Dem deutschen Völkchen

Bundestag, Aufschrift "Dem Deutschen Volke".
Dosseman, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Liebe 80 Millionen: So spricht zuweilen der Staat den Souverän an. Er degradiert ihn auf diese Weise zu einer Nummer.

Was wäre eine Regierung ohne Leute, die sie beglücken kann: Mit Gesetzen, Erlassen, Bescheiden und Regeln. Mit tollen Tipps und solidarischen Pflichten, mit Doppelwumms und Dreifachimpfung. Aber wie nennt man diese Leute in Deutschland eigentlich derzeit? An wen genau richtet sich unsere Obrigkeit mit ihren Wohltaten? Nicht an das »Volk«. Das scheint ausgemacht. Es steht zwar noch breit oben am Clubhaus der Volksvertreter: »Dem deutschen Volke.« Aber so spricht kaum jemand.

Die Phrase ist, wenn nicht durch den altertümlichen Dativ, spätestens dadurch diskreditiert, dass die Nazis auch immer mit dem Volk rumhantiert haben. Dass das Volk hier (wie im Grundgesetz) wohl viel eher das »Staatsvolk« im Sinne des Juristen Georg Jellinek meint, neben Staatsgebiet und Staatsgewalt also eine der drei Konstituenten eines Verfassungsstaates ausmacht, ist dann auch egal. Erregung siegt.

Von Untertanen zu Lebewesen

Vielleicht ist der ja auch doof, der verfassungsmäßig organisierte Nationalstaat. Den Polithipstern von links unten ist es wichtig zu betonen, dass coole Kids kein Vaterland haben – offenbar gibt es keine coolen Kids in der Ukraine … schade! Und es ist ja auch nicht ganz verkehrt, dass an der Einteilung der Erdoberfläche in mal mehr mal weniger ethnisch geschlossene Territorialstaaten einige Probleme hängen und dass die Grenzen dieser Entitäten historisch gewachsen sind, nicht in Stein gemeißelt, überhaupt nicht so wichtig und vielleicht sogar tödlich sind (wieder ausgenommen die Ukraine, versteht sich).

Vorerst bleibt es aber dabei, dass alle Leute in diesem Land etwas gemeinsam haben – und sei es die liebevolle Zuwendung ihres Staatsapparates. Das Kind braucht also einen Namen. Nächster Versuch: »Bevölkerung«, »deutsche Bevölkerung«. Was wie ein Vorschlag zur Güte klingt, vorgebracht etwa vom Konzeptkünstler Hans Haacke, lässt leider tief blicken auf das Verhältnis von Politik, Verwaltung und Gesellschaft und wie man sich das in entsprechenden Kreisen so vorstellt. Wir greifen ganz kurz zu Foucault.

Als Michel Foucault in seinen Vorlesungen der späten 1970er Jahre die Herausbildung dessen, was wir heute unsere liberale Gesellschaft nennen, untersuchte, stieß er auf die zentrale Rolle der »Population«, also der Bevölkerung. Der sich im 18. Jahrhundert formierende moderne Staat begreift, so stellt er fest, seine Untertanen, die bis dahin vor allem als steuerzahlende (und rekrutierbare) Subjekte auftraten, zunehmend als Lebewesen, also Wesen, die biologischen Prozessen und Gesetzen unterworfen sind, die man feststellen und die man beeinflussen kann.

Im Steuerungsraum der Verwaltung

Im Gegensatz zum »Volk«, das die in einem Staat lebenden Menschen als politische Einheit begreift, nimmt die »Bevölkerung« die gleichen Leute als Summe aller lebenden, sterbenden, gebärenden, arbeitenden und konsumierenden Menschen in den Blick, misst ihre Produktivkräfte, ihren Reichtum, ihre Stimmung, ihre Triebe. Daraus ergibt sich, folgert Foucault, eine andere Art der Machtentfaltung. Er nennt sie Bio-Macht. Während das Volk zuvor nur von seinem Souverän beherrscht wurde, wird nun zunehmend eine Bevölkerung durch ihre Regierung gesteuert – und wird es bis heute.

Man sollte nämlich nicht meinen, dass sich diese Entwicklung mit der Einrichtung moderner Demokratien erledigt hätte. Im Gegenteil, die Kontraste treten nur noch schärfer hervor: Das Volk wählt, bestimmt, von ihm geht Souveränität aus. Die Bevölkerung wird befragt, vermessen, vermehrt und manchmal umgesiedelt. Das Volk hat einen Willen, die Bevölkerung eine Meinung. Das Volk ist Subjekt der Politik, die Bevölkerung ist Objekt der Verwaltung.

