Zum Begriff der Lyrik bei Adorno

Max Horkheimer (links) und Theodor Adorno (rechts) im April 1964 (rechts hinten Jürgen Habermas). Bild: Jjshapiro/CC BY-SA-3.0

 

Adornos Begriff der Lyrik reiht sich in sein Verständnis des Grundverhältnisses von Herrschaft und Emanzipation ein. Er bedient sich einer komplexen Sprache, aber der Erkenntnisertrag lohnt die Mühe der Lektüre.

 

Adorno hat bekanntlich sein berühmt gewordenes Diktum von der Unmöglichkeit einer Lyrik nach Auschwitz in späteren Jahren, wenn nicht ganz zurückgenommen, so doch merklich revidiert. „Das perennierende Leiden“, heißt es in der Negativen Dialektik, „hat soviel recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben.“

Gleichwohl artikuliert Adorno unmittelbar darauf seinen nicht mehr wegzudenkenden Zweifel am klassisch-aufklärerischen Begriff von Kultur angesichts der im Holocaust nunmehr manifest gewordenen Regression in die Barbarei: alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, sei letztlich „Müll“. Das – wenn auch nur indirekt – dennoch entnehmbare Plädoyer für die mit der Schmach des Verrats besuhlte Kultur versteht sich daher als eine notwendig zu treffende Entscheidung im Rahmen einer ansonsten unauflösbaren Aporie:

„Wer für Erhaltung der radikal schuldigen und schäbigen Kultur plädiert, macht sich zum Helfershelfer, während, wer der Kultur sich verweigert, unmittelbar die Barbarei befördert, als welche die Kultur sich enthüllte. Nicht einmal Schweigen kommt aus dem Zirkel heraus; es rationalisiert einzig die eigene subjektive Unfähigkeit mit dem Stand der objektiven Wahrheit und entwürdigt dadurch diese abermals zur Lüge.“

Vieles kommt hier zusammen: Das Bewusstsein der Ohnmacht paart sich mit dem hoffenden Glauben, dass sich doch noch alles zum Besseren wenden möge; das Wissen um einen „universellen Verblendungszusammenhang“ weiß sich dem „jäh Aufblitzenden, in dem das Mögliche die eigene Unmöglichkeit überfliegt“, verschwistert. Adorno geht dabei aus von einer dialektischen Auffassung des Verhältnisses von Emanzipation und Unterdrückung, eines Verhältnisses, das vor allem durch die zivilisatorisch zunehmend gesteigerte Naturbeherrschung bestimmt ist, wobei die somit bewirkte Entfremdung von der äußeren Natur unweigerlich auch den Verrat an der eigenen – inneren – Natur zeitigen muss.

Das entfremdete Verhältnis von Mensch und Natur schlägt um in Selbstentfremdung bzw. in die Entfremdung des Menschen vom Mitmenschen. Angezeigt ist demnach das im neuzeitlichen Subjekt-Diskurs angelegte, problematische Grundverhältnis von herrschendem Subjekt und beherrschtem Objekt. Dass dabei reale soziale und politische Herrschaftsverhältnisse mit dem erkenntnistheoretischen Problem der instrumentellen Vernunft und des verdinglichten Denkens einhergehen, kann hier nur angedeutet werden.

Hervorgehoben werden sollten allerdings zwei gravierende Momente: Zum einen wird Ideologie als „Unwahrheit“, „falsches Bewusstsein“, als „Lüge“ begriffen; zum anderen wird Kunst als Gegenbegriff der Ideologie verstanden: Kunstwerke, sagt Adorno, „haben ihre Größe einzig daran, daß sie sprechen lassen, was die Ideologie verbirgt. Ihr Gelingen selber geht, mögen sie es wollen oder nicht, übers falsche Bewußtsein hinaus“. Von daher auch seine Feststellung: „Großen Kunstwerken […], die an Gestaltung und allein dadurch an tendenzieller Versöhnung tragender Widersprüche des realen Daseins ihr Wesen haben, nachzusagen, sie seien Ideologie, tut nicht nur ihrem eigenen Wahrheitsgehalt unrecht, sondern verfälscht auch den Ideologiebegriff.“

Das lyrische Gedicht als die utopisch-emanzipatorische polare Entgegensetzung zur totalen Integration

Es mag kein Zufall gewesen sein, dass Adorno gerade das Gedicht zum Paradigma einer gegenüber der Auschwitz-Barbarei ohnmächtig gebliebenen Kultur erhob. Denn insofern, wie es bei ihm heißt, „in den Lagern nicht mehr das Individuum starb, sondern das Exemplar“, der nazistische Völkermord mithin „die absolute Integration“ vollstreckte, versteht sich das lyrische Gedicht als die utopisch-emanzipatorische polare Entgegensetzung zur nämlichen totalen Integration: „… die Versenkung ins Individuierte erhebt das lyrische Gedicht dadurch zum Allgemeinen, da es Unentstelltes, Unerfaßtes, noch nicht Subsumiertes in die Erscheinung setzt und so geistig etwas vorwegnimmt von einem Zustand, in dem kein schlecht Allgemeines, nämlich zutiefst Partikulares mehr das andere, Menschliche fesselt.“

