienlandschaft. Heute zählt er zu den unverwechselbaren Stimmen eines unabhängigen Journalismus. Mit dem „Club der klaren Worte“ schuf er einen Ort für Debatte, Aufklärung und Widerspruch.
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5 Kommentare

  1. Zustimmung. Ich weiß zwar nicht, ob der Gentlemen wirklich verschwunden ist, aber man erkennt ihn vermutlich nicht mehr am Aussehen und er war wahrscheinlich früher auch eher die Ausnahme.

    Aber wirklich geniales Bild von Grok, zwei attraktive Menschen in historisch anmutendem Ambiente (auch wenn der Mann eine Hauttönung hat, die eher untypisch für mitteleuropäische Männer ist).

  2. Zum Thema „Tür aufhalten“ habe ich im September in Russland ganz neue Erfahrungen gemacht. Dort scheint es nämlich noch Gentleman zu geben. Ich bin inzwischen in der 2. Hälfte des 6. Lebensjahrzehnts und diese Sitte trotzdem überhaupt nicht gewohnt. Es setzte mich nachhaltig unter Stress, da ich ständig das Gefühl hatte, alle Leute aufzuhalten, weil sie darauf warten mussten, bis ich endlich durch die Tür trat. Ich fühlte mich bereits völlig abgehetzt. Nachdem ich darum gebeten hatte, mich einfach ganz „normal“ mitlaufen zu lassen, ging es mir besser.

  3. sehr schöner Artikel….und ja ich habe den Gentleman noch kennengelernt, Tür aufhalten, in den Mantel helfen, Stuhl zurechtrücken…..
    nur das Aufstehen, wenn eine Dame den Raum betritt, habe ich nicht erlebt, ist wohl die Zeit von Hercule Poirot gewesen.😉
    Schade, dass der Gentleman und die Dame,
    die Gattin und der Gatte so gar nicht mehr in die heutige Welt passen aber jede Generation hat ihre eigenen Sitten und Gebräuche, das geht auch in Ordnung, nur
    den Respekt voreinander sollte allerdings bewahrt werden.

  4. Meine Frau ist eine Russin aus der Ukraine.
    Sie liebt es wenn ich ihr die Autotüren aufhalte, den Mantel im Restaurant abnehme und nach dem Speisen ihr in den selbigen wieder hinein helfe oder darauf achte beim Stadtbummel auf der Straßenseite zu laufen.
    Am meisten liebt sie das ich es mit Respekt Ihr gegenüber mache.
    Ich schreibe Ihr Gedichte und kaufe jede Woche einen Blumenstrauß für Sie.
    Bin ich deshalb ein Gentleman?
    Weis ich nicht, habe ich aber in allen Beziehungen gemacht, da ich so erzogen worden bin das man der Frau mit diesen Gesten Respekt zollt.
    Mein Lieblingsspruch Lautet:
    Die Frau dient nicht zur Zierde des Mannes,
    Sondern ist der Schlüssel zu Spiritualität.

  5. „…Schade, dass der Gentleman und die Dame,
    die Gattin und der Gatte so gar nicht mehr in die heutige Welt passen aber jede Generation hat ihre eigenen Sitten und Gebräuche, …“
    Tatsächlich stimme ich zu. Was sollen sie auch in einer Welt, in der die Menschen es schick finden, sich wie Penner zu kleiden, das Wort „vulgär“ ohne KI nicht einmal mehr schreiben können und von „elegant“ so viel Ahnung haben wie mein Kühlschrank von Quantenphysik?

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