Von der Würde der Ehre

Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Blogotron, CC0, via Wikimedia Commons

Würdevoll ist der Umgang mit dem Souverän nicht gerade. Und wie mancher Abgeordnete auf Ehrverletzungen reagiert, erinnert nicht an Demokratie, sondern an Mafia.

Als Schweizer und Europäer, wenn auch nicht Mitglied der Untertanengemeinschaft Brüssels, fällt mir in diesen Tagen auf, wie würdelos sich die Anführer der westlichen Welt der Öffentlichkeit präsentieren. Anstandsregeln gelten gerade noch im Rahmen der Protokolle, nicht aber in den Begegnungen mit Andersdenkenden. Um das Vertrauen in diese Gremien, die sich aus sich selbst gebären, grundsätzlich infrage zu stellen, braucht man kein bestallter Professor der Sozialphilosophie zu sein. Gesunder Menschenverstand reicht aus. Demokratie ist ein umgehängtes Mäntelchen, das in der Garderobe abgelegt wird, sobald man sich im Zentrum der Macht wähnt. Geheimgehaltene Informationen, gleichgültiger, ja gewissenloser Umgang mit dem Souverän, simpel nachweisliche Lügengeschichten, kaum verborgene Strategien zur Machterhaltung gehören im Umgang mit dem „dummen“ Volk zum Alltag. Unterstützt von Lohnschreibern und Lohnrednern wird eine gewünschte Meinungseinfalt gefördert. Eigenes Denken birgt Gefahren, buchstäblich, da man seine Stellung innerhalb der Untertanengesellschaft aufs Spiel setzt. Speichellecker haben Hochkonjunktur.

Was ist Würde? 

Dazu: Einmal mehr (!) Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das impliziert, dass eine dem Menschen immanente Würde existiert. Und zu respektieren ist. Dieser Respekt wird permanent mit Füßen getreten. Auch wenn es unwürdig ist, zu verachten, für dumm zu verkaufen oder zu missbrauchen, so setzt sich Macht gleich Recht in den Teppichetagen der politischen oder wirtschaftlichen Lenker skrupellos durch. Eigentlich hat sich seit den Aristokratiegesellschaften nichts verändert. Eines der Privilegien dieser stichfesten, hierarchischen Struktur besteht darin, dass ein „Würdenträger“ allein aufgrund seiner Stellung innerhalb der Hierarchie, in der Lage ist, bei vermeintlich unter ihm Stehenden, diese Grundwürde zu ignorieren. Im Extremfall kann er oder sie Daseinsberechtigung vollständig absprechen. Man muss nicht den Holocaust bemühen, um einen Beweis für solche Zerstörungen von Menschenwürde zu dokumentieren. Das ist der Extremfall. Es genügt schon, wenn in den Meinungsspalten der großen Medien dem Stimmbürger die Fähigkeit abgesprochen wird, sein Recht auszuüben. Von komplexen Problemen, die nur von Sachverständigen beurteilt werden können, ist die Rede, und – schwupp – hat man aus dem Volksvermögen obszöne Summen abgezweigt, ohne zu fragen. Die Claqueure und Stimmungsakrobaten, die Arschkriecher und Wendehälse machen um des eigenen Vorteils willen brav mit.

Das ist würdelos. Selten, sieht man heute staatsmännische Gesten, die echte Größe zeigen. Willy Brandts Kranzniederlegung am Denkmal für die Opfer der tollwütigen Vernichtung des Warschauer Gettos durch die Nationalsozialisten war ein solches Beispiel. Eigenschaften einer würdigen Haltung sind Demut, Gerechtigkeit, Toleranz und Weisheit. Würde ist Selbstlosigkeit, ist Gnade und Achtung vor dem Leben.

Von diesen noblen Eigenschaften ist im patriarchalen Bewusstsein der Damen und Herren in den Parlamenten oder Vorstandssitzungen der Konzerne wenig bis gar nichts zu spüren. Sie blasen sich selbst zu popanzartiger Größe auf, auf deren Zerplatzen man nur hoffen kann. Aber es ist eher so, dass sie sich nach getanen Untaten und tausenden Toten auf ihre Schlösser zurückziehen. Genährt, gehegt und gepflegt aus den sich selbst zugeschusterten Pensionen, bar jeder Einsicht, im Scheinwerferlicht der verlogenen, unumkehrbaren Einsicht, etwas geleistet zu haben.

