Historiker ohne Geschichte

Historiker Sönke Neitzel.
Blaues Sofa, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons, bearbeitet

Ein Historiker, der bis neulich noch von den Gräueln der Weltenbrände berichtete, wünscht sich jemanden im Verteidigungsministerium, der »handlungsbereiter« ist. Was lernen wir aus (dieser) Geschichte?

Sönke Neitzel ist einer der bekanntesten zeitgenössischen Historiker in diesem Lande. Er hat mehrere Bücher publiziert und oftmals mit dem ZDF zusammengearbeitet. Spezialisiert ist er auf die deutsche jüngere Geschichte, irgendwo zwischen Ersten und Zweiten Weltkrieg weiß er immer etwas zu sagen.

Letzte Woche wurde auch er in Berlin direkt nach Christine Lambrecht gefragt. Sie sei seiner Auffassung nach in diesen »besonderen Zeiten den Anforderungen des Amtes nicht gewachsen«. Man brauche nun »erfahrene Leute«, die mit »mehr Fachwissen« glänzen würden – und die »handlungsbereiter« seien als Lambrecht. Anders gesagt: Jetzt heißt es handeln und nicht mehr zögern. Neitzel sollte vielleicht mal seine eigenen Bücher lesen oder jene ZDF-Dokus gucken, in denen er die Kriege der Deutschen thematisiert.

Ein Kriegsminister bitte!

Dass ausgerechnet einer von höherer Handlungsbereitschaft spricht, der Herausgeber von Titeln wie »Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben« oder »Deutsche Krieger: Vom Kaiserreich zur Berliner Republik« war, macht schon nachdenklich. Was hilft denn alles historisches Expertentum, alles Nachspüren in den Chroniken oder Erinnerungen, wenn das erforschte Wissen im Hier und Jetzt verpufft?

Natürlich hat Sönke Neitzel nicht direkt Hurra geschrien: Das hat ihm die Geschichte gelehrt – die Hurra-Schreie von einst, sie wirken auf uns seltsam und wenig nachvollziehbar, auch unangemessen. Mit so viel ausgelassenem Feuereifer zieht man heute nicht in den Krieg. Lange dachten wir ja, dass wir das Gröbste hinter uns gelassen hätten, »Nie wieder Krieg!« habe sich als Grundeinstellung in unser aller Köpfe eingenistet. Doch das war ein Irrtum: Einzig und alleine wie wir in den Krieg ziehen, ob unter Hurra-Rufen oder nachdenklicher und mit Expertenanschein, das hat sich verändert.

Dem besagten Historiker kann man ja noch folgen, wenn er Fachwissen und Erfahrung fordert: Aber mehr Handlungsbereitschaft? Handlungsbereitschaft zu was? Er hätte auch »Entschlossenheit« oder »Härte« fordern können, denn genau in diese Richtung geht Neitzels Kommentar ja. Er wünscht sich einen Verteidigungsminister, der handlungsbereit ist wie die Außenministerin. Der vorprescht und nicht vorstöckelt. Jemanden der das kühle Biedere der Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses ausstrahlt und nicht den großmütterlichen »Charme« der Lambrecht.

Ja, einen Verteidigungsminister eben, der handlungsbereit genug ist, um Kriegsminister sein zu wollen. Mit allen Schikanen, mit allem was dazugehört. Vielleicht jemand, der in jener deutschen Tradition steht, an der sich Neitzel sonst so gerne in der populärgeschichtlichen Aufarbeitung abmüht. Ein Mann oder eine Frau der Tat!

Verrohung zum Zuschauen

Mir ist durchaus bewusst, dass ich dem Mann in den letzten Zeilen auch einiges unterstelle. Er hat ja nicht nach einem starken Kriegsminister gefragt, nur »handlungsbereiter« müsse jemand sein, der im Verteidigungsministerium sitzt. Was kann man in diesen Zeiten darunter verstehen? Hat er es ganz anders gemeint, einen Menschen der Diplomatie an dieser Stelle erhofft? Sagt man gemeinhin, dass Diplomaten handlungsbereiter sein müssen?

An Sönke Neitzel erkennt man etwas, was in breiten Teilen der Gesellschaft längst angekommen ist: Verrohung. Das ist natürlich keine große Erkenntnis, denn roh geht es seit Jahren zu in dieser Gesellschaft. Und zwar zunehmend. Aber dass es einige letzte Barrieren gibt, die man nicht der Verrohung aussetzt, wollte man schon annehmen. Krieg war eine dieser letzten Grenzen, die man sich einbildete. Im Angesicht der Kriegsgräuel müsse man schließlich zurückstecken, einen Gang herausnehmen, deeskalierend sprechen.

Leider war das ein Irrtum, der uns gerade teuer zu stehen kommt. Greift die Verrohung erstmal um sich, lässt sie sich nicht mehr aufhalten. Seit Monaten vernehmen wir, wie nicht nur Kriegspropaganda um sich greift, sondern nebenher auch jedes Grundelement von Sittlichkeit mit Füßen getreten werden. Die Sprache nimmt zunehmend einen militärischen Klang an, Journalisten klingen wie Feldherrchen und es scheint so, dass dieses Volk der 80 Millionen Bundestrainer und 80 Millionen Virologen, sich jetzt zu einer Gesellschaft von 80 Millionen Frontkämpfern transformierte.

Wenn der Krieg hoffentlich irgendwann vorbei ist, wenn wir – hoffentlich nicht – aus den Ruinen entsteigen, die auch bei uns entstanden sind, kann Sönke Neitzel ja weiter jene Kriege und jene Kriegsgesellschaften thematisieren, die vor langer Zeit dieses Land in Beschlag nahmen. Seinen Historikernachfolger obliegt es dann, jenen Krieg aufzuarbeiten, für den Neitzel sich handlungsbereitere Köpfe wünschte. Lernen werden die Rezipienten der Zukunft aber vermutlich so wenig aus dieser Aufarbeitung wie wir – und wie »unsere« Historiker.

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34 Kommentare

  1. Hätte er Karakter, sollte er den Rücktritt einfordern.
    Handlungsfähigkeit, ja das ist etwas, was in der täglichen Propaganda untergeht. Denn wir sehen ein Land das fremdbestimmt ist und in keinster Weise Handlungsfähig ist. Sobald „einer“ nicht agiert wie es jemand will, geht der Apparat los und marschiert über Leichen hinweg.
    Der beste vizepanzel gesteht nu ein, das D ein Problem hat. Vor ein paar Monaten sagte er „ahja, wir legen die Industrien ein wenig still und fahren sie dann wieder hoch“.
    Politisches Fachpersonal ohne Ausbildung, ohne diplomatische Gefühl und noch grün hinter den Ohren…, Zeitenwende.