Dass sich wohlmeinende Glieder dieser Bevölkerung nun selbst so angesprochen wissen wollen, lässt nichts Gutes ahnen für die politische Kultur. Leider entspricht es den Tatsachen: Die Ersetzung politischer Partizipation durch medial administrierte Inklusion greift allenthalben um sich. Der Regierung passt das gut und sie fördert diese Tendenz nach Kräften. In einem Propaganda-Tweet zum Energiesparen wandte sich das Bundeministerium für Wirtschaft und Klimaschutz kürzlich an die Deutschen als »Liebe 80 Millionen.« Deutlicher kann man die beschriebene Veradministrierung (hässlich, aber nötig) der Beziehung von Obrigkeit und Bevölkerung nicht zum Ausdruck bringen. Die ehemals politisch bedeutsame Einheit ist zur diskreten Menge im Steuerungsraum der Verwaltung herabgesunken.

Spartipps für 84.079.811

Immerhin zeigen sich hier auch schon die Grenzen dieser Sprache: »80 Millionen« ist schlicht falsch. Es sind (Stand: 30.6.22) 84.079.811 und ändert sich ständig. Wo es drauf ankommt, wird man diese Veränderung registrieren und einkalkulieren. Aber im Tweet, wo es um darum geht, die Volksmenge mit kitschigen Filmchen und zynischen Spartipps zu versorgen, passt das nicht, würde irritieren und verwirren. Wie aber dann sprechen und ansprechen?

Der Griff zur (sehr groben) Rundung deutet ein Dilemma an. Er offenbar eine Spracharmut, wenn es gilt, diese Leute, die hier leben und leiden in ihrer Gesamtheit zu adressieren. Das – und nicht irgendeine Überfremdung – geht an die Substanz des deutschen Volkes, des Volkes als der Menge aller Menschen, die sich hier in diesen Landen selbst regieren wollen.

Ob die Deutschen Kids wieder ein Vaterland brauchen, darüber darf man geteilter Meinung sein. Derzeit sollen sie sowieso erstmal eine Waffenschmiede haben. Aber auch wem das Vaterland mit gutem Grund schwer aufstößt, sollte sich bei aller Kritik am Kollektiven, nicht der Illusion hingeben, dass in der schick progressiv daherkommenden Atomisierung des Sozialen das Heil liegt. Divide et impera galt seit je auch nach innen.

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11 Kommentare

  1. https://www.wissen.de/bildwb/ludwig-xiv-was-bedeutete-die-maxime-der-staat-bin-ich

    Der Staat bin ich
    … und diese Aussage hat sich nicht geändert. Das (pseudo)demokratische Stimmvieh wählt (?) sich alle vier Jahre seine Herrschaft, Tyrannen und Ausbeuter selbst.
    Diese wiederum befriedigen zumindest ansatzweise ihre pekunäre und geltungsgetriebene Habgier nach ihrem besten Wissen und, falls vorhanden, Gewissen.
    Erscheint mir in dieser Form der realistische, faktenbasierte Gesellschaftsvertrag.

  2. Leider werden die materiellen Existenzprobleme der Menschen, die auf deutschem Territorium wohnen, durch klarere Begriffe nicht gelöst. So notwendig klare Begriffe sind, wie ich selbst feststelle bei inhaltlich erforderlicher Verwendung eines Namens für das staatstragende Subjekt : Staatsvolk, Volk, Bevölkerung, Bewohner… . Kommt alles vor. Auch deshalb halte ich eine politische Orientierung auf die Verbesserung realer Lebensumstände für wichtiger als das Auswalzen dieser oder ähnlicher Fragen. Es ist sch… egal, welchen Nationalitätsstatus ein Bewohner dieses Staates derzeit hat. Weder vom Mindestlohn noch von 502 € Bürgergeld noch von 449 € als Regelbedarf oder 364 € Flüchtlingshilfe kann sich ein Mensch auf deutschem Territorium kleiden, essen UND in einem persönlichen Raum vor Kälte und/oder Zudringlichkeit schützen.
    Die übliche staatliche Übernahme der Kosten der Unterkunft für weniger bemittelte ist in allen angesprochenen Fällen eine direkte Unterstützung der Wohnraumspekulation. Sobald die Unterbringung von Flüchtlingen rentierlicher ist als die Behausung der seit längerem hier Lebenden werden letztere in der aktuellen Lage früher oder später zunächst zu Wohnungslosen, dann möglicherweise/wahrscheinlich zu Obdachlosen. Ohne die Frage nach Berechtigung und Grenzen privaten/persönlichen Eigentums lässt sich kein einziges reales Problem lösen.
    Es ist müßig über “höhere” Begriffe zu diskutieren. Dass dies alle wissen, die derzeit auf die Straße gehen, bezweifle ich.

