Warum Franz-Josef Strauß Leute wie mich zu Recht als »Gesinnungspazifisten« bezeichnet hat.
Im Juli 1944 geriet mein Vater nahe Brody, Ukraine, in russische Kriegsgefangenschaft. Er diente in der 217. Ostpreußischen Infanteriedivision, war 21 Jahre alt und an der Ostfront bereits mehrmals schwer verwundet worden. Der Kessel von Brody ist heute vergessen, er war Teil der Operation Bagration, der entscheidenden sowjetischen Offensive während des Zweiten Weltkriegs, die im Sommer 1944 mehr als eine Million deutsche Soldaten überrannte, ein riesiges Gemetzel, der Durchbruch, der die Ostfront aufriss, die größte Niederlage der deutschen Militärgeschichte. 28 deutsche Divisionen wurden aufgerieben. Es war der Anfang vom Ende des deutschen Russlandfeldzugs.
»… und dann fängt es wieder von vorne an, das Morden«
Kurz zuvor hatte Vater einen Feldpostbrief aus Drohobytsch, Ukraine, an seine Eltern in Berlin geschickt. Darin schrieb er: »Wie schön könnte alles sein, wenn… Ja das große Wenn trifft nun nicht zu, und der grausame Krieg macht sich breit. Von mir aus könnte auch Schluss sein, und wenn ich dann die Kameraden höre, die noch grausameres als ich erlebt haben, dann frage ich mich, warum das alles notwendig ist. Aber das ist der Welt Lauf, ohne Krieg wird es wohl nie abgehen. Wenn wieder alles aufgebaut ist, kommen einige Friedensjahre, bis es wieder jemandem zu gut geht, und dann fängt es wieder von vorne an, das Morden.«
Diesen Brief mit Vaters prophetischen Worten nehme ich derzeit öfter zur Hand, wenn ich im Fernsehen höre, Putin müsse niedergerungen werden – mit Sanktionen, Verzicht auf Wohlstand und Heizen, aber natürlich vor allem mit Waffen, die man an die Ukraine liefere. Dann sehe ich mir die alte Propaganda-Postkarte der Wehrmacht an, die sich ebenfalls in der Briefkiste befindet, und prahlerisch deutsche Artillerie im Fronteinsatz zeigt. Das erinnert mich daran, dass deutsche Waffen vor nicht allzu langer Zeit schon mal in der Ukraine im Einsatz waren, und dass die Generation meines Vaters sie bedient hat – was einiges zur Erklärung der russischen Paranoia vor fremder Einmischung in der Ukraine beigetragen haben mag. Ich frage mich dann, warum die Erinnerung daran bereits verblasst ist, und warum ich das alles nicht für richtig halten kann, und meine einzige Antwort ist: wohl, weil ich ein Kriegskind bin.
Mit dem Weltkrieg am Küchentisch
Kriegskinder oder -enkel sind Menschen, deren Eltern den Zweiten Weltkrieg noch als junge Erwachsene erlebt haben. Wir haben das Grauen zwar nicht selbst erlebt, tragen es aber als Angehörige der direkt nachfolgenden Generation in den Knochen herum, denn Traumata sind vererbbar. Mein Vater war Soldat an der Ostfront, Mutter war zur Arbeit in der Rüstungsindustrie abkommandiert. In meinem Buch »Seht zu wie ihr zurechtkommt« habe ich beschrieben, wie die Kriegs-Traumata meiner Vorfahren ihr Denken, Fühlen und Verhalten geprägt hatten, und wie das wiederum meine Erziehung prägte.
Bei mir saß der Zweite Weltkrieg immer mit am Küchentisch. Kriegskinder und -enkel haben gelernt, dass nichts, was sie erlebten, annähernd so einschneidend sein konnte, wie das, was die Eltern erlebt hatten. Wenn etwas nicht schmeckte, hieß es: »Stell dich nicht so an.« Wenn ich mich mit etwas dumm anstellte, hieß es, ich würde eben keine Härte kennen. Und ich lernte, wie groß Vaters Angst vor seinen eigenen Erinnerungen gewesen sein muss. Wenn er mit mir Cowboy und Indianer spielen sollte, legte er die Plastikpistole nach einer Minute aus der Hand und sagte: »Ick kann das nicht.«
Einen Vorteil hatte diese Erziehung: Vaters Kriegserlebnisse haben entscheidend dazu beigetragen, dass ich 1983 den Wehrdienst verweigerte. Dazu musste man damals sein Gewissen von einer Kommission beim Kreiswehrersatzamt prüfen lassen, wie alle, die Zivildienst leisten wollten anstatt Dienst an der Waffe. Mir gegenüber saßen ein Vertreter der Bundeswehr sowie ein altgedienter Veteran, den ich aus meinem Dorf kannte; ich wusste, dass er 1934 freiwillig in die Reichswehr eingetreten war und den ganzen Zweiten Weltkrieg als Soldat mitgemacht hatte. Er sah mich etwas verächtlich an. Zwischen den beiden Kommissköppen saß eine freundlich lächelnde Frau im bunten Kleid, wohl eine Kommunalpolitikerin der Grünen.
