Vor anderthalb Jahren bekommt Arno Luik die Diagnose, vor der jeder Angst hat: Krebs. Er schreibt ein Tagebuch: »Rauhnächte«. Ein Rückblick darauf, was ihn genau vor einem Jahr bewegte. Und heute? So wie es derzeit aussieht, hat Luik Glück: Ihm geht es überraschend gut.
Ein Auszug aus Arno Luiks Buch »Rauhnächte«.
21. Dezember 2022
Meine nächste Chemo habe ich – Gott sei Dank! – erst wieder nach den Feiertagen; die Nebenwirkungen sind manchmal schon etwas verstörend, zum Beispiel kann ich nur noch unter Schmerzen meine Zähne putzen: Das Zahnfleisch ist plötzlich hyperempfindlich.
»Du hast tiefe Falten im Gesicht bekommen«, sagt Barbara. Der Bürgerkrieg in meinem Körperinneren zeigt sich immer mehr außen.
24. Dezember 2022
Dieses Weihnachten ist für mich alles anders, auch dies: Zum ersten Mal seit 67 Jahren werde ich über die Feiertage nicht in Königsbronn sein. Selbst als ich in Großbritannien war, in den USA studierte und dort arbeitete, war es mir wichtig, am 24. Dezember daheim zu sein – und das, obwohl ich mit dem ganzen Trubel, Kirchgang, Gesang, Christbaum nichts am Hut, den Weihnachtsbaum irgendwann in den 80ern abgeschafft hatte.
Einmal, ich kam aus den USA, bin ich am 24.12. Punkt 18 Uhr (da ging es bei uns immer mit den Weihnachtsfeierlichkeiten los: Grombierasalad, Soidawirschdla) aufgetaucht, habe bei uns geklingelt, meine Mutter öffnete die Tür, sie kippte (sie hatte mit mir nicht gerechnet) fast um vor Schreckfreude, und ich auch: Ich hatte sie mehrere Monate nicht gesehen, und nun sah sie plötzlich so alt aus … Das war 1980. Meine Mutter war damals gerade 55 Jahre alt. Eine richtig alte Frau. Dachte ich damals.
Weihnachten dieses Jahr?
Barbara und ich sind in Hamburg, es wird sehr ruhig sein, ein paar Spiele, gemütlich, und am Heiligabend/Sonntag gibt es eine Gans.
Für das neue Jahr hoffe ich dies: Das ist so ein Traum/Ziel von mir, dass ich in Königsbronn im April zu einem Festmahl unterm blühenden Kirschbaum einladen kann. Und wir alle dann glücklich & unbeschwert sind.
25. Dezember 2022
Um halb zwei wache ich auf. Ich bin tot. Ich bin erstickt. Ich lebe. Mir ist fürchterlich schlecht, ein Propfen ist in meinem Hals, der mir die Luft zum Atmen nimmt.
Den ganzen Tag über bin ich apathisch, habe nicht mal die Kraft zum Lesen. Auch nicht zum Denken.
Abendessen. Ich sitze vor einem Schälchen Reis. Ich kann nicht. Ich brauche 20 Minuten für ein paar Löffel.
Schmerzen im Bauch.
26. Dezember 2022
In einer Zeitung bin ich gerade auf diesen Sinnspruch des Tages gestoßen: »Lebe jeden Tag deines Lebens, als wäre es dein letzter!«
Was für ein absurder Befehl! Was für ein Unsinnsspruch! Der Satz ärgert mich. Wenn ich ihn ernst nähme – was für ein Stress wäre das? Wo würde ich jetzt sein wollen, was tun müssen? Champagner schlürfen? Was würde ich in den nächsten Minuten erleben, erfahren, machen wollen, tun sollen?
Jetzt ist es 11 Uhr 30, in zwölfeinhalb Stunden würde es vorbei sein. Mein letzter Tag in diesem Leben: Will ich nun – sofort! – in ein Spitzenrestaurant eilen, einen Château Lafite trinken? Oder einfach ruhig dasitzen, ein gutes Buch lesen?
Nein, Quatsch. Es ist, ganz prosaisch, für mich so: Gestern war ich noch mitten im Leben, heute bin ich draußen und sehr real mit dem konfrontiert, was wir alle wissen, die meisten irgendwie verdrängen, ich aber nicht mehr ausblenden kann: dass wir alle sterben müssen.