  2. Der Mann ist einfach ein Militärhistoriker. Es gibt auch viele Militärgeistliche, über die es eine gute Serie bei TP gibt. Über Militärhistoriker könnte man auch so einen Artikel schreiben oder gibt es vielleicht schon. Enno Lenze ist auch aus der Kategorie, nur noch gröber, was Kriegspropaganda angeht.

  3. Am 11. Juni 2015 erschien in den nachdenkseiten ein Artikel von Kurt Gritsch unter dem Titel:

    »Nie wieder Krieg (ohne uns)!«

    Dieser Einstellung beschreibt die deutsche Politik seit dem Jugoslawienkrieg besser als alles andere.

  4. Ich will hier noch einmal daran erinnern, dass es früher HistorikerInnen gab, die zugaben, dass auch Historiker nicht politisch unabhängig, sondern von ihrem Umfeld geprägt sind, und ihrer jeweiligen politischen Einstellung, dass sollte jeder Konskument solcher Historiker wissen bzw. im Hinterkopf behalten 😉

    Leider ist der Historiker Sebastian Haffner, an den hier:

    „[…]Sebastian Haffner zum Hundersten von Peter Bender · 27.12.2007

    Einen Publizisten wie Sebastian Haffner hat es in der Nachkriegszeit nicht wieder gegeben, und künftig wird es ihn schon gar nicht geben. Der Mann war einmalig, weil er über Eigenschaften verfügte, die in dieser Stärke und Häufung sonst nicht vorkommen[…]“

    Website hier zu finden:

    https://www.deutschlandfunkkultur.de/sebastian-haffner-zum-hundersten-100.html

    …erinnert wird schon lange tot….und eventuell sogar vergessen, aber seine Einsicht gilt zeitlos bis heute….

    ….Haffner war übrigens deutscher Exilant in Churchills Großbritannien und kehrte nach Ende des 2. Weltkrieges nach .de zurück….aus seiner Prägung im Exil machte er keinen Hehl sondern gab die offen zu und erinnerte eben an die oft fehlende politische Unabhängigkeit – auch schon damals – von deutschen Historikern in der BRD.

    Wie schon gesagt, die dürfen ruhig weiter publizieren, aber man sollte als Leser nicht vergessen, auch die haben eine politische Einstellung, die oft in ihre Werke mit einfließt – vielleicht sollte man das via Trikot *kleiner Scherz“ auch erwähnen, dass moderne heutige HistorikerInnen tragen sollten wo drauf steht wes Geistes Kind sie sind….

    Zynischer Gruß
    Bernie

    1. Danke für den Link.

      Neitzel ist ein Mietmaul, so wie viele andere auch. In diesem Radio-Interview wird das so deutlich wie in seinen ewigen ZDF-„Features“. Er verbreitet da beim WDR5 die aktuelle Regierungsmeinung. Sonst nix.

      Die anschließende Antwort von Herrn Schramm sollte man deshalb auch eher als Antwort auf Habeck/Baerbock werten denn auf Neitzel.

  5. Ich muss sagen, dass ich nicht so recht weis, was ein Historiker als Ziel seiner Untersuchung hat? Wird er dann Politikberater? „Er hat ja nicht nach einem starken Kriegsminister gefragt, nur »handlungsbereiter« müsse jemand sein …“ Genau wie Roberto fragt, wozu?
    Hier tut sich noch eine andere Frage auf, warum genau immer wieder dieser Historiker und nicht einmal Gansel. Ich weiß jetzt nicht, inwieweit Sönke Neitzel die Geschichte der Ukraine und Russlands bearbeitet, es ist unerheblich, was Neizel sich wünscht, was sieht er als notwendig an aufgrund seiner Untersuchungen? Was sicher ist, dass er das, was der Mainstream an Presse verbreitet, von ihm gestützt wird.
    Doch, die Verrohung ist eine Erkenntnis, die gesagt werden muss, ob sie groß ist? Nur ist es verschleiernd zu sagen, dass die Verrohung ein Ergebnis des Krieges ist. Zu einem ist im Kapitalismus die Konkurrenz das vorherrschende Prinzip, das Verrohung bedingt. Zu sehen an den sozialen Verwerfungen.
    Wäre nicht der Umstand das es zum Krieg gekommen ist, ein verrohter Akt, also vor dem Krieg schon vorhanden. Im Übrigen hat es hier einige Artikel zum Nationalismus gegeben, wo die Verrohung die Richtschnur des Handels war. Ich denke da an Griechenland.
    „Greift die Verrohung erstmal um sich, lässt sie sich nicht mehr aufhalten. Seit Monaten vernehmen wir, wie nicht nur Kriegspropaganda um sich greift, sondern nebenher auch jedes Grundelement von Sittlichkeit mit Füßen getreten werden.“ Ganz genau.
    Ich denke das am Schluss anderes als Roberto, der Knall der und erwartet wird so sein das es keine Schlupflöcher mehr gibt und es wird, in jedem Sinn kein Stein mehr auf dem anderen bleiben.
    Undenkbar, was in Israel passiert ist, das soll noch Frieden sein.
    Von dem Knall sollen solche Leute wie Neizel ablenken.

  6. Gute Historiker sind gefragt. Die RF schickt sich gerade an, Stalins Befehl Nr. 227 zu reaktivieren. Würde mich mal interessieren, ob Russlands aktuelle Militärhandbücher auch noch aus WKII stammen. So dumm kann doch niemand sein, zu glauben, einen modernen Krieg in WKII Manier gewinnen zu können.

    phz (2000)

  7. Inwieweit Neitzel die Vorgeschichte des Ukraine-Konflikts antizipiert, kann ich hier und jetzt nicht beurteilen. Ich habe aber auch schon andere seiner Zunft in das Kriegshorn ohne Sinn und Verstand blasen hören. Ich frage mich, wie kann das sein? Von Leuten, die als Wissenschaftler anerkannt und ausgezeichnet sind? Die Geschichte studiert hatten? Das bornierte Weglassen der Vorgeschichte ist für mich ein Offenbarungseid dieser Leute. Als Wissenschaftler sind sie für mich aus dem Spiel, bestenfalls noch Hofgeschichte(n)schreiber. Insofern “ad fontes“, mit einem wissenschaftlichen Anspruch dieser Geisteswissenschaft hat das nichts mehr zu tun.