Ich nehme an, ich habe es ihr zu verdanken, dass mich der Prüfungsausschuss im ersten Durchgang passieren ließ, was damals sehr selten vorkam. Ob diese Beisitzerin heute auch ideologischen Flecktarn trägt wie viele ihrer Parteifreundinnen? Damals ließ mich die Kriegsvergangenheit meines Vaters in ihren Augen glaubwürdig erscheinen. Die beiden anderen Kommissionsmitglieder hielten mich anscheinend für ausreichend dumm und naiv genug, um nicht zu begreifen, dass Waffen sein müssten. Ich glaube das immer noch nicht. Und es fühlt es sich immer noch richtig an.
Diplomatie vielleicht?
In Diskussionen mit Freunden und Bekannten, die das anders sehen, fühle ich mich derzeit häufig in jene Zeiten vor der Verweigerer-Kommission zurückversetzt. Ich werde mit fast denselben Fragen konfrontiert wie damals: Wie man denn sonst umgehen solle mit der russischen Aggression? Man dürfe sich doch nicht alles gefallen lassen? Was ich denn tun würde, wenn mich jemand angreift? Opfern von Aggression wie der Ukraine müsse man helfen, und zur Not eben auch mit Gewalt. Das scheint fast Konsens in unserem Land zu sein, vor allem bei der jüngeren Generation. Ich antworte dann, die Russen in die Schranken zu weisen, das hätten schon ganz andere versucht, und es sei noch nie gut ausgegangen. Gewalt führe zu Gegengewalt, das münde immer in eine Eskalationsspirale, die in der Geschichte bereits mehrmals zu katastrophalen Ergebnissen geführt habe. Deshalb müsse es andere Wege geben, mit einem zweifellos sehr aggressiven und unmoralisch handelnden aber nun mal starken Nachbarn umzugehen. Diplomatie vielleicht?
Ich werde dann angesehen mit diesem Blick, den ich aus meinen Zivi-Zeiten kenne, als Franz-Josef-Strauß Leute wie mich »Gesinnungspazifisten« nannte. Und das bin ich wohl auch. Aber ich hatte halt stets gehofft, ich sei der erste in der Familiengeschichte, der nichts mit Krieg zu tun haben würde. Anders als mein Vater und meine Großväter, die beide den Ersten Weltkrieg mitgemacht haben und im Zweiten noch als alte Männer in den Volkssturm einrücken mussten. Aber es sieht nicht danach aus. Die Erinnerung, was Krieg bedeutet, verblasst in den Familien. Anders kann ich mir die 1914-Stimmung in unserem Land nicht erklären.
In seinem kürzlich erschienenen Kriegskinder-Roman »Die Königin von Troisdorf« beschreibt Andreas Fischer, wie er als junger Zivildienstleistender in den 1980er Jahren Essen ausfahren musste an alte Menschen. Es waren viele alte Nazis darunter, die ihn als Vaterlandsverräter beschimpften, weil er nicht Soldat geworden war. Aber eben auch ein alter Mann, der sagte: »Wenn damals mehr so gehandelt hätten wie Sie, was wäre uns da alles erspart geblieben!«
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Ein Mensch hält Not und Krieg und Graus – kurzum, ein Hundeleben aus.
All dies gilt es zu verhindern, dass Gleiches geschehe seinen Kindern.
Besagte Kinder werden später selbst Eltern, werden Väter
und halten Krieg und Not und Graus –
Wer denken kann, der lernt daraus.
(Eugen Roth)
Lumpenpazifist heißt das Heutzutage. Die Beschimpfungen von den Ewiggestrigen kenn ich auch aus meiner Dienstzeit! Das mit der Entnazifizierung im Norden von Schleswig-Holstein haben die Britischen Kameraden damals wirklich schlecht gemacht!