Das Mistviech in meinem Körper hämmert mir dieses Wissen ja ohne Unterlass in den Kopf: Ich hab dich im Griff!
Und ich würde es gerne anbrüllen: Komm raus, du blödes Viech! Aber das böse Tier denkt nicht daran. Ob Bestrahlung, Chemo es zermürben, erwürgen?
Ich lebe nach dem Prinzip Hoffnung, mir bleibt ja nichts anderes übrig. Lässt dieses Viech mich noch ein Jahr leben, fünf, mit – viel? – Glück vielleicht noch zehn Jahre, 15?
Wie diese Restlaufzeit gestalten? Das ist mir noch nicht klar, obwohl ich so häufig darüber nachdenke: Was, verdammt, will ich noch alles erleben, erfahren, sehen, genießen? Ich weiß es nicht, ich wäre schon so froh, einfach ein paar Stunden, ein paar Minuten, einige Sekunden nicht an dieses garstig Viech denken zu müssen.
Ich lass die Zukunft auf mich zukommen, diese ungewisse Zukunft. Sie kommt ja eh nicht, und falls sie doch kommt, wird sie ohnehin völlig anders sein als erwartet, und vielleicht ist das eine Gnade. Es ist auf jeden Fall tröstlich, nicht zu wissen, was alles auf einen zukommen kann. Ich will mich nicht der Verzweiflung hingeben.
Aber: Die Zukunft, meine Zukunft ist geschrumpft.
Ich versuche, was sehr schwer ist, jeden Morgen in den kommenden Tag mit Unbekümmertheit, sogar Freude zu gehen – obwohl ständig Trauer da ist. Ich habe, so rede ich mir ein, mich an mein Schicksal gewöhnt. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier.
Im Computer klickt es, eine Mail poppt auf von Vincent Klink. Seine Frau ist im Herbst an Krebs gestorben. Auf all meine Fragen, wie es ihm geht, wie er sich fühlt, ob er noch Lust und Freude am aufgebauten Restaurant, diesem gemeinsamen Lebenswerk, hat – dazu hat er geschwiegen. Ich versteh das.
Nun, kurz vor der Jahreswende schreibt er zu einem schwarz-weißen Foto ganz wenig, aber seine wenigen Worte sagen so viel:
Liebe Barbara, lieber Arno,
Euch und mir, allen wünsche ich, dass wir einigermaßen die Spur halten können.
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Arno, ein Weihnachtsblues?
https://www.youtube.com/watch?v=ovhytbQJf_k
Der Link taugt nichts!
Wer verdient an der langen Werbung?
Erst kam Abnehmen wenn man seinen Kaffee richtig trinkt, dann Lidl auch ziemlich lang, bis endlich mal der Song kam. Das ist eine Zumutung
Ich lasse mir auch nicht gern durch sinnlose YT-Videos die Timeline versauen, aber Werbung muss nicht sein! uBlock kann man ganz gezielt einsetzen!
Tja, danke Arno Luik für alles, was ich bisher von Ihnen gelesen habe. Und jetzt weiß ich auch, das Königsbronn einen weiteren “größeren Sohn” nach Georg Elser hat. Ich wünsche allen hier, das wir die Spur eines freiheitlichen wie friedlichen Lebens bei all dem Wahnsinn im Innen wie Aussen halten und verteidigen werden.
Ein Bekenntnisbuch unter vielen. Wie sonst auch ist die Bekenntnisbereitschaft begrenzt. D.h. dass manche Lebensereignisse durchaus nachvollziehbar beschrieben werden und hier ist die Geschichte zu Georg Elser sicher lesenswert. Zumal jemand wie Illies auch in dieser Zeit noch das Ereignis mit Datum nennt, aber nicht den Namen desjenigen.
Leider bleiben aber andere Bekenntnisse aus und bei Arno Luik wartet man vergeblich zu erfahren, wieviele Dosen Comirnaty nötig waren, bis er seine Krankheit entwickelte. Wer braucht Aufklärer, die die wesentlichen Fragen nicht einmal stellen, geschweige denn beantworten?