70 Jahre alt und 42 davon in Haft: Mumia Abu-Jamal

Mumia Abu-Jamal

Mumias Fall ist „ganz normal“ für die USA: symptomatisch für alles, was an der Todesstrafe kritisiert wird: Rassismus, Klassismus, Politisierung der Justiz.

Herzlichen Glückwunsch, Mumia! 70 Jahre, ein runder Geburtstag, 70 Kerzen, wie groß muss da der Kuchen sein, Geschenke gibt es keine, aber viele Briefe, viele Postkarten, viele Demonstrationen, Lesungen, Blumensträuße, die anderswo als bei dir überreicht werden. Mit Presse, damit es auch alle mitbekommen können. Heute ein Brief an die Botschafterin deines Landes in Berlin, Ambassador Amy Gutmann, die wie du aus Philadelphia kommt. Und eine Kundgebung vor ebendieser Botschaft am Brandenburger Tor.

Mumia Abu-Jamal wird heute 70 Jahre alt, und unbegreifliche 42 davon hat er im Gefängnis verbracht. Er war ein junger Mann von 27 Jahren, als er verhaftet wurde, er war grade 28, als er ein halbes Jahr später in einem nur 14 Tage dauernden Prozess zum Tod verurteilt wurde – für den Mord am Polizeibeamten Daniel Faulkner, den er nicht begangen hatte.

Wie kann man das überleben? Wie kann man da bei Verstand bleiben? Wie kann man da nicht verbittern, verzweifeln und verkümmern? Es ist ein Wunder, irgendwie, und es ist tröstlich, irgendwie – Mumia ist nicht nur bei Verstand geblieben, sondern er inspiriert seit Jahrzehnten mit seinen Kolumnen, die wohlinformiert und scharfsinnig die Weltlage analysieren und die dennoch die Vision der Möglichkeit von Gerechtigkeit für alle aufrecht halten.

Seit 25 Jahren arbeiten wir für seine Freiheit, und oft schon ist uns der lange Atem vorübergehend abhanden gekommen. Das ist zu lang für immer dasselbe – und trotzdem kann man ja nicht einfach aufhören. Und besinnt sich dann immer wieder drauf: Wenn er so lang durchalten kann, dann können wir das auch.

In unserem Interview für die deutsche Übersetzung seiner „Texte aus dem Todestrakt“ haben wir ihn gefragt, woher er die Vorstellungskraft für seine Themen nimmt. Seine Antwort: „Es gibt immer etwas in der Welt, das einen inspiriert und das einen neugierigen Geist entzückt. Und ich habe diesen neugierigen Geist noch. Ich hatte noch nie einen Mangel an Themen, über die ich schreiben wollte.“

Abu-Jamals Verhaftung und Verurteilung schlugen bei allen, die ihn damals gut kannten, gewaltige Wellen der Erschütterung – zu unwahrscheinlich war der kaltblütige Mord, der ihm vorgeworfen wurde, vollkommen unvorstellbar bei einem, der so unerschütterlich und überzeugt friedfertig war, dass seine Freunde ihn schon als Jugendlichen immer „UNO“ genannt hatten wegen seiner ewigen aufreizend geduldigen Vermittlung bei allen Streitigkeiten.

Sein Fall wurde schließlich weltweit bekannt, weil Mumia besonders ist und sein Fall gleichzeitig „ganz normal“ für die USA: symptomatisch für alles, was an der Todesstrafe kritisiert wird: Rassismus, Klassismus, Politisierung der Justiz. Sein Verfahren war so abenteuerlich und offensichtlich unfair, dass Amnesty International ihm später einen seiner seltenen persönlichen Berichte widmete. Wäre das Ganze ein Film, würde man den Plot als klassenkämpferische Plattitüde abwinken.

Der Richter machte sich keine Mühe, seine Parteilichkeit zu verbergen; eine Stenografin hörte ihn schon am ersten Prozesstag im Hinterzimmer sagen: „Ich werde der Anklage helfen, den Nigger zu grillen.“

Polizei- und Sicherheitsbeamte sagten aus, Abu-Jamal, der in der Tatnacht selbst lebensgefährlich verletzt worden war, habe die Tat im Krankenhaus gestanden und geschrien „Ich habe auf das Schwein geschossen und ich hoffe, das Schwein stirbt!“ Dieses „Geständnis“ war ihnen allerdings erst volle zwei Wochen später eingefallen.

Ihre Aussagen waren nachweislich gelogen; orchestriert hatte sie offenbar kein anderer als der Staatsanwalt, dem der Richter auf die bereits erwähnte Art behilflich sein wollte.