    1. Nochmal: Er ist ein Militärhistoriker.

      Das ist so wie ein katholischer Bibelwissenschaftler oder bestimmte (Philosophie-)Lehrstühle, wo die Lehre der berühmtesten Vertreter der Uni gelehrt wird, auch wenn die schon lange widerlegt sind oder nicht so nette Jungs waren, wie sie in der Ehren-Gallerie der Universität verklärt werden usw. Establishment nennt man das.

      Wenn sich jemand gegen das Militär stellt oder die katholische Kirche, dann kriegt er keine Vernetzung, keine Karriere, und keinen Zutritt zu den Archiven, die er für seine Arbeit braucht und damit kein Geld. Es ist ein typischer Fall von: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Wobei das bei der katholischen Kirche oft noch liberaler ist als beim Militär oder Geheimdiensten.

      Ich habe mich nicht mit dem Genannten hier direkt auseinander gesetzt. Aber ich würde blind darauf wetten, wenn man bei dem Neitzel nach dem üblichen NATO-Thinktank-Sumpf sucht, findet man ihn. Er macht ja auch keinen Hehl daraus, dass er ein Militärhistoriker ist. Nur nehmen viele naive Menschen es gar nicht wahr, dass er Kriegspropaganda macht.

      Ich nannte schon den Enno Lenze mit seinem Panzermuseum, also auch verbandelt mit der Waffenindustrie. Oder es geht auch noch primitiver als das: Fritz Meinecke, der Influencer. Der hat auch Verträge mit der Bundeswehr und so schleicht sich immer wieder Werbung für die Bundeswehr in sein Unterschichten-TV in klassischem Reality TV-Format. 100 Mrd. + x, all die damit einhergehende Korruption, müssen gerechtfertigt werden. Dafür braucht es viele Menschen, die verblödet genug und vor allem schamlos und amoralisch genug sind, um das Geld zu nehmen und diese Dystopie auf dem Todesstern zu leben.

      Hinzu kommen noch all die Podcasts im ÖR mit Generälen oder von der Bundeswehr-Uni, wie dem Carlos Marsala. Die sind doch Teile von versteckten oder wenig publiken Netzwerken und Experten-Clustern, so wie die Integrity Initiative.

      Matt Orfalea hat dazu eine gute Collage erstellt wie die schamlose Kriegspropaganda in USA läuft.

      Es war zuerst dort ab dem Wahlsieg von Donald Trump und seiner Ablehnung durch den deep state zu beobachten, wie die bisher schon eher dünne Schranke zwischen Deep state und Medien fiel. Damals tauchten vermehrt Generäle und Geheimdienst-Direktoren direkt in den großen TV-Sendern auf. Das war früher nicht so.

      Weapons 4 Ukraine (& Military Industrial Complex)

      https://www.youtube.com/watch?v=N3pnFR7DeZA

      Jemand könnte sich auch mal die Arbeit machen, die Talking Points deutscher Kriegstreiber, die viele wiederholen, herauszusuchen, indem man die Aussagen vieler von ihnen vergleicht. Das wiederum kann man dann mit den Aussagen in US-Thinktanks vergleichen, denn das Meiste ist einfach nur nachgeplappert und übersetzt. Die Vasallen machen nichts selber. Der Schwanz wedelt nicht mit dem Hund.

      Die Geheimdienste und deren Schergen machen diese Arbeit auch andersrum mit uns.

  8. Der famose Historiker Sönke Neitzel ist schon seit langem ein Ärgernis in der deutschen TV-Landschaft. Zusammen mit dem „ZDF-Info“.

    Dieser Sender wird nicht müde, eine „Reportage“ nach der anderen über die NS-Zeit im Allgemeinen und die Kriegshandlungen im Besonderen zu senden. Seit Jahren geht das so, und es hört offenkundig nie auf.

    Heute (9.01.2023) bei ZDF-Info, 16:30 bis 18:45 Uhr: Die SS – Macht und Mythos.
    Ein Beispiel von hunderten und Sie können ganz sicher in dieser Sendung wieder den Herrn Neitzel als prominenten Erklärer bestaunen. So wie in jeder der sehr vielen ZDF-Sendungen zu diesem Themenbereich.

    Die hinter wissenschaftlichem Interesse versteckte Faszination für die deutsche Nazi-Zeit ist bei diesem Sender und bei Herrn Neitzel unverkennbar. Da ist es auch kein Wunder, dass dem Guten bei allem, was man an Christine Lambrecht kritisieren muss, nur deren angeblich fehlende Handlungsbereitschaft einfällt.

    Mal ganz abgesehen davon, dass diesem Hochleistungshistoriker offenkundig nicht bekannt ist, dass in diesem unserem Lande nicht ein einzelner Ressortminister solch weitreichende Entscheidungen trifft wie die Waffenlieferungen mitten in einen laufenden mörderischen Krieg. Das hätten die Grünen wohl gerne!

    Neitzel ist bloß ein kleines Rädchen in der laufenden Kampagne:

    „Sie hätte früher kommen müssen. Wären die Schützenpanzer schon im Sommer geliefert worden, wäre die Ukraine heute weiter.“ Masala (Universität der Bundeswehr in München)

    „Wir müssen der Ukraine beistehen, mit allem, was sie braucht, stets in Rücksprache mit unseren Partnern.“ Nouripour (Grün)

    „… ein erneuertes Signal der vollen Solidarität und unverbrüchlichen Partnerschaft mit der Ukraine …“ Wagener (Grün)

    „Wir müssen jetzt auch den Leopard 2 liefern.“ Hofreiter (Grün)

    „Wir lassen nicht locker. Nach dem Marder kommt der Leopard. Ich bleibe dran.“ Strack-Zimmermann (Gelb)

    „Endlich Freigabe für Marder, die viele Soldaten an der Front schützen & beim Kampf zur vollständigen Befreiung der Ukraine helfen werden.“ Kiesewetter (Christ)

    Es handelt sich ganz offensichtlich um eine enorme Faszination für einen Krieg, von dem man anscheinend meint, man könne ihn ausschließlich mit den Körpern und Seelen von Ukrainern und Russen führen. Sie können einfach nicht genug davon bekommen.

    Und um Lobbyismus, wie er Bundestagsabgeordneten nicht zusteht: In Strack-Zimmermanns Wahlkreis ist der Stammsitz von Rheinmetall, in Hofreiters der von Kraus-Maffei-Wegmann.

    1. Danke für die Hinweise – die Vita Sönke Neitzels – bei Wikipedia – ist auch sehr aufschlussreich – er ist kein Rechtsextremist, aber steht CDU/FDP ziemlich nahe und hat einen Schwiegervater, der als Historiker Roosevelt eine Mitschuld am Beginn des 2. Weltkrieges geben will – auch seine Mitgliedschaft im Verein Preussischer Kulturbesitz ist interessant wenn man Wikipedia glauben kann.