    1. @Christa Meist

      Sehe ich ganz genauso zumal ich derzeit noch weniger als ein ALG 2 Empfänger erhalte – der Staat isr fein raus, denn wie schon gesagt – egal ob Biodeutschen oder Eingebürgerter bzw. hier schon lange lebender ausländischerstämmiger Mensch bzw. hier geborene und aufgewachsene ausländische Mitbürger ohne deutsche Staatsangehörigkeit – im Fall von Sozialleistungsbezug ist Mensch nichts mehr wert und gehört nicht mehr zur Mehrheitsbevölkerung Deutschlands.

      Man kann froh sein wenn man dann – in- und außerhalb der Familie -: auf hilfreichende Mitmenschen trifft, aber man wird durch die Ausgrenzung und die Behörden schwerstverletzt

      Gruß
      Bernie

  3. Zunächst einmal zu mir, damit man Folgendes besser versteht. Ich bin derzeit “befristet vollständig erwerbsgemindert” also Rentner.

    Da meine Rente viel zu gering ist – weniger sogar als ALG 2 – habe ich aufstockende Grundsicherung beantragt und werde vom “Sozialamt für Sozialhilfe und Flüchtlinge” zusätzlich finanziell unterstützt.

    Im Juni sollte ich alle Änderungen melden, dem ich nachkam und zusätzlich die geringfügige Rentenerhöhung dieses Jahr auch noch – da ich etwas für nicht richtig halte wollte ich den Änderungsbescheid der Behörde abwarten damit ich damit einen Sozialrechtsanwalt aufsuchen kann.

    Der Brief der Behörde kam und kam nicht also rief ich letzte Woche an und – oh Wunder – erreichte den zuständigen Behördenmitarbeiter sofort, was keine Selbstverständlichkeit ist, wie ich aus früheren Erfahrungen weiß.

    Seine lapidare Antwort auf die Frage wo der Änderungsbescheid den bleibe “ich bin wegen der ukrainischen Flüchtlinge nicht dazugekommen den Fall zu bearbeiten” –
    bin ich sauer, was verständlich ist.

    Man zählt als Mensch zu den Flüchtlingen bzw. ist sogar weniger wert als diese ist man hier auf Grundsicherung angewiesen wenn man alt und krank ist.

    Schönes Deutschland,, in den Mensch angeblich gut und gerne lebt, dass hier geborene und aufgewachsene Menschen, die sich nie etwas zu Schulden kommen gelassen haben, sie im Fall von Grundsicherung behandelt als wären sie frisch eingewandert bzw. gehören sie nicht mehr zum “deutschen Volk”.

    Damit man mich richtig versteht ich habe nichts gegen jegliche Hilfe für geflohenen Menschen nur etwas gegen das “teile und herrsche” zwischen Asyl beantragenden Menschen, ukrainischen Flüchtlingen und Biodeutschen durch unsere Staatsdiener bzw. Behördenmitarbeiter. Das ist ungerecht, aber leider derzeit Praxis in deutschen Sozialbehörden.

    Ja ich weiß, auch Hartz iv Empfänger gehören nicht mehr zu Deutschland, wenn es nach deutschem Mainstream und Behördenmeinung geht, und das vom ersten Tag der Arbeitslosigkeit bzw. des Sozialleistungsbezuges an. Das sollte jeder Betroffene wissen auch für AfD und Pegida sind wir nur sozialer Abschaum.

    Zynische Grüße
    Bernie

  4. Der Begriff für “das Volk”, der seit Merkel auffiel und seit dem fast durchgehend verwendet wird, ist “die Menschen”. Sie hat es von Erich übernommen, aber der gebrauchte stets “unsere Menschen “. Der neue Begriff ist eine Steigerung der Befremdung, hat aber den Vorteil, von “die Rinder” oder “die Tiere” unverwechselbar abzugrenzen.

  5. Zu den Spartipps unserer “Eliten” bzw. Politiker oder der Mainstream-Medien will ich berichten, dass mir dieser Tage Spartipps zum Thema Stromsparen beim Wäsche waschen, ebenso wie die Gegenrede, anderer bzw. oft auch derselben Mainstream-Medien, dazu einfällt. Auch beim Duschen mit Kaltwasser gibt es Befürworter und Gegner, auch in den Mainstream-Medien.

    Mal so gesagt, die Ärzte freuen sich über neue PatientInnen, sollte man krank werden, weil man sich der “Ampel”-Regierung, und den Mainstream-Medien, als “Untertan” (Zitat: Heinrich Mann) korrekt verhält.

    Das sparen beim Wäsche waschen kann Bakterien in die Waschmaschine bringen, wenn man wie empfohlen alles auf 30 Grad wäscht, und die Legionellenkrankheit beim Duschen entsteht wenn man beim Wasser keine 60 Grad hat…..wie schon oben erwähnt, die Spartipps und die Gegenrede kam oft sogar vom selben Mainstream-Medium…..