Ehrenleute

Eng verknüpft mit der Würde ist die Ehre. Ja, Potzblitz, da stecken sich Damen und Herren allerlei kleine, glitzernde Abzeichen aufs maßgeschneiderte Revers. Bei den Militärs wird es geradezu zum Dekorationstheater. David Graeber, der 2020 verstorbene Kulturanthropologe, prägte den Satz: „Ehre ist überschüssige Würde.“  Anders gesagt: Würde ist ein Recht. Ehre ist ein Privileg – und deshalb ständig umkämpft. Ehre ist eine Auszeichnung, für die man etwas geleistet, die man erstritten hat. Ehrenpreise sind die Anerkennung dafür, dass es andere gibt, die eben keine Ehrenpreisträger sind, die besiegt wurden. Ehre steht über der Würde. Ehre muss verteidigt werden. Ehre verleiht Macht. Ehrenträger sind nicht gewaltfrei. Es ist kein Zufall, dass die italienischen Uomini d’onore, die ehrenwerten Männer, höchst empfindlich auf jede Ehrverletzung reagieren. Schließlich sind sie die Mafia. Meinungsverschiedenheiten werden in diesen Kreisen mit der Schrotflinte geahndet. Eine eigenartige Welt, in der Mord und Totschlag im Streitfall jede Debatte ersetzt. Aber nachgefragt: Ist der Mikrokosmos der Mafiosi so verschieden von den autistischen Regeln der globalen Machts­piele? Ist es nicht denkbar, dass sich die Protagonisten dieses gigantischen Risikospiels bereits nur noch darauf konzentrieren, bei ihren, vom Stimmbürger nicht mitgetragenen Abenteuern, das „Gesicht nicht zu verlieren“?  Städte werden zerbombt, Jugend geopfert und Lebensgrundlagen zerstört, ohne Rücksicht auf Verluste. Da bleibt einem die unantastbare Würde des Menschen im Hals stecken. Es geht um Sieg, um Geld, um Land und Ruhm. Dafür lässt man sterben.

Was tun? Wie heißt der schöne Titel des Buches vom Gründer der NachDenkSeiten Albrecht Müller: „Die Revolution ist fällig: Aber sie ist verboten“. Wenn sich aber „die da oben“ weiterhin jeder humanitären Einsicht verweigern, wenn weiterhin keine „Schwerter zu Pflugscharen“ geschmiedet werden, wenn „Pazifist“ bereits eine ehrverletzende Bezeichnung ist, bleibt wohl nur die Wahl, sich als nützliche Idioten verheizen zu lassen oder Widerstand zu leisten. Verboten hin oder her.

Nochmals Grundgesetz: Artikel 20 Absatz 4, räumt allen Deutschen das Recht zum Widerstand ein gegen jeden, der es unternimmt, die verfassungsmäßige Ordnung zu beseitigen.

Einfacher: „Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“ Wenn es ganz schiefläuft, könnte es plötzlich wieder heißen: „Meine Ehre heißt Treue.“

David Höner

David Höner arbeitete nach seiner Kochausbildung fünfzehn Jahre als Koch, bevor er 1990 journalistisch tätig wurde. Langjährige Auslandsaufenthalte führten ihn nach Quito, Ecuador, wo er als Mitarbeiter in Kulturprojekten (Theater, Radio), in Entwicklungsprojekten und als Gastrounternehmer aktiv wurde. 2005 gründete er die Hilfsorganisation Cuisine sans frontières CSF.
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14 Kommentare

  1. Würde ist wie die Ehre ein ideologisches Konstrukt. Wenn sie existieren sollte, dann nur in unserer Phantasie – mit Verbindungen zum Religiösen. Am sachlichsten scheint mir da noch die zweite Duden-Definition zu sein:
    „mit Titel, bestimmten Ehren, hohem Ansehen verbundenes Amt, verbundener Rang, verbundene Stellung“

    1. Ach so, dann bezieht sich der Artikel 1 nur auf das ein mit Titel, bestimmten Ehren, hohem Ansehen verbundenes Amt.. (und ich dachte schon, auf Menschen).
      Gut, haben sie das geklärt, so macht die Empfindlichkeit der Amtsträger ja wieder Sinn.