      Zynische Grüße
      Bernie

    2. Ich schrieb schon neulich über die ÖR-„Dokus“, teils auch noch vom „Investigativ-Team“, die Panzer und Panzerkrieg verherrlichen, die gleiche Panzercrew der Bundeswehr bei ihren Vorbereitungen für den Krieg an der Ostfront verfolgten, die Ende letzten Jahres produziert wurden. Wenn man da genauer schaut, landet man sicherlich bei Werbeagenturen, die von der Bundeswehr beauftragt wurden, dann wiederum mit diesen privaten Produktionsfirmen zusammenarbeiteten. Das wurde dann im ÖR von Offiziellen als „politische Bildung“ durchgewunken.

      Dazu gibt es dann in der Influencer-Szene noch perfidere Kriegspropaganda für das junge Publikum wie „Hänno macht den Panzerführerschein“ oder eben von Ex-Bundeswehrsoldaten wie Fritz Meinecke Formate, die direkt auch von der Bundeswehr gesponsort werden. Oder es werden gerne Kriegsspiele promotet wie World of Tanks.

      Eigentlich ist es ein Wunder, dass trotz aller dieser Werbung der Verkauf von Kriegspanzern noch nicht enttabuisiert wurde. Meine Vermutung wäre, dass es gar nicht mehr an der Akzeptanz in der Bevölkerung liegt, sondern daran, dass ein BND-Direktor und auch BND-Historiker schon offen zugaben, dass die Bundesregierung für diese Waffensysteme besondere Zugeständnisse erwartet von den Käufern.

      Übrigens eine weitere Stufe hässlichster Schleichwerbung ist immer das Lob der ukrainischen Regierungsvertreter für deutsche Wunderwaffen und die deutsche Waffenindustrie. Natürlich können die gar nicht genug Waffen bekommen, denn bei JEDEM Geschäft kriegen sie ihr Schmiergeld.

      Selensky war schon in den Panama Papers erwähnt, dürft mittlerweile längst Milliardär sein oder Multi-Milliardär. Es gab einen Whistleblower, den Bag Man von Pedro Poroschenko, der sogar erst nach Deutschland floh mit sehr vielen Aufnahmen über die Korruption in der ukrainischen Regierung. Dann wurde er in Deutschland von den Behörden in die Mangel genommen und floh nach Spanien. Ich habe gerade seinen Namen vergessen.

      Wir dürfen auch nicht vergessen, dass Krieg die beste Fortsetzungsserie der Welt ist für die Medien. Da kann man so richtig Fan sein und mitfiebern, mehr noch als bei dem Wahlkampf mit Donald Trump (an ihm allein lag es nicht) in 2016:

      https://youtu.be/0iB3gM4TUgg?t=256

  9. Neitzel ist ein revisionistischer „Historiker“, der den Kriegerkult der Alldeutschen und der Nazis wiederbeleben will. Sorry, Roberto, aber „Prominenz“ bei Guido Knopp ist keine wirkliche akademische Errungenschaft, ob es eine Professur an der Titelbörse „London School of Economics“ ist, mag dahinstehen. Neitzels Arbeiten sind nach Standards des Fachs nicht überragend, zum nicht geringen Teil ziemlich fragwürdig. An Militärhistoriker wie Wolfram Wette oder Gerd R. Überschär reicht er auf Längen nicht heran.

    1. @aquadraht

      Danke für den Hinweis – was die Nazis angeht ich denke Neitzel gehört nicht dazu.

      Ich würde ihn eher zu einem Anhänger längst vergessener, uralter preußischer Militärtradition zählen – ohne Hitlers Nazis.

      Warum denke ich gerade an „Den Hauptmann von Köpenick“?? und den schönen Satz „Haben Sie gedient!“??

      Sarkastische Grüße
      Bernie

      1. „längst vergessener, uralter preußischer Militärtradition“
        Dahinter kommt oft nach etwas Bohren ‚das gute alte‘ Sparta zum Vorschein, obwohl viele dieser Militärmarsch-Gestalten die damalige Selektion vermutlich nicht überstanden hätten.

        1. @Cetzer

          Hast Recht, aber deutsche Militaristen gehen vorher noch – beim „Krieg gegen die Slawen“ den Weg zur Marienburg der Deutschordensritter als Umweg.

          Ein neuer Aleksander Newski wird sie dann wieder, wie in einem alten sowjetischen Film gezeigt, unter das Eis eines russischen Sees bringen.

          Sarkastische Grüße
          Bernie

  10. „Christine [Flieg mit mir!] Lambrecht“
    Natürlich ist diese Frau eine wandelnde Kapitulationsurkunde, aber ein Land, das es ernst mit Frieden meint, könnte auch demonstrativ Daisy Duck als Verteidigungsministerin aufstellen.

    „wenn wir – hoffentlich nicht – aus den Ruinen entsteigen, die auch bei uns entstanden sind“
    Nach einem Atomkrieg – der sich vermutlich über Deutschland besonders todbringend ‚austoben‘ würde – werden nur sehr wenige kurz aus den Ruinen kriechen, um ein letztes Mal nach ihrem geliebten Auto zu schauen (leider offensichtlich ein wirtschaftlicher Totalschaden) und dann als medizinischer Totalschaden möglichst schnell und schmerzlos zu sterben.
    Manche Historiker, vielleicht auch das angesprochene ‚Prachtexemplar‘, haben erstaunlich wenig Phantasie, vor allem wenn es um die Zukunft geht und dort um bisher so¹ noch nie Dagewesenes. Allgemein hängen viele Deutsche wohl schon in einer tröstenden Rille² aus der Vergangenheit fest:
    „Atomkrieg? Alles nicht sooo schlimm! Auch die radioaktive Suppe muss doch nicht so heiß gegessen werden, wie sie gekocht³ wurde. Dann müssen wir eben ‚Unseren Schönen Ponyhof‘ wieder aufbauen – Schöner und harmonischer als je zuvor! Und jetzt Schluss mit der Nörgelei, oder ich muss Dich leider wegen Defätismus anzeigen“
    Ich bezweifle stark, dass das jetzige, real existierende Deutschland (inklusive Umfeld) zu so etwas wie dem Neuaufbau nach 1945 in der Lage wäre, aber nach einem Atomkrieg geht hier überhaupt nichts mehr, nicht mal ein bescheidendes Denkmal für Anton Panzerreiter mit stählernem Blick und wehenden Haaren.

