Seit einigen Tagen bietet ein Streaming-Dienst eine neue Dokumentation namens »Gladbeck. Das Geiseldrama« an. Es ist nicht das erste Dokument zu jener Kriminalgeschichte von 1988: Dennoch ist es ein einmaliges Zeitzeugnis.
Am 16. August 1988 überfallen zwei schon mehrfach straffällig gewordene Männer eine Filiale der Deutsche Bank in Gladbeck, Nordrhein-Westfalen. Danach nehmen sich die bewaffneten Täter zwei Bankangestellte als Geiseln und irrlichtern mit einem Wagen durch Westdeutschland. In Bremen kapern sie dann einen voll besetzten Linienbus und setzen die Flucht nach einer langen Diskussion mit ihnen nachgeeilten Journalisten fort. Die Lebensgefährtin eines Täters stieß im Verlauf der Flucht dazu. Im Verlauf der weiteren Stunden erschießen sie einen 14-jährigen Jungen, setzen sich dann in die Niederlande ab, um von dort mit einem PKW und zwei Geiseln zurück in die Bundesrepublik zu fahren. Auf der A3 werden sie nach 54 Stunden gestoppt. Eine Geisel stirbt während des Zugriffs der Polizei.
Im Gedächtnis geblieben sind die bizarren Szenen, in denen Heere von Journalisten den mit einer Pistole rumfuchtelnden Hans-Jürgen Rösner, so der Name eines Täters, interviewten. Später in der Kölner Innenstadt sammelte sich um das Fluchtauto eine Traube von Journalisten und Schaulustigen; Dieter Degowski, der andere Kriminelle, hält dabei einer jungen Frau, die er rüde am Arm festhält, ungeniert die Waffe an den Kiefer. Journalisten entblödeten sich nicht, die Frau zu fragen, wie es ihr denn im Augenblick gehe. Sie steckten den Kriminellen Visitenkarten zu, um später mit ihnen telefonieren zu können. Der Autor dieser Zeilen war zu dem Zeitpunkt jener Ereignisse zehn Jahre alt. An die Bilder kann er sich aber noch erinnern. Sie hielten damals die gesamte Republik in Atem. Es waren Bilder, die man nicht vergisst, ja Bilder, die für zwei Tage alle, die man aus seinem Umfeld kannte, zu beschäftigen schienen.
Ohne Kommentar
Die Gladbecker Geiselnahme wurde mehrfach dokumentarisch festgehalten. Volker Heise hat nun eine weitere Dokumentation bei Netflix veröffentlicht. Was sie einzigartig macht: Sie kommt ganz ohne Kommentierung aus. Heise hat Bildmaterial jener Tage im August 1988 zusammengestellt, Szenen des Geschehens ebenso, wie Ausschnitte aus Nachrichtensendungen oder Zeitungen. So entstand eine chronologische Collage, die keiner weiteren Kommentare damals beteiligter Zeitgenossen benötigt.
Dieser Umstand ist die große Stärke dieser neuen Dokumentation. Die üblicherweise dazwischengeschobenen Statements von Beteiligten, die man aus Dokumentationsformaten kennt, verzerren zuweilen die Betrachtung des Geschehens. Sie geschehen ja im Regelfall auch aus einer abständigen Warte heraus, ordnen Vorkommnisse nach langer Reflexion ein und nehmen dem Betrachter so die Möglichkeit, das Geschehen »aus seiner Zeit« heraus auf sich wirken zu lassen. Kommentare lenken die Aufmerksamkeit auf bestimmte Sujets, lenken zuweilen gar ab – und »manipulieren« somit häufig ungewollt die Dynamik des zu Betrachtenden.
So einer Gefahr unterliegt die aktuelle Dokumentation zu den Gladbecker Ereignissen – die sich ja die wenigste Zeit tatsächlich in Gladbeck selbst abspielten – nicht. Die fehlenden Kommentare ermöglichen es dem Zuschauer, sich in den Bann jener Tage ziehen zu lassen. Wie der zeitgenössische Zuschauer 1988 wird er den Bildern und Worten ausgeliefert, ohne dass jemand aus dem Off oder mittels Zwischenschnitt klarmachen müsste, was genau man hier jetzt sieht und wie man das Gesehene einordnen sollte.