    Aha?!

    Hat da wohl jemand aufgepasst?

    Und warum schweigt unser Gesundheitsminister über die gesundheitlichen Gefahren des Sparzwanges wegen Putin?????!!!!!

    Wir haben also nur die Wahl zwischen verhungern oder physisch krank werden?

    Widerstand gegen diese “Volksverdummung” (Zitat mein Vater zu seinen Lebzeiten noch) ist also höchst angesagt – es geht auch um unsere Gesundheit Leute!

    Gruß
    Bernie

  6. Es ist nicht nötig, ein Fan von Foucault zu werden, um zu bemerken, daß technokratische Verwaltungen des Volkskörpers auf der Grundlage von Verrechtlichung jeder Lebensäußerung eines Untertanen PLUS Aneignung aller Reproduktionsquellen mit der singulären Ausnahme der Lohnarbeit, des Unternehmergewinnes und des Dienstgehaltes, eine Verstaatlichung der Leiber zum Resultat haben. Marx hat die Geschichte dieser Machtentfaltung, die zum größten Teil erst nach seinem Tod stattfand, leicht mißverständlich, aber völlig sachgerecht, “allgemeines Gesetz der kapitalistischen Akkumulation” genannt.
    Richtig doof wird es aber, wenn ein Autor solch eine Erkenntnis – wohl mehr ein Gefühl? – in ein persönliches Dilemma übersetzt, an wen er sich mit seinen Produkten denn nun wenden kann und will, und es vermittels einer Veröffentlichung zu sozialisieren trachtet.
    Schon wahr, die Mehrheit der Autoren in diesem Land – und ich zähle die Verfasser von Forumskommentaren mit – wenden sich spontan, naiv, einfach vermittels des Umfanges, in welchem Verstaatlichung der Leiber eine Verstaatlichung des Sprechens und Schreibens einbegreift, in ihren Texten direkt oder indirekt an die Volxverwaltung – wovon sich Kai Preuß mit gewählter Prosa in gefühlten 250 Zeilen distanziert.
    Danke, Preuß, aber bitte nicht mehr davon, es hat mich mehr als genug Lebenszeit gekostet.

  7. Also sind 4.079.811 Bürger dieses Landes schon abgeschrieben. Wer ist hier gemeint?
    Diese Tafeln der 80 Millionen stoßen ständig übel auf und mir wird klar, dass ich entweder eine Zahl in den 80 Millionen bin oder zu den Rest gehöre.
    Je mehr ich darüber nachdenke, dieses Land ist nur noch eine Verwaltungsmasse eines Gesichtslosen Volkes.

  8. Ich kann alldem nicht recht folgen………..

    Als VERBRAUCHER wird man hierzulande ständig adressiert, und zwar auf penetrant von oben herab beinahe demütigende Art und Weise. Und dabei klingt es immer so, als seien diejenigen, die berichten, die sprechen, die sich an mich als VERBRAUCHER wenden, nicht selbst ebensolche VERBRAUCHER………
    Lässt dieses Wort vom VERBRAUCHER nicht noch viel tiefer blicken als es die oben genannten Worte tun?!

    Mich persönlich kotzt das jedenfalls an.

    Verwirrte, ehrliche und leicht zynische Grüße,
    k.

  9. Mich nerven die meisten Kommentare. Was soll das Gejammer bringen? Was ändert es?
    Es gilt doch erst einmal festzustellen, dass der Staat, so wie er konstruiert ist, von den allermeisten Deutschen für richtig gehalten wird. Die Verfasstheit des Staates, beinhaltet aber die ganzen hier bejammerten Verwerfungen, es wird sogar mitgemacht indem, Nationalismus hochgehalten wird. Dagegen das deutsche mit an dem treiben die Verarmung voranzutreiben wird kaum was unternommen, es sind Kröten, die einfach geschluckt werden. Wenn die Armen anderer Länder sich auf den Weg gemacht haben, um was zum Essen zu organisieren, stehen die Armen auf, um den Geflüchteten das Grausen beizubringen, damit sie wieder abhauen. Hierbei bauen sie auf den Staat, der dafür sorgt, dass sie arm bleiben. Die Armut muss sein, damit denen, die in Lohn und Brot sind, sehen können, was sie erwartet, wenn sie für Rechte kämpfen.
    Das klappt gut, als Ventil soll es alle 4 Jahre die Möglichkeit geben andere Unterdrücker zu wählen. Für die Berieselung zahlen sie dann auch GEZ.
    Es gibt Möglichkeiten innerhalb des bestehenden Systems Änderungen herbeizuführen.
    https://docplayer.org/77700791-Beitragen-statt-tauschen.html

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