Über woke Zensoren und Warnhinweise: Erinnerungen an den so streitlustigen wie empfindsamen Martin Walser.
Martin Walser. Vor drei Wochen ist der Schriftsteller gestorben, der sich wahnsinnig über fast alles aufregen konnte und für fast sechs Jahrzehnte mit seinen Romanen, Hörspielen und Essays sehr viele im Land erfreute, auch heftig erschütterte und oft sehr nervte: Erst die Rechten, dann die Linken, schließlich all jene, die gerne „gendern“ und „woke“ sich geben.
Martin Walser verdanke ich die aufregendste Autofahrt meines Lebens. Wir waren in seiner Stammkneipe, so 15 Kilometer von seinem Haus am Bodensee entfernt, gutes Essen, wunderbarer Wein, viel Wein, sehr viel Wein. Vor dem Restaurant parkte sein alter, großer Mercedes, den er so liebte – und es war klar, dass er nach dem hedonistischen Erlebnis in diesem Auto nach Hause zurückfahren würde. Ich konnte ihn davon nicht abhalten. „Steig ei, Bua“, sagte er in seinem schwäbisch-alemannischen Dialekt mit seiner so kräftigen, so befehlenden Stimme mit dem lustig rollenden „R“, „schdeig ei enn den Karra! Ond sei ruhig!“ Ich musste gehorchen.
Ich schnallte mich so fest wie noch nie, schloss die Augen, und dann karriolten wir zurück zu seinem Haus – großzügig die ganze Breite der Straße ausnützend, gelegentlich auch des Gehwegs. Manchmal holperte es ganz schön. Es war Nacht. Wenig Verkehr. Das war unser Glück.
Gefühls-Zensoren greifen um sich
Meine Beziehung zu Martin Walser war schwierig. Einerseits sehr herzlich und unkompliziert, „Bua“, sagte er beim Besuch in seinem Haus, „hock de na, iss, trink!“ Andererseits hat er ein vielstündiges Gespräch, das wir nach dem Eklat um seine Frankfurter „Friedenspreisrede“ führten, nicht frei gegeben. War ich seiner verletzten Seele zu nahe gekommen? Er wurde damals als angeblicher „Antisemit“ verfemt, ausgrenzt, isoliert.
Der streitbare Walser war sehr empfindlich, leicht verletzbar. Und das Altern ärgerte ihn – mehr als fast alles andere. Jeder Tag sei eine Schlacht, die man jeden Abend verliert. „Bua“, sagte er zu mir, ich war damals schon über 50, „da kaasch du no ieberhaupt ed mitschwätza, wart’s ab“.
Aber dass ich nun an Martin Walser denke, hat auch mit einem Artikel zu tun, den ich neulich in der „Süddeutschen Zeitung“ las. Es ging um einen sogenannten „Sensitivity Reader“ (ein Wort, das Walser garantiert in den Wahnsinn getrieben hätte), also um einen Menschen, der im Auftrag von Verlagen Texte auf irgendwie eventuell irgendwen diskriminierende Inhalte überprüft. Also so eine Art Gefühls-Zensor. Und die greifen ja derzeit um sich.
Literatur ist keine Geschmacksparty
Vor Kurzem habe ich Nathan Harris‘ „Die Süße von Wasser“ gelesen, ein, wie mir der Klappentext erläutert, „herausragender, poetischer Roman“. Er spielt in den USA kurz nach dem Bürgerkrieg, im rassistischen Georgia, es geht um ein weißes Farmerehepaar, dessen Sohn angeblich im Bürgerkrieg gefallen ist, und um zwei Schwarze, die durch den Krieg befreit wurden.