  2. Revolution? Verboten. Schon immer, überall. Kein Staat schreibt ins Gesetzbuch: „Wenn ihr unzufrieden seid, bitte stürzt uns!“ Das wäre ja auch töricht. Aber das Grundgesetz ist da perfide ehrlich: Artikel 1 garantiert die Würde des Menschen, Artikel 20 das Widerstandsrecht. Mit anderen Worten: Sobald „die da oben“ die Würde mit Füßen treten, ist Widerstand kein Hobby, sondern Verfassungspflicht.

    Und was erleben wir? Ein Land, in dem „Pazifist“ bereits als Schimpfwort gilt. Wer Schwerter zu Pflugscharen fordert, wird als naiver Spinner verlacht. Wer aber Panzer in Kriegsgebiete schicken will, ist plötzlich „Realpolitiker“. Willkommen im Werte-Wunderland!

    Deutschland hat das Radfahrertum zur Staatsräson erhoben: nach oben buckeln, nach unten treten. Gegen Russland mit markiger Rhetorik, gegen Gaza mit betretenem Schweigen – je nachdem, was die transatlantischen Netzwerke gerade für „in“ erklären. Souveränität heißt hier: wir dürfen frei wählen, wie wir uns freiwillig fremdbestimmen.

    Und wenn dann doch einer aufsteht und sagt: „Hört auf mit dem Wahnsinn, Krieg ist keine Option“, dann heißt es sofort: „Träumerei! Putins Freund! Antisemit!“ – kurz: mundtot durch Etikett.

    Das Grundgesetz wird dabei wie ein hübsches Schaufenster genutzt: Außen glänzen Würde und Freiheit, innen stapeln sich Waffenexporte und Staatsdogmen. Ironie der Geschichte: Wer heute auf Art. 1 und Art. 20 pocht, wirkt radikaler als der, der Bomben liefert.

    Revolution ist verboten. Widerstand ist Pflicht. Alles andere ist betreutes Duckmäusertum.

    1. @n.b.

      „Revolution ist verboten. Widerstand ist Pflicht. Alles andere ist betreutes Duckmäusertum.“

      ++++++

      Nur, wie bringt man das in die Köpfe?
      Es geht wohl nur über den Schmerz des Verlustes.

    2. Die „Revolution“ kam in Deutschland immer nur von oben und nennt sich Faschismus. Hier wird sozusagen das Volk, der Souverän gestürzt. Die Regierung ist unzufrieden mit dem Volk, also bringt sie es auf die eine oder andere Weise (mindestens im übertragenen Sinne) um.

  3. Natürlich ist sowas wie Würde, Menschenwürde!
    Diese wird in den westlichen Ländern permanent verletzt.

    Der Völkermord in Gaza, das bewußte Abschlachten hungernder Kinder in Gaza durch die IDF wird zwar inzwischen kritisiert, aber mit den Hinweis versehen, Israel solle doch bitte etwas humaner morden, damit die Leute nicht so aufgebracht werden.

    Gaza ist das schlimmste Verbrechen dieses Jahrhunderts und die Welt schaut zu.

    Für mich verlieren diejenigen Menschen ihre Würde, die diesen Völkermord nicht klar verurteilen.
    Gaza macht den Unterschied zwischen Menschlichkeit und Barbarei.

    Es macht Mut, das weltweit Millionen Menschen sich den israelischen Treiben widersetzen.
    Diese Millionen retten die Würde der Menschheit, machen den Unterschied!

  4. „Ist es nicht denkbar, dass sich die Protagonisten dieses gigantischen Risikospiels bereits nur noch darauf konzentrieren, bei ihren, vom Stimmbürger nicht mitgetragenen Abenteuern, das „Gesicht nicht zu verlieren“?

    Leuten wie Merz oder von der Leier geht es doch nicht darum, das Gesicht nicht zu verlieren. Welches Gesicht soll das denn sein? Die wissen doch schon längst, dass sie vom größten Teil der Menschen gehasst werden. Ihr Personenschutz ist keine Dekoration. Sie tun einfach alles um an den Futtertrögen der Macht bleiben zu können. Und das ist immer zum Vorteil ihrer Herren und fast immer zum Nachteil der normalen Leute. Es bleibt wohl auch nichts anderes übrig. Im Falle eines Systemzusammenbruchs hoffen sie, bis dahin gut dotiert, von den „Herschern der Welt“ gerettet zu werden.