So besehen, geht es beim Gedicht um ein Ich, „das in Lyrik laut wird“, ein Ich, das als solches sich „dem Kollektiv, der Objektivität“ entgegensetzend bestimmt und ausdrückt. Es muss freilich betont werden, dass die so begriffene Objektivität nichts von vornherein Gegebenes, sondern ein historisch Gewordenes, also durch menschliche Praxis Entstandenes darstellt. So versteht sich denn für Adorno die „Idiosynkrasie des lyrischen Geistes gegen die Übergewalt der Dinge“ als eine Reaktionsform auf die Verdinglichung der Welt, konkreter noch: der Welt als „Herrschaft von Waren über Menschen, die seit Beginn der Neuzeit sich ausgebreitet, seit der industriellen Revolution zur herrschenden Gewalt des Lebens sich entfaltet hat“. Diese bürgerliche Welt wird allerdings dialektisch aufgefasst: Sie befördert einerseits „die Erhöhung des befreiten Subjekts“, betreibt aber andererseits auch „dessen Erniedrigung zum Austauschbaren, zum bloßen Sein für anderes“.

Dies bedarf einer Klärung: Die Entgegensetzung von Subjekt und Objektivität bzw. von Individuum und Gesellschaft basiert auf der Auffassung einer wesentlich repressiven Geschichte der Zivilisation. Sie betrifft keineswegs das Utopische bzw. emanzipatorisch Anzustrebende. Wenn also Adorno postuliert, dass nicht bloß der Einzelne in sich gesellschaftlich vermittelt sei, nicht bloß seine Inhalte immer zugleich auch gesellschaftlich seien, sondern dass umgekehrt auch die Gesellschaft nur vermöge der Individuen, deren Inbegriff sie ist, sich bilde und lebe; wenn er darüber hinaus davon ausgeht, dass „in jedem lyrischen Gedicht das geschichtliche Verhältnis des Subjekts zur Objektivität, des Einzelnen zur Gesellschaft im Medium des Subjektiven, auf sich zurückgeworfenen Geistes seinen Niederschlag“ gefunden haben müsse – so bezieht sich das aufs repressive Bestehende, auf die historisch gewordene, herrschaftlich strukturierte Gesellschaftsordnung.

In den höchsten lyrischen Gebilden aber ermöglicht sich, so Adorno, die „Selbstvergessenheit des Subjekts“; es ist ein Subjekt, das „der Sprache als einem Objektiven sich anheimgibt“, ein Subjekt, bei dem „die Unmittelbarkeit und Unwillkürlichkeit seines Ausdrucks“ dasselbe seien – womit denn die Sprache Lyrik und Gesellschaft im Innersten zu vermitteln vermöchte.

Das will freilich wohlverstanden sein: „Der Augenblick der Selbstvergessenheit, in dem das Subjekt in der Sprache untertaucht, ist nicht dessen Opfer ans Sein“, hebt Adorno bestimmt hervor: „Er ist keiner der Gewalt, auch nicht der Gewalt gegen das Subjekt, sondern einer der Versöhnung: erst dann redet die Sprache selber, wenn sie nicht länger als ein dem Subjekt Fremdes redet, sondern als dessen eigene Stimme.“

Eine Versöhnung ist also potentiell möglich – nicht nur im Sinne der Vorbedingung einer „Vermenschlichung“ der Natur, sondern durchaus im Sinne einer wesenhaften Negation besagten Widerspruchs zwischen Subjekt und fremdbestimmt fungierender Gesellschaft: „Im lyrischen Gedicht negiert, durch Identifikation mit der Sprache, das Subjekt ebenso seinen monadologischen Widerspruch zur Gesellschaft, wie sein bloßes Funktionieren innerhalb der vergesellschafteten Gesellschaft.“

Eines bleibt dabei für Adorno freilich unabdingbar: Das lyrische Gedicht „wird um so vollkommener sein, je weniger das Gebilde das Verhältnis von Ich und Gesellschaft thematisch macht, je unwillkürlicher es vielmehr im Gebilde von sich aus sich kristallisiert“. Nicht also die deklarative Reflexion über das Thema, sondern vielmehr die mit innerer Notwendigkeit vollzogene Anordnung seines Materials macht die Kunst des Gedichtes aus und eliminiert somit die Gefahr zweckhafter Verdinglichung und fremdbestimmter Ideologie.

Lyrische Auseinandersetzung mit dem Faschismus?

Unter diesem Gesichtspunkt stellt sich denn auch die Frage über die Darstellbarkeit des Faschismus bzw. der Möglichkeit einer lyrischen Auseinandersetzung mit ihm. Kann es noch eine Form geben, in der das Grauen einer Eliminierung des Individuums durch die gleichschaltende Massenveranstaltung des Faschismus seinen adäquaten Ausdruck findet? Ist es überhaupt möglich, die als Zivilisationsbruch nach weltgeschichtlichem Maß begriffene Katastrophe der totalen Integration des Menschen in Auschwitz, seiner systematisch betriebenen Erniedrigung zum „Exemplar“, dem Wesen dessen, was geschah, gemäß darzustellen?

Eine eindeutige Antwort hierauf im Sinne Adornos kann es wohl kaum geben angesichts seines eigenen aporetischen Denkens. Gleichwohl mag gerade ein Meisterwerk wie Celans „Todesfuge“ das Argument fürs Festhalten am „jäh Aufblitzenden“ der „lyrischen Idee“ gegenüber der universalen Verblendung durch Repräsentation bzw. der zunehmend heteronom ideologisierten Praxis der Erinnerung abgeben.

Zwar blieb das Maß, das Celan