    ¹Tolle Bikinis von H&N
    ²Schallplatte
    ³Über 1 Million Grad

  11. @Cetzer

    Hast Recht, aber deutsche Militaristen gehen vorher noch – beim „Krieg gegen die Slawen“ den Weg zur Marienburg der Deutschordensritter als Umweg.

    Ein neuer Aleksander Newski wird sie dann wieder, wie in einem alten sowjetischen Film gezeigt, unter das Eis eines russischen Sees bringen.

    Sarkastische Grüße
    Bernie

  12. da wir hier von der neuen Politisierung und in Indienstnahme der histor. „Community“ und ihrer Forschung sprechen –
    hier (nach meinem geklammerten Kommentar) der FAZ Artikel von Gwendolyn Sasse (Wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS)) zu Reinhards Merkels Äußerungen bzgl der Krim vom 5.1.23

    (Begriffe wie „illegitimes Scheinreferendum“ sind nach meinem leider im vgl. zu Sasse begrenzten Kenntnisstand – ich bin nun mal von Beruf kein Historiker – aber hinsichtlich anderer Historiker – als polit. Urteile einzustufen. Zudem unterschlägt sie sehr große Zustimmung die es auf der Krim gegeben hat hinsichtlich des Vorgehens der Russen. Ebenso unerwähnt bleibt der größere Zusammenhang mit der lebenswichtigen Krimflotte der Russen und dem Hafen, das entsprechende Abkommen mit den Ukrainern, die es nicht verlängern wollten, die ethno-nationalistische Politik Kiews die nachweislich auf die Krim stimmungsmäßig ausstrahlte. Und auch die Aussage die Friedensinitiative sei – natürlich – von Putin abgelehnt worden – all das legt nahe dass es hier eben nicht um vorurteilslose Forschung geht. Zudem ist all dies nich so unstrittig wie sie meint, warum sonst gibt es z.B im englischsprachigen Raum genügend Kollegen und „scholars“ die das anders sehen. Für den Forschernachwuchs und das professionelle Netzwerk ist Sasse wahrscheinlich noch als bedeutender zu betrachten als der Militärhistoriker Neitzel. Gerade weil sie als Vertreterin der reinen Forschung auftritt weit weg von populärem TV Trash Talk

    Ich mache mir ehrlich große Sorgen dass dies in Abstimmung geschieht mit ersten Schritten für eine Rückeroberung der Krim. Was eine völlig neue Eskalationsstufe bedeuten würde.
    Dazu auch German-Foreign-Policy heute

    „Das Gerede von der roten Linie“
    https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9125 —————)

    Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ)
    Feuilleton
    05.01.2023, S.11

    Die Krim – annektiert, nicht befriedet

    Dass die russischsprachigen Krimbewohner in Putins Russland „heimgeholt“ werden wollten, ist ein Propagandamythos: Eine Replik auf Reinhard Merkel /
    Von Gwendolyn Sasse

    Der Artikel von Reinhard Merkel „Verhandeln heißt nicht kapitulieren“ (F.A.Z. vom 28. Dezember) fordert mich als lange über die Ukraine forschende Sozialwissenschaftlerin zur Antwort heraus. Merkels Exkurs, der völkerrechtliche Fragen mit persönlichen Gedanken zu politischer Moral verknüpft und in eine politische Forderung an die Ukraine mündet, enthält Falschaussagen über die Ukraine, insbesondere die Krim, die erwähnt werden, als seien sie Fakten.

    In einer ersten Replik hat der Völkerrechtler Helmut Aust dargelegt, dass Merkels Text keineswegs einen völkerrechtlichen Konsens widerspiegelt und durch die Vermengung mit politischer Moral den völkerrechtlichen Diskurs verlässt (F.A.Z. vom 2. Januar). Auch in den sozialen Medien haben Rechtswissenschaftler, Historiker und Journalisten Merkel kritisiert. Leider besteht das Risiko, dass eine kritische Antwort auf eine akademisch verpackte Meinungsäußerung als Pro-Contra-Debatte missverstanden wird und in der Schlussfolgerung mündet, die Wahrheit müsse irgendwo zwischen den beiden Polen liegen. Widerlegbare Falschaussagen stellen jedoch das Gesamtargument infrage.

    In Merkels Artikel spiegelt sich die verbreitete Ansicht, dass die Annexion der Krim zwar nicht rechtens, aber dennoch nachvollziehbar war. Der Autor veröffentlichte bereits kurz nach der Annexion 2014 in der F.A.Z. einen Artikel, der dazu aufrief, „die Kirche im Dorf zu lassen“. Dies entspricht der offiziellen Rhetorik Russlands, der zufolge die Krim historisch schon immer russisch war und von Nikita Chruschtschow illegal 1954 an die ukrainische Sowjetrepublik verschenkt wurde. Die russische Historiographie schlägt einen selektiven Bogen von der – historisch nicht belegten – Taufe von Fürst Wladimir auf der Krim im 10. Jahrhundert, einer Interpretation des Kiewer Reiches als Kern des Russischen Zarenreiches, über die Eroberung der Krim 1783 bis zu ihrer „Wiedervereinigung“ mit Russland 2014. Andere Aspekte der Krim-Geschichte werden ausgeblendet. Dazu gehören die Völkervielfalt auf der Krim, die lange krimtatarische Herrschaft – als Krim-Khanat, später als Protektorat des Osmanischen Reiches, die Deportation des gesamten krimtatarischen Volkes unter Stalin 1944, die Rückkehr der Krimtataren auf die Krim nach 1991 und ihre Ansprüche als indigenes Volk. Auch das vermeintliche „Geschenk“ Chruschtschows ist zu kontextualisieren. 1954, also kurz nach Stalins Tod, war Chruschtschow nicht in der Position für politische Alleingänge. Die Idee des Transfers war seine, er hatte ihn Stalin gegenüber in den Dreißiger Jahren erwähnt. 1953/54 versprach er sich von der Integration der Krim in die administrative Struktur der Ukrainischen SSR auch einen wirtschaftlichen Entwicklungsschub für die Region. Grenzänderungen waren in der sowjetischen Praxis nicht selten.

    Es gab in den frühen Neunziger Jahren eine „Russische Bewegung“ auf der Krim, die für Unabhängigkeit beziehungsweise Autonomie und engere Beziehungen zu Russland mobilisierte. Russlands Präsident Boris Jelzin unterstützte die Bewegung nicht, und ihre führenden Köpfe diskreditierten sich in den Augen der lokalen Bevölkerung, da sie auf sozioökonomische Fragen keine Antworten fanden. Die Frage nach dem Status der Krim war für die Ukraine in jener Zeit die größte territoriale Herausforderung, aber bis zur Ratifizierung der ukrainischen Verfassung von 1996, die einen Kompromiss zwischen dem Unitarstaat und der Autonomen Republik der Krim schuf – eine Autonomie mit begrenzten Vollmachten -, war diese Frage geklärt.