    1. Das sehe ich anders. Sein Gesicht kann man nur denen gegenüber verlieren, die einem wichtig sind.
      Weder sie noch ich glauben aber, dass dem Merz die Wähler/Bürger wichtig wären.
      Merz, Macron, und die meisten anderen aus diesem Zirkel gehören, meiner Meinung nach, geistig in den Kindergarten, sprich unter Betreuung. Es sind gemeingefährliche Menschen dort, wo sie jetzt stehen. Wären sie nicht im Amt, würden sie nur sich selbst gefährden, das würden die meisten Menschen begrüßen.
      Ich denke, es ist genau das, was sie antreibt, unter ihresgleichen nicht das Gesicht zu verlieren.
      Sicher will so mancher auch einfach nur an den Honigtopf. Nicht so jene, die schon ein dickes Konto haben oder in diese Welt hineingeboren worden sind.

  5. https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/grundgesetz-satzung-staates#section10

    Die Würde des Menschen
    …Per Verfassung verbietet sich der Staat, mit den Menschen alles zu machen, was er als Staat könnte. Das schöne Verbot enthält somit ein weniger schönes Selbstbekenntnis der politischen Herrschaft: Die Bürger sind ihrer Gewalt vollständig und alternativlos unterworfen; sie könnte alles mit ihnen anstellen, wenn sie es sich nicht großzügigerweise versagen würde. Der Wert der edlen Selbstbeschränkung, die diese schrankenlos überlegene Gewalt sich auferlegt, gewinnt Plausibilität, wird zu etwas Positivem, zu dem die Menschen in ihrem Herrschaftsbereich sich gratulieren dürfen, einzig und allein durch den impliziten Vergleich mit staatlicher Gewalt zu anderen Zeiten und in anderen Weltgegenden, vor allem durch den Vergleich mit dem faschistischen Vorgängerstaat auf deutschem Boden: Staaten können auch anders. Und dass der heutige darauf verzichtet, muss man ihm hoch anrechnen. Die Bürger sollen sozusagen ein sich selbst zügelndes Monster gut finden, weil es sich zügelt.

    Tatsächlich liegt Verzicht gar nicht vor. Allen Dienst an seinen Potenzen, den der Staat von der Gesellschaft haben will, mutet er ihr auch zu; von den Zwängen des Geldverdienens mit seinen vielfältigen ruinösen Folgen über das steuerliche Abkassieren bis zum Kriegsdienst kennt er keine Zurückhaltung beim Einfordern dessen, was er braucht. Verzichtet wird lediglich auf eine Behandlung der Bürger, die dieser Staat nicht braucht und die nicht zu seinem Programm gehört. Weil er die private Interessenverfolgung seiner Untertanen, die dem Kapitalwachstum dient, haben will, behandelt er sie eben nicht wie Sklaven. Mit der Abgrenzung von dem, was er nicht vorhat, erteilt er sich ein billiges Gütesiegel: für all das, was er tut. Dass er die ominöse Würde des Menschen nicht antastet, qualifiziert ihn als menschengemäß, als selbst ein Menschenrecht, auf das deshalb niemand pfeifen darf.

  6. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ ??

    Lieber Herr Höner. Es sollte eigentlich heißen,

    „Die Würde der Reichen ist unantastbar, denn nur Sie sind Bürger“ (im Gegensatz zu den restlichen 99%)

    Und dann auch noch Willy Brandt? Selbst die SPD hat ja bereits lauthals angefangen, Willy zu canceln
    (auch wenn sie die damit betreffenden als politische Incels und Feministen outen)

  7. Sehr geehrter David Höner,
    großartig Ihre Projektgründung von Cuisine sans frontièrs.
    Danke für Ihr Engagement um würdelose gesellschaftliche Zustände mit verändern zu helfen.
    Dass es bei all dem letztlich um die „Machtfrage“ geht, dass zeigt auch Ihr Overton-Artikel.
    Daher könnte Sie das hier interessieren: „Das wahre größte Problem der Menschheit“
    https://www.youtube.com/watch?v=97KZh7KnZc4&t=745s

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