Meine Gesinnungs-Prüfung war sehr einfach, denen habe Ich ganz Einfach erklärt daß; Ich als Norddeutscher nicht gegen meine Brüder und Schwestern in Ostdeutschland kämpfen werde.
Wenn man von jemanden als Lumpenpazifist gebrandmarkt wird, dem die kulturelle Aneignung über den Kopf gestülpt zu sein scheint und welcher wohl wenig Erfahrung damit hat, sich existenziell bewährt haben zu müssen, kann das im Kontext nur als Kompliment verstanden werden.
Ich bin auch als Nachkriegskind aufgewachsen mit den sonntäglichen Kriegserzählungen (Flucht meiner Mutter als 16Jährige mit 2 wesentlich jüngeren kleinen Brüdern) meiner Eltern. Mein Vater war knapp um einen Flakhelfereinsatz herum gekommen, weil er zu jung war, aber man gewann des öfteren den Eindruck, dass er es bedauere, nicht selbst aktiv im Krieg gewesen zu sein. Aber ebenso gut konnte er bei einem Dokumentarfilm in Tränen ausbrechen über das ganze Elend, das über Europa herein gebrochen war.
Ich sah noch die Kriegsspuren in den Gebäuden, die Versehrten, die sich z.T. mit Straßenmusik ein paar Groschen verdienten, spielte in einem Bunker unserem Haus gegenüber. Die erste Wohnung mussten sich meine Eltern mit uns 2 kleinen Kindern mit einem anderen Paar teilen, bis sie endlich Ende der fünfziger Jahre aufgrund des Flüchtlingsstatus meiner Mutter einer eigene Wohnung mit Kinderzimmer bekamen.
Ich habe als kleines Kind immer Angst vor dem Krieg gehabt und kann mich an den Schrecken als Schulkind erinnern, als irgendwann mal Panzer durch unsere mittlere Stadt fuhren.
Ich finde es grauenhaft, wie die 20-30 Jahre jüngere Generation diese tief in die Psyche eingegrabene Angst vor Krieg geradezu in ihr Gegenteil verkehrt. Das beschämendste Beispiel dafür ist diese unsägliche Baerbock.
A.F.
Was das “Grauenhaft” und die Baerbock bzw die ehemals pazifischen Grünen angeht da kann ich mich nur anschließen. Schlimm was aus denen geworfen ist, und dies schreibe ich obwohl ich als Erstwähler mit zarten 18 Jahren 1988 grün gewählt habe. Die Enttäuschung kam mit Joschka Fischer, dem Kriegstreiber gegen Ex-Jugoslawien Recht bald auf dem Fuße – nie wieder grün. Gruß Bernie
Und ich habe in der Friedensbewegung der Achtziger Jahre aktiv mit gearbeitet und noch Petra Kelly und Gert Bastian reden gehört. Aber die waren ja auch nicht von KPD/ML und KBW (wie Fücks &CO.) gekommen, sondern so weit ich weiß von der US-Anti-Vietnamkriegs-Bewegung und Bastian wusste als General wie die Kriegspläne der NATO aussahen, nämlich dass speziell Deutschland als Kriegsgebiet ausersehen war.
Gruß zurück
A.F.
Danke für den Text von einem der selber Kriegsenkel ist, und dessen Vater seine Welt- und Nachkriegserlebnisse genauso am Küchentisch geschildert bekam mit dem Unterschied das mein Vater gerade noch um den Militärdienst in der Wehrmacht herunkam, er war zu jung dafür, und mein Großvater der Familienlegende nach eingezogen wurde obwohl er schon zu alt für den Wehrdienst war, angeblich als Strafe für sein Fehlverhalten gegen einen NS-Parteibonzen im Heimatdorf kurz vor Kriegsende. Ich kannte diesen Großvater nicht mehr, da er bereits vor meiner Geburt verstorbenen war, und weis nur von Erzählungen meines Vaters und seiner Schwester, die noch lebt und Jahrgang 1928 ist, dass mein Großvater kurz vor Kriegsende 1945 desertierte und sich im heimischen Keller vor dem Zugriff der Wehrmacht versteckt hat. Der besagte Großvater hat, wie ich von meinem Vater weiß, nie über seine Kriegserlebnisse 1914/18 sowie 1945 gesprochen. Mein Vater hingegen sprach sehr gerne von der schönen Kindheit die er in der HJ hatte, und der anarchischen Nachkriegszeit von 1945 – 1948, als er mit Wilderei im nahen Rheinwald mit zum Lebensunterhalt der Familie beitrug. Er hatte übrigens, aus Schwarzhandelszeiten mit dem nahen Elsass einen Elsässer als besten Freund, der nicht so viel Glück wie mein Vater hatte und vor Moskau gekämpft hat als zwangseingezogener Elsässer in der Wehrmacht. Diese Erfahrungen sowie auch Erzählungen der Schwester meines Vaters, die mittlerweile 94 Jahre alt ist, sowie der Mutter der beiden, die ich noch kannte als sie lebte, haben wohl dazu geführt, dass ich zum Kriegsdienstverweigerer und “Gesinnungspazifisten” geworden bin da auch bei mir der Krieg mit am Küchentisch sass.