    Die Krim ist in der Tat die einzige Region der Ukraine, in der sich die Mehrheit der Bevölkerung (mehr als sechzig Prozent) in nach ethnischer Herkunft fragenden Volkszählungen als „russisch“ bezeichnet hat. Dennoch sprach sich in einem Referendum am 1. Dezember 1991 eine Mehrheit von 54 Prozent der Teilnehmenden für die Unabhängigkeit der Ukraine aus. Die Zustimmung war geringer als in allen anderen Regionen der Ukraine – aber es war eine Mehrheit. Seit Mitte der Neunziger Jahre glichen sich darüber hinaus in nationalen Präsidenten- und Parlamentswahlen sowie regionalen Parlamentswahlen die Wahlbeteiligung und die Stimmenverteilung auf der Krim den Trends im Süden und Osten der Ukraine an. Damit war die Krim politisch in die Ukraine integriert.

    Ein illegitimes Scheinreferendum

    Merkel zufolge waren die „grünen Männchen“, die im Februar 2014 auf der Krim auftauchten und die Putin später als Sondereinheiten Russlands benannte, eine Antwort auf den Wunsch der lokalen Bevölkerung. Es gab in den Jahren vor der Ankunft russischer Sondereinheiten jedoch keine regionale Bewegung für Unabhängigkeit oder einen Anschluss an Russland. Die Partei von Sergej Axjonow, der im Zuge der Besatzung der Krim an die Spitze der Krim-Regierung gesetzt wurde, verfügte über nicht mehr als drei Sitze im regionalen Parlament. Die Krimbevölkerung wurde wie der Westen und die Bevölkerung Russlands von der Besatzung und Annexion überrascht.

    Merkel bezieht sich auf eine Mehrheit, die sich für die Zugehörigkeit zu Russland aussprach. Das von Russland in Präsenz bewaffneter Einheiten durchgeführte Scheinreferendum am 16. März 2014 entbehrte jedoch jeglicher Legitimität. Bei einer Abstimmung kommt es nicht auf das offizielle Ergebnis, sondern auf die Bedingungen der Abstimmung an. Die oft gestellte Frage, wie die Krimbevölkerung unter demokratischen Bedingungen abgestimmt hätte, ist spekulativ: Wir wissen es nicht und werden es nie wissen. Die Tatsache, dass es nach dem Auftauchen russischer Sondereinheiten und der Option einer Anbindung an Russland auch Unterstützung für letztere gab, ändert nichts daran, dass dies kein freies und faires Referendum war. Die „Abstimmung“ enthielt zwei Optionen: die sogenannte „Wiedervereinigung“ mit Russland und die Rückkehr zur Krim-Verfassung von 1992. Eine Option, für den Status quo zu stimmen, gab es nicht, und die Frage über die Krim-Verfassung von 1992 blieb ambivalent. 1992 waren auf der Krim in den Auseinandersetzungen zwischen Kiew und Simferopol in schneller Abfolge zwei Krim-Verfassungen formuliert worden, die im Anspruch auf Unabhängigkeit unterschiedlich weit gingen. Zudem wurden auf der Krim, anders als von der russischen Regierung behauptet, vor 2014 die Rechte der russischen beziehungsweise russischsprachigen Mehrheit nicht unterdrückt. Zu den begrenzten Autonomierechten gehörte auch eine gesonderte Sprachenregelung.

    Die von Merkel in Bezug auf die Krim vorgenommene Gleichsetzung der in Volksbefragungen generierten Zuordnung als „ethnisch russisch“ mit dem Wunsch, zu Russland zu gehören, ist eine der prominentesten Fehlinterpretationen der Lage auf der Krim und der Diversität im ukrainischen Staat insgesamt. Ethnische und sprachliche Identitäten in der Ukraine sind nicht gleichbedeutend mit prorussischen politischen Einstellungen. Die im Südosten dominanten politischen Parteien waren vor allem ein Konglomerat aus wirtschaftlichen Interessen innerhalb der Ukraine, obwohl sie verkürzt als „prorussisch“ beschrieben wurden.

    Merkel spricht von der Krim ab 2014 als einer „befriedeten Ordnung“ mit „normativer Stabilität“, deren Destabilisierung durch die Ukraine einem Kriegsakt gleichkäme. Menschenrechtsorganisationen, Journalisten und die Forschung über die seit 2014 von der Krim geflohenen Krimtataren haben indes die Repressionen gegen krimtatarische Organisationen und Medien sowie jegliche Opposition dokumentiert. Auch Russlands Siedlungspolitik, die Zehntausende (manche Schätzungen gehen von Hunderttausenden aus) Russen auf der Krim ansiedelte und so die Bevölkerungsstruktur nachhaltig veränderte, passt nicht in Merkels Bild einer „befriedeten Ordnung“.

    Merkel fordert, die Ukraine müsse ihre „konzessionslose“ Ablehnung von Friedensverhandlungen aufgeben. Bei der Herleitung einer moralischen Verpflichtung der Ukraine, ein Ende des Kriegsleidens auf dem Verhandlungsweg anzustreben, bleibt unerwähnt, dass Präsident Wolodymyr Selenskyj in den ersten Tagen nach dem Großangriff am 24. Februar weitreichende Angebote für Verhandlungen gemacht hatte. Selenskyj stellte drei Dinge in Aussicht: eine Rückkehr zur „Kontaktlinie“ im Donbass, eine Vertagung der Krimfrage um fünfzehn Jahre und die Neutralität der Ukraine. Die ersten Verhandlungen zwischen hochrangigen ukrainischen Vertretern und weniger hochrangigen russischen Vertretern in Belarus – auf für die Ukraine keinesfalls neutralem Boden – und in der Türkei blieben ergebnislos, weil Wladimir Putin nicht verhandeln wollte. Seitdem hat sich an diesem fehlenden politischen Willen auf russischer Seite nichts geändert. In regelmäßigen Abständen bedienen Putin, sein Pressesprecher Peskow, Außenminister Lawrow und andere Mitglieder der russischen politischen Elite die Rhetorik von Verhandlungen, ohne konkrete Optionen vorzulegen. Ihre angebliche Verhandlungsbereitschaft ist Teil der innenpolitischen Kommunikation, die den Westen und die Ukraine als Kriegstreiber darstellt. Russlands Politik ist konzessionslos. Die Position der Ukraine hat sich im Verlauf des Kriegsgeschehens mehrfach geändert: von Selenskyjs weitreichendem Angebot in den ersten Kriegswochen über das in Reaktion auf das Ausmaß an Zerstörung in Butscha, Irpin und Mariupol sowie die Rückeroberung von Territorium formulierte Kriegsziel der Befreiung der gesamten Ukraine einschließlich der Donbass-Region und der Krim bis zu der auf Russlands Annexion von vier weiteren Gebieten im Südosten folgenden Entscheidung des ukrainischen Sicherheitsrats und einem Dekret des Präsidenten, keine Verhandlungen mit Putin zu führen. Am 26. Dezember (zwei Tage vor der Veröffentlichung des Merkel-Artikels) schlug Außenminister Dmytro Kuleba vor, Friedensverhandlungen unter dem Dach der UNO, aber zunächst unter Ausschluss Russlands abzuhalten. Die Ukraine verhindert nicht Verhandlungen, sondern hat ihre Position mehrfach an die Kriegsdynamik angepasst.