Der deutsche Verlag, Eichborn, der mal frech, freizügig, ungehobelt, wagemutig, respektlos war, hat diesem Roman eine, ich nenne es mal: Sensitivity-Warnung vorangestellt: „Liebe Leser:innen, in diesem Roman werden an einigen Stellen rassistische Szenen, Bilder oder rassistische Sprache reproduziert, die sich gegen Schwarze (sic!) Menschen richten. Dies spiegelt in keiner Weise die persönliche Meinung des Autors oder die Haltung des Verlages wieder (sic!) und dient lediglich dem Zweck der historisch korrekten Darstellung.“
Barack Obama, Oprah Winfrey haben das Buch empfohlen, ihm weltweit große Aufmerksamkeit, schöne Auflagen, wunderbare Besprechungen beschert – ihren Lesetipp verstehe ich nicht: oberflächlich, fast frei von historischem Wissen und politischer Kenntnis, bieder im Stil ist dieser Erstling; phasenweise hat man, und das ärgerte mich beim Lesen sehr, das Gefühl, der Autor verlegt Dialoge und Denken der „woken“ Jetztzeit in die USA der Post-Bürgerkriegszeit. Das Aufregendste ist der Warnhinweis des Verlags auf Seite 3.
Martin Walser, da bin ich mir sicher, hätte gegen diese Warnung randaliert. Im Gespräch, das ich nach dem Skandal um seinen Roman „Tod eines Kritikers“ führte, tobt er (das war 2002!) gegen die „Correctness-Diktatur“, die die „Meinungsfreiheit“ abschaffe. Ein Roman dürfe alles, ohne jede Vorwarnung, ganz direkt. Walser: „Literatur ist keine Geschmacksparty. Ich bin doch kein Damenkränzchen!“
Danke, lieber Martin Walser.
Wir haben verlernt zuzuhören.
Wir haben alles schon verstanden, bevor es zu Ende gesprochen ist.
Dann muss es so sein. wie wir wollen. Also müssen wir daran herumändern.
Vielen scheint das kreativ, weil sie selbst nichts können, außer herumzukrakelen. Aber das können sie sehr laut.
Auch Verlage wollen Geld verdienen. Und wer hat heute Geld und Lust sich Bücher zu kaufen?
Offensichtlich nicht die richtigen Leute …
Als ich am letzten Freitag abends das Haus verließ, kamen mir zwei noch recht junge Frauen entgegen, die sich laut unterhielten, vor allem eine der beiden machte sich Luft:
“…dann schickt mir dieser Sack auch noch kurz nach 4 son Ding, 20 Seiten oder so zum durchgendern. Bin ich denn seine Gendernutte?!?”
“Gendernutte” MUSS in den Duden!
Menschen wie Walser werden uns noch so sehr fehlen. Wir gehen dunklen Zeiten entgegen, wenn die Gesellschaft sich weiter in die derzeitig sich abzeichnende Richtung entwickelt. Wer hat uns die Toleranz und Gelassenheit beim Umgang mit anderen Meinungen so ausgetrieben?
@ KY
Zustimmung.
Möchte ergänzen, dass die Sache dadurch noch schlimmer wird, dass man wohl schon mindestens 40, eher 50 Jahre alt sein muss, um den Verlust an Toleranz und Gelassenheit beim Umgang mit anderen Meinungen überhaupt zu bemerken.
Immer wieder entdecke ich bei jüngeren Zeitgenossen, dass sie schon stark an das heute Eingerissene gewöhnt sind und nichts beklagen.
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Sie fragen:
“Wer hat uns die Toleranz und Gelassenheit beim Umgang mit anderen Meinungen so ausgetrieben?”
Nun, das ist ja wohl eine rhetorische Frage! Wir wissen es.
Ein schöner Text, Herr Luik!
Die ‘Denkfabriken’ dürfen jeden Mist in die Welt schütten, aber ich muss nicht jeden Müll schlucken der mir angeboten wird. Ich bin noch in der Lage ‘SIE’ so ghosten wie es mir danach ist und das Ghosting ist hervorragend für diverse.
Es ist schlicht eine Last mit der angeblich die Gesellschaft unterdrückenden “Political Correctness”. Besonders hart scheint es überprivilgierte alte weiße Männer zu treffen. Meine Literaturempfehlung: Wer darf in die Villa Kunterbunt? Über den Umgang mit Rassismus in Kinderbüchern. Lisa Pychlau-Ezli/Özhan Ezli, Unrast. Dort heißt es: »Schon zu lange fokussiert man sich, wenn man über Rassismus spricht, auf die Personen, die diskriminiert werden, statt auf jene, die diskriminieren.«
@kid loco
OK, Baby.