Die heutigen Journalisten: So viel besser als damals?
Heise lässt seine Zuschauer alleine: Und das ist die Stärke dieser Dokumentation. Sie wirkt als Zeitdokument, erlaubt nur Abwägungen und Einschätzungen, die damals, in jenen zwei Augusttagen, gewissermaßen aus der Situation heraus angestellt wurden. Die Frugalität dieser Dokumentation genehmigt einen authentischen Blick in jene Zeit. Zwar bekommt man als Rezipient auch nur Ausschnitte aufgetischt, die aber pur und unverfälscht.
Neben zahlreichen Dokumentationen und Reportagen, fand die Geiselnahme aus jener Zeit auch immer wieder Niederschlag in den Kommentarspalten landauf landab. Dort ereiferten sich spätere Journalistengenerationen über ihre beruflichen Eltern und Großeltern. Dass auch jetzt, im Zuge der Veröffentlichung von Heises Doku, das Feuilleton genau auf diese Weise mit den Altvorderen der Branche umgeht, ist wenig überraschend. Seit Jahren gilt »Gladbeck« als die journalistische Schande schlechthin.
Wenn also die Süddeutsche aktuell schreibt, dass der Zuschauer »starke Hassgefühle« ob des »hemmungslosen Draufhalten und der Kumpanei« an der Bremer Bushaltestelle entwickle, speist man damit nur ein nicht ganz neues Narrativ der Branche: Jenes nämlich, dass der Berufsstand früher schlecht war, völlig moralbefreit und über Leichen ging. Aber wir – die Journalistinnen und Journalisten von heute – haben dazugelernt, erklären sie weiter: Uns würde dergleichen nicht mehr passieren. Die Einschätzung stimmt zwangsläufig: Denn seit jenen Tagen ist es nicht mehr gestattet, mit flüchtigen Straftätern Interviews zu führen. Ob jedoch die Branche nun so viel moralischer ist oder juristisch vor solchen Eskapaden geschützt wird, darf sich an dieser Stelle jeder selbst beantworten.
Warum taten die Medien das? Weil sie es konnten!
Tobias Riegel schrieb bei den NachDenkSeiten, dass das »enthemmte Verhalten vieler Journalisten, die damals das eigene Berufsethos mit Füßen getreten« hatten, die Geschichte immer noch aufheizt. Ist das voll und ganz so zu einzuschätzen? Als Betrachter kann man durchaus, jedenfalls bis zu einem gewissen Punkt, noch davon sprechen, dass die Reporter ihrem Auftrag nachkamen: Jedenfalls an der Bushaltestelle in Bremen konnte man noch hier und da spüren, dass hier ein Informationsauftrag bedient wurde.
Später dann, in Köln nämlich, als Täter und Geiseln im Auto sitzend von der Reportermeute belagert wurden – und nachdem Degowski den Jungen bereits erschossen hatte -, wandelten sich die Umstände freilich: Jetzt fraternisierten sie mit den Bewaffneten und geierten auf reine Sensationsmeldungen. Das war vielen Passanten damals schon bewusst, wie man in Heises Rückschau sehen konnte – gleichwohl konnten auch sie sich der Dynamik des Geschehens nicht entziehen und blieben als Gaffer vor Ort, unbesehen der Gefahrenlage wild mit der Pistole fuchtelnder Gewaltverbrecher.
Ein weiterer Umstand wurde in der aktuellen Dokumentation augenfällig: Die Medien handelten so, weil sie es konnten – die Polizei war faktisch nicht anwesend, zog sich immer wieder zurück, um die Gefangengehaltenen nicht übermäßig zu gefährden. Zwar bat ein Staatsanwalt höflich um eine Einstellung der Berichterstattung, die Meute selbst wurde aber nicht von den Tätern abgeschnitten. Die Beamten schauten aus der Ferne zu, wie sich Legionen von Reportern mit Degowski und Rösner unterhielten.
War es Polizeiversagen?