    Merkels Annahme, dass Zerstörung, Sterben und Repressionen mit einem raschen Kriegsende aufhören würden, ist eine Wunschvorstellung, wie die Realität in den von russischen Truppen besetzten Gebieten der Ukraine seit Februar 2022 deutlich macht. Davon auszugehen, dass Verhandlungen eine „befriedete Ordnung“ schaffen, ist sowohl vor dem Hintergrund der Krim-Annexion und ihrer Folgen als auch mit Blick auf Russlands Kriegsführung in der gesamten Ukraine seit Februar 2022 unrealistisch.

    Es ist derzeit schwierig, die Stimmung der russischen Gesellschaft zu erfassen. Zwar dürfte die durch Umfragen der unabhängigen Lewada-Agentur vermittelte umfassende Unterstützung für den Krieg eher aus der Angst vor Repressionen, Gruppendynamik oder psychologischer Schutzhaltung heraus zu erklären sein. Doch eine passive Akzeptanz oder ein Nicht-wissen-Wollen ist zu erkennen. Neben vereinzelter Opposition gibt es viele Anzeichen für die aktive Replikation der offiziellen Kriegsrhetorik.

    Putins Zukunft hängt am Kriegsglück

    Ein Einlenken Putins ist auszuschließen, seine politische Zukunft und sein historisches Erbe sind mit einem erfolgreichen Krieg verknüpft. Seine Propagandamaschine kann vieles als Sieg darstellen, aber nicht den Verlust der formell annektierten Gebiete oder gar der Krim. Es bleiben zwei Wege, die zu Verhandlungen führen können: Entweder wird die Ukraine durch begrenzte oder abklingende westliche militärische und finanzielle Unterstützung aus einer Position der Schwäche zu Verhandlungen gezwungen, oder Putin wird von politischen Eliten, etwa aus der Armee oder dem Sicherheitsapparat, zur Seite gedrängt, wenn die eigenen Kosten des Krieges als zu hoch angesehen werden. Beide Optionen zeichnen sich derzeit nicht ab, was darauf hindeutet, dass der Krieg noch lange dauern wird.

    Leider verschwimmen die Grenzen zwischen Meinungen über und Expertise zu Osteuropa und zur Ukraine häufig. In (geo)politischen Fragen fühlen sich viele in ganz anderen Fachgebieten spezialisierte Wissenschaftler berufen, ihre Sicht der Dinge kundzutun. Als Sozialwissenschaftlerin und Osteuropaexpertin mit beruflichen und persönlichen Kontakten in der Ukraine wird mir immer wieder schmerzhaft bewusst, welch ein Luxus es ist, ohne Landeskenntnis und Kontakte vor Ort aus der Ferne über das Desiderat Frieden und politische Moral zu philosophieren, während Millionen von Ukrainern an der Front und in den von Russland bombardierten Städten um ihr Überleben und das ihres Staates kämpfen.

    Gwendolyn Sasse ist Wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) und Einstein-Professorin für Vergleichende Demokratie- und Autoritarismusforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Oktober erschien bei C.H. Beck ihr Buch „Der Krieg gegen die Ukraine“.

    1. Und auch die liebe Frau Sasse muss erhebliche Kopfstände machen, um durch Auslassungen einiger wesentlicher historischer Begebenhaiten ihre Position halbwegs haltbar zu machen.
      So unterschlägt sie, dass die Ukraine ja mit einem Vertrag von 1922 den Beitritt zur UdSSR erklärt hat, dieser Vertrag wurde dann im belorussischen Wald von Jelzin und seinen Kumpanen mit der Auflösung der UdSSR wieder gekündigt und die Ukraine wieder selbständig. Dummerweise war die Krim zu der Zeit (1922) nicht Teil der Ukraine (sie kam ja erst durch Chruschtschow hinzu), sie war es dann auch nicht mehr nach der Auflösung der UdSSR und fiel rechtlich gesehen wieder an Russland zurück, da im Auflösungsabkommen der UdSSR keine andere Regelung getroffen wurde, soviel ich weiß – russische Historiker möchten mir die Frage mal detaillierter beantworten, ich kann den Vertragstext nicht auftreiben. Der Anspruch der Ukraine auf die Krim wäre somit illegal.
      Und die nächsten unterschlagenen historischen Fakten sind der Maidan-Putsch, der völkerrechtlich gesehen JEDEN Grund zur Austritt aus der Ukraine gab, und auch die mehrfachen Abstimmungen und gewaltsamen Auflösungen des Krimparlaments durch die Ukraine in den 90ern.
      Und zum Schluss wird noch nicht einmal erwähnt, daß Russland die Krim wohl weniger der Ukraine, als eher noch der US-Flotte vorenthalten hat, die dort schon nach Grundstücken für eine Marineschule neben ihrem neuen Stützpunkt gesucht hat.

      1. Deinen Schlusssatz unterstreiche ich doppelt, Sebastopol wäre für die US-Administration „ein goldener Apfel“.
        Die Sache mit dem Grundstück für einen Marineschule ist mit neu und kann ich kaum glauben.
        Verwundern würde mich so eine Überheblichkeit, Kaltschnäuzigkeit und Unverfrorenheit der Yankees allerdings nicht.

        1. Die Zeitungsannonce (nicht auf russisch) wurde damals etwa 2014 nach dem Maidan als Faksimile in einem Forum gezeigt, das heute wegen der allgegenwärtigen Sperren nicht mehr zugänglich ist, habe mir leider keine Kopie damals gezogen. Als ich das gesehen habe, war ich mir schon ziemlich sicher, daß sich Russland das niemals gefallen lassen würde, so kam es auch.