Wir wissen längst auch, dass die einzigen beiden Zeugen, die behaupteten, Abu-Jamal als Täter identifizieren zu können, die Tat gar nicht gesehen hatten.

Zudem behaupteten sie gemeinsam mit einem dritten angeblichen Zeugen, der Abu-Jamal nicht identifizieren wollte, einen Tathergang, der physisch unmöglich ist: der klassische Fall einer abgesprochenen Zeugenaussage.

Abu-Jamals Verteidigung wurden die Mittel verwehrt, sich dieser Übermacht entgegenzustellen; qualifizierte Fachleute hätten die genannten, scheinbar schwer belastenden Aussagen mühelos demontiert.

Aber die hatte Abu-Jamal nicht. Er hatte nur einen völlig überforderten Pflichtverteidiger, und als er deshalb wiederholt und rechtlich zulässig den Beistand eines Dritten verlangte, nahm der Richter dies zum Vorwand, ihn von über der Hälfte seines eigenen Prozesses auszuschließen.

Der Staatsanwalt erinnerte die Jury verfassungswidrig an Abu-Jamals radikalen Aktivismus als jugendliches Mitglied der Black Panther Party, um ihn als Gefahr für die Gesellschaft hinzustellen. Und was die Jury selbst betraf, waren in einer zu 40 Prozent afroamerikanischen Stadt nur zwei von zwölf Mitgliedern Schwarze – vor allem deshalb, weil der Staatsanwalt systematisch für den Ausschluss von schwarzen Geschworenen gesorgt hatte.

Und so weiter und so weiter und so weiter.  Dennoch bekam Abu-Jamal nie einen neuen Prozess.
Zwar wurde sein Todesurteil 2001 aufgehoben, aber es erst 2011 gab die Staatsanwaltschaft ihren Widerstand dagegen auf. All diese 29 Jahre verbrachte Abu-Jamal im Todestrakt. Nach seiner Zeit in der Todeszelle gefragt, sagte dieser eloquente Mann, der in der Haft Tausende von Kommentaren zum Zeitgeschehen und ein Dutzend Bücher verfasst hat: „Es gibt keine Worte dafür, es gibt keine Worte dafür, es gibt keine Worte dafür. Keine Worte.“

Heute hat er Geburtstag. Wir haben ihn gefragt, wo er noch immer Freude findet und seine Träume. Und seine schlichte Antwort: „Ich habe immer viele Träume gehabt. Einige davon haben sich nicht verwirklicht. Einige überraschenderweise aber doch. Niemand weiß, was die Zukunft bringen wird. Und irgendwelche Prophezeiungen zu machen, ist nicht mein Fall. Also hoffe ich, gesund zu bleiben, irgendwann frei zu sein und meine Zeit mit meiner Familie, irgendwo als Lehrer zu verbringen.“

Die Freiheit kommt nirgendwo leicht, die Ausdauer eine Vision zu bewahren bleibt eine Herausforderung – und wenn er das kann, in seiner Lage, dann können wir das auch. Oder?

Unsere Webseite: www.freiheit-fuer-mumia.de

Der Fall: www.dropthecaseagainstmumiaabujamal.com

Lesungen können gebucht werden bei Annette Schiffmann anna.schiff@icloud.com

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12 Kommentare

  1. Mumias politische Bedeutung wird immer übersehen. Die neu amtierende Reagan-Regierung wollte einen Grenzpfosten in die Erde hauen und das ist ihr mit Mumia gelungen. Zuvor hatten Bürgerbewegungen durchaus erfolgreich versucht, die rechtlose Lage der Schwarzen zu verbessern. Mumia markiert den sichtbaren Endpunkt dieser Entwicklung und das Urteil war wohl genau so gedacht. Die ganze Zeit, in der er rechtswidrig festgehalten wurde, diente zur Demonstration der Dominanz der Rechten in Justiz und Gesetzgebung.
    Was dann genau so weiter ging: die Republikaner bekamen schlichtweg alle, was sier wollten. Die Privatisierung der Gefängnisse, die Übernahme der „broken window“-These, die auch kleinste Vergehen mit Strafen versieht. Oder „three strikes and you are out“. Und natürlich uneingeschränkter Waffenbesitz. Wenn das so gekommen wäre, wie die Republikaner das versprochen hatten, dann wären die USA jetzt eine Oase der Verbrechensfreiheit und der bürgerlichen Ruhe. Wahrscheinlich bin ich nicht der Einzige, der dort etwas anderes sieht. Die wenigen Jahre, in denen eine Resozialisierung der Gefangenen angestrebt wurde, sind so etwas wie das Goldene Zeitalter der Kriminalstatistik. Private Gefängnisse hingegen wollen das, was jeder Privatbetrieb zum Ziel hat: dass seine Kunden wieder kommen.