In Rückblicken nennt man diesen Gesichtspunkt gerne mal ein »Polizeiversagen«. Ob man dem vollumfänglich zustimmen kann, ist fraglich. Die Polizei der Achtzigerjahre war nicht als Kampftruppe konzipiert, so wie wir das heute kennen. Sie war noch einer größeren Bürgernähe verpflichtet und definierte sich ein Stück weit nach dem Konzept, das eigentlich für die Bundeswehr galt, nämlich jenem des »Staatsbürgers in Uniform«. Man kann wohl durchaus behaupten, dass die Polizei in jenem Sommer überfordert aussah – versagt hat sie hingegen nur punktuell, sie war einfach für ein solches Ereignis nicht gewappnet – und strukturell falsch aufgestellt.
So war der Umgang mit Massenmedien damals nur bedingt Teil polizeilicher Ausbildung. Interviews von Journalisten mit flüchtigen Bankräubern waren per se nicht verboten – das sollte erst nach diesen Ereignissen strafbar werden. Die Polizei wirkte provinziell, aber die damalige Bundesrepublik war, wenn man es nüchtern sieht, durchaus noch ein provinzieller Ort. Provinzieller jedenfalls als jenes Land, in dem wir heute Leben.
Die aktuelle Dokumentation zur Gladbecker Geiselnahme hat das Zeug dazu, die Ereignisse in ein unverfälschtes Licht zu rücken. Sicher waren die teilnehmenden Journalisten schwer zu ertragen – aber nicht alles, was sie taten, war grundsätzlich unmoralisch. Bis zu einem gewissen Punkt taten sie ihre Arbeit. Wenn man sie lässt, holen sie eben Informationen ein – egal wie. Auf Moral kann man nicht setzen. Denn erst kommt die Quote, die Schlagzeile, dann irgendwann die Moral.
Ein erster Ausblick auf die Massenmedienherrschaft
Durch die fehlende Kommentierung der damaligen Ereignisse, erhält der Zuschauer – wie bereits erwähnt – einen unverfälschten und abständigen Blick zum Geschehen, der nicht einer apriorischen Schwerpunktsetzung unterworfen ist, sondern es dem Betrachter offenhält, selbst einzuschätzen. So erkennt man zwangsläufig die Dynamiken, die sich seinerzeit entfesselten und nicht mehr – oder kaum mehr – gebändigt werden konnten. Die Beteiligten wirken getrieben, die Eskalationsspirale nimmt Fahrt auf.
Es ist vor allem auch ein Blick auf die ersten Schritte der Mediokratie, einer Gesellschaftsform, in der die Massenmedien nicht nur als Chronisten der Ereignisse fungieren, sondern in der sie teilweise Ereignisse fördern oder stark uminterpretieren. Man erahnt, während Volker Heise einem die damaligen Bilder vorlegt, wie bereits zu jener Zeit die Basis angelegt war für eine Massenmedienlandschaft, in der Hysterie und Panikmache zu Größen werden, mit denen auf Dauer medial zu rechen sein wird.
Das Geschehen von 1988 fiel mit der Etablierung der Privatfernsehsender zusammen. Zwar gab es die schon einige Jahre, aber erst jetzt wurden sie für ein Massenpublikum verfügbar. RTL startete zum Beispiel 1984 und erreichte zunächst nur 200.000 Haushalte. 1985 waren es dann 1,25 Millionen, 1988 bereits um die 5,4 Millionen Haushalte. Die Privatsender eroberten den Markt und jedes Mittel schien recht zu sein. Die Dynamiken, die sich hier ungebremst in Gang setzten, sie haben auch – und vor allem – mit der Auseinandersetzung zwischen dem öffentlich-rechtlichen TV und dem Privatfernsehen zu tun. Es ist also nicht falsch, wenn man festhält: Das Gladbecker Geiseldrama war wohl das erste Medienereignis in Deutschland, das einer ungezügelten, schier unkontrollierbaren Eskalations- und Sensationspresse ausgeliefert wurde. So fing an, was heute – unter anderen Vorzeichen – mediale Normalität ist.
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Die freien Medien in unserem Land gleichen mehr einer straff organisierten Seilschaft.
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Man darf schließlich die jeweilige Entstehung der vorherrschende Meinung nicht dem Zufall überlassen, denn diese soll immer die Meinung der Herrschenden sein.
Medien sind nur der Spiegel der Gesellschaft. Denken wird outgesourced.
Es ist zu anstrengend, für wenig Geld wird es schon jemand tun.
Diese Kette geht immer weiter und hat leider ihre Qualitätskontrolle verloren.
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