  13. Kein Wunder dass er der am meisten gefragte Militärexperte in Deutschland ist, er schwimmt ja ganz auf Linie! Nur mit neutraler Analyse hat er nicht viel am Hut (oder Helm) ….
    Erwähnenswert wäre noch, dass der von ihm geleitete Studiengang „War and Conflict Studies“ an der Uni Potzdam mit der Bundeswehr kooperiert.

    Eine sehr lesenswerte Rezension des Buches „Deutsche Krieger“ hat Eckart Conze geschrieben. Hier wird auch die Art der wissenschaftlichen Arbeit und Analyse von Neitzel deutlich.
    https://www.hsozkult.de/review/id/reb-95530

    In einem Interview, veröffentlicht von der Konrad Adenauer Stiftung (bei der er Mitglied des Kuratoriums ist) wird seine Einstellung ebenfalls recht deutlich:
    https://www.kas.de/de/web/auslandsinformationen/artikel/detail/-/content/wir-haben-voellig-verlernt-kriege-zu-lesen

    1. thx for the „Hinweise“ und den Conze-Text, der lesenswert ist.

      Leider, leider hat Conze im aktuellen Kriegsdiskurs wie fast alle seine Kollegen auf mir unerklärliche Weise versagt.
      Ein Phänomen das H/Soz/Kult in seiner Gesamtheit zu betreffen scheint.

      Conze jedenfalls verliert im Falle Russlands komplett die wissenschaftliche Souveränität die noch seine Kritik am Buch von Neitzel auszeichnet.

      Conze am 27.2. z.B. im Tagesspiegel

      „Putin nutzt ähnlich wie Hitler eine wahrgenommene oder zumindest immer wieder beschworene Demütigung seines Landes, um seiner Aggressionspolitik innenpolitischen Rückhalt zu geben. Metaphern wie „Die Ketten sprengen“ fallen einem da ein. Und natürlich gehört auch der propagandistische Rückgriff auf angeblich bedrohte Minderheiten (damals die Sudetendeutschen, heute die Russen im Donbass) zum Repertoire der Aggressionspolitik. Hier verbindet sich Expansionspolitik mit radikalem Nationalismus. “

      Das soll aber keinen abhalten andere Conze-Texte wie obige Rezension zu lesen.

      1. Der Verlust wissenschaftlicher Souveränität in Bezug auf Russland ist mehr als bedauerlich!

        Um aktuelle Einschätzungen zum Konflikt zu bekommen informiere ich mich hauptsächlich bei amerikanischen Veteranen und „nicht Mainstream“ Journalisten. Wer bedauerlicherweise kaum Gehör findet, trotz seines Ansehens, ist der Politikwissenschaftler Prof. John J. Mearsheimer.
        Er hat schon vor Jahren vor diesem Krieg gewarnt, sollte die NATO ihre Osterweiterung vorantreiben…

        Dass dieser Krieg meines Erachtens ein Scheitern der Politik ist, wird zu wenig thematisiert. Es ist einfach zu gemütlich alles auf den „bösen Russen“ zu schieben. Genau wie es anscheinend zu gemütlich ist die enorme Finanzierung und Förderung faschistischer Tendenzen, sowie Korruption zu befürworten oder zu verschleiern.

        Durch die Verlängerung des Krieges werden nur viele weitere Menschen getötet. Selbst das Amerikanische Militär scheint zu wissen, dass es eigentlich keinen Sinn ergibt, aber eine Niederlage einzugestehen (auch seitens der EU) wäre wohl zu viel verlangt. Lieber scheint es ihnen, die jetzige Situation möglichst lange aufrecht zu erhalten und einen WW / Atomkrieg zu riskieren, anstatt diplomatische Verhandlungen zu fördern.

        1. Lesehinweis:

          (re: Historiker „in der Krise“ – mein pers. Urteil, „dicht sind die nicht. Forschung und Struktur einer Disziplin können sich nicht über Nacht ändern. Wenn aber diese vermeintliche Zeitenwende als Paradigma tatsächlich übernommen wird, stimmt etwas grundätzlich nicht)

          „Moscow’s Invasion Of Ukraine Triggers ‘Soul-Searching’ At Western Universities As Scholars Rethink Russian Studies“ :

          https://russialist.org/moscows-invasion-of-ukraine-triggers-soul-searching-at-western-universities-as-scholars-rethink-russian-studies/

          eigene Leseempfehlung:
          „The Tragedy of Ukraine“
          https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110743371/html

          1. „The future is certain; It’s the past which is unpredictable“
            ein altes sowjetisches Sprichwort

            In dem Fall des kanadischen Professors Michael J. Carley zeigt sich, wie es Wissenschaftlern ergeht, die sich sich nicht unterordnen und welchen Einfluss die Ukraine dabei spielt.
            https://covertactionmagazine.com/2022/11/06/american-born-canadian-professor-attacked-by-mainstream-media-for-opposing-nato-narrative-on-ukraine/

            Vielen Dank für die Leseempfehlungen.
            Das „Buch Tragedy of Ukraine“ habe ich bisher nicht gelesen. Ich wurde jedoch aufmerksam darauf durch ein Pushback Interview von Aaron Mate (Grayzone).

            Zu dem Artikel „Moscow’s Invasion…Rethink Russian Studies“ passt das oben genannte Sprichwort. Ich hoffe, dass sich klardenkende Wissenschaftler einschalten…

            1. thx f den Text. Hätte mir sonst nicht die Mühe gemacht zu lesen.

              Das Petro Buch ist halt 100 Euro teuer. Ich habs deshalb aus der Bibl.

              Interessant wird der Vgl sein zu Gwendolyn Sasses Beck-Buch, das Gustav Seibt in der SZ so gelobt hat (unsurprisingly)

              und eine neue Studie, die bei H/Soz/Kult rezensiert wurde:
              „Memory Crash“
              https://www.hsozkult.de/searching/id/reb-117069?title=g-kasianov-memory-crash&recno=1&q=memory%20crash&sort=&fq=&total=24

              1. @xyz
                Da Sie mich kürzlich nach John LaForge fragten und irgendwie schrieben, Sie hätten keinen Kontakt herstellen können:
                Eben hat die zu Büchel sehr aktive Ariane Dettloff, die ich eigentlich beim nächsten Gruppentreffen für Sie fragen wollte, eine ausführliche Mail von Marion Küpker (Friedenskooperative) zu LaForge im Verteiler der örtlichen DFG-VK weitergeleitet.

                Vielleicht sollten Sie sich direkt an Marion Küpker oder auch Ariane Dettloff wenden.

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