    Dem Mumia bitte ausrichten: es sei ein Glückwunsch aus Deutschland gekommen. Er wünscht Gesundheit und doch noch Freilassung.

  2. Ja das ist die Welt in der wir leben, soviele einzel Schicksale die jeder Demokratie unwürdig sind.
    Deutschland lebt auch unwürdig, schafft sich ab, zahlt alles, unterstützt alles und wenn man Kritik an der vorgebenen Haltung wahrnimmt, ist man plötzlich Nazi/Querdenker etcppff.
    Lebt man nicht selbst in einem offenen Gefängnis?

    1. Doch, schon. Aber ist dieser Freigang nicht vortrefflich? Vielleicht braucht es ja dieses Gefängnis, für wen oder was auch immer. ICH verweise an dieser Stelle auf ein wunderbares Buch von Adelheid „Heidi“ Kastner, dessen Buchtitel mir dummerweise entfallen ist. Aber es soll auf der DuTube einen sehr schönen Vortrag von ihr geben, etwa 1 Stunde. Wer sucht, der findet schon.

      1. Die ‚Röhre‘ tue ich mir nur ganz selten an, von daher danke für den Tipp. Zu dem Freigang, treffliche Beschreibung, kann ich mich dazu äussern, da ich meinen Freigang anderen Ortes verlegt hatte.
        Mein Herz ist und bleibt deutsch, deshalb schreibe ich, um des deutschen Sein.
        Der Grund für den Austritt aus der offenen Anstalt, liegt einfach darin, daß ich keine Anstalten mag. Nach vollendeten 17 Jahren aus dieser Anstalt, sehe ich ‚Freiheit‘, nicht in der politischen Sphäre, jedoch im menschlichen täglichen zusammenleben!
        Eines ist jedoch gewiss, WIR werden nicht in eine bessere Welt, frei von kapitalistischen Denken, kommen. Wir sind dazu verdammt, diesen kapitalistischen Gesamtschaden mitzutragen, egal wo der Mensch sich befindet. St. Corona der heilige Patron vom Kapital hat gesprochen…

    2. @PRO1
      „Deutschland lebt auch unwürdig, schafft sich ab,“

      Deutschland schafft sich ab?
      So auch der Buchtitel des Rechten Sarazins.
      Vom Fall Höcke gelernt: Anzeige ist raus!
      😉

  3. 1975 wurde Glynn Simmons wegen eines Raubüberfalls verurteilt, nachdem eine Zeugin ihn belastet hatte – zu Unrecht. Nach 48 Jahren im Gefängnis wurde der 71-Jährige für unschuldig erklärt.

    Ohne zu googlen: Erratet mal die Hautfarbe…

    Oder

    1953 wurde der Teenager Joe Ligon zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Jetzt, 68 Jahre später, wurde er aus dem Gefängnis entlassen. Der 83-Jährige muss sich nun in einer völlig neuen Welt orientieren.

    Ohne zu googlen: Erratet mal die Hautfarbe…

    Danke an die Schiffners. Habe schon einige Male von ihnen Artikel zu diesem Fall gelesen. Ich kann mir vorstellen, dass es wahrlich nicht leicht ist, so lange an einer Sache dran zu bleiben. Nein, falsch, ich kann es mir eigentlich nicht vorstellen.

    Ach ja, in Guantanamo sitzen sie auch schon 20 Jahre -ohne Verfahren!. Man hofft wohl auf eine biologische Lösung. Vermodern im Käfig. In Deutschland ist diese Käfighaltung verboten-für Hühner.

  4. Weshalb Julian Assange auch nicht so genau weiß, ob er vielleicht doch besser für die Todesstrafe sein sollte…
    „70 Jahre alt und 42 davon in Haft: Mumia Abu-Jamal“

  5. Das Justizsystem der USA ist wie das gesamte politische System, vermodert, korrupt und rassistisch. Da hilft auch kein BLM und kein Wokeismus. Am Beispiel der Indianer sieht man das genauso gut, wie an dem der Schwarzen. Da darf man nicht Neger sagen, doch jemanden 42 Jahre unschuldig weg sperren, der schwarze Hautfarbe hat. Da darf man nicht Indianer sagen, aber raubt ihnen noch heute ihr Land. Da darf man nicht Latino sagen, doch beutet sie gnadenlos aus. Und das Land ist der Leuchtturm der Freiheit. Fragt sich nur: Freiheit für wen? Für die fünf Milliardäre, die 10 Medienmogule, die 1000 Establishment-Politiker?

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