Schade, dass wir wieder in Zeiten leben wo eine alte längst totgeglaubte deutsche Kriegsbegeisterung fröhliche Wiederauferstehung feiert.
Gruß
Bernie
PS: Die “Russophobe” hier dürfte ich schon vor Putins Angriff auf die Ukraine selbst erfahren. Meine Tante erzählte immer von russischen JKriegsgefangenen der Wehrmacht die unter unmenschlichen, kz-nahen Bedingungen nahe beim Dorf gefangen gehalten wurden. Die Sache ließ mir keine Ruhe und ich wollte bei der heutigen Gesamtgemeinde, wo das früher selbständige Dorf eingemeindet wurde, rein privat für mich aus reiner Neugier, nachforschen. Mir wurde aber, vom städtisch angestellten Hobby- Historiker der Gemeinde geraten das lieber sein zu lassen – es hätte bereits Ärger mit einem Journalisten gegeben dem selbiges geraten würde. Er solle die Sache auf sich beruhen lassen…..so mir 2020 mitgeteilt….und das obwohl meine Tante, die noch putzmunter ist, dies noch heute nicht verarbeitet hat was sie als Mädchen mit eigenen Augen in einem Ort Nähe der französischen Grenze sehen müsste.
Ja, dieser Russenhass ist nie verschwunden, das Bild vom russischen Untermenschen hat sich letztlich bis heute subkutan gehalten. Im kalten Frieden hat er sich als Antikommunismus maskiert und nach dem Ende der bipolaren Welt wurde er nach kurzer Zwischenzeit erfolgreich wieder belebt.
Natascha Wodin, als Tochter russisch-ukrainischer Zwangsarbeiter kann ein Lied davon singen. Sie glaubte selbst noch als junge Frau, die SU habe Deutschland angegriffen, wie es ihr in ihrer Kindheit und Schulzeit vermittelt wurde.
@ A.F.
Danke für den Hinweis, ich sehe es ganz genauso und hoffe das immer mehr Menschen auffällt, dass es schon vor 1941 nie nur gegen den sowjetischen Kommunismus sondern, schon damals seit dem Angriff auf die UDSSR gegen die Russen als Einwohner Russlands ging. Gruß Bernie
Ergänzung: Es gibt übrigens nicht nur Kriegsverbrechen an Russen in meiner Heimatregion. Durch Zufall, und die Nachdenkseiten Albrecht Müllers und Jens Bergers, erfuhr ich von einem Kriegsverbrechen an abgestürzten britisch-neuseelaendischen Bomberpiloten, dass in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen erwähnt wurde aber hier, auch da der NS-Täter nach Übersee floh und nie gefasst wurde, der Vergessenheit anheim fiel. Auch in diesem Ort ein Thema, dass erst über Umwege aufkam und von den heutigen Einwohnern dort lieber vergessen wird? Die Piloten wurden damals erschossen und ihre Leichen in den nahen Rhein, der damals wegen des Bombenangriffen auf eine nahe Talsperre Hochwasser hatte, geworfen – als Rache für diesen Angriff. Krieg eben…
Nie wieder Krieg
Das gefällt mir, dazu müsste man die Wahrheit wissen. Wer die Wahrheit hinter dem Krieg weiß, würde sich nie für Krieg entscheiden.
Volle Unterstützung und Dank für seinen Text an Herrn Schoepp. Er gehört zu den offenbar wenigen, die nicht nur die korrekten Schlüsse aus ihren Erfahrungen gezogen haben, sondern auch nicht bei jedem Windstoss daran zweifeln. Angesichts heutiger Überwaffen gilt ‘kein Krieg’ mehr denn je, imperativ und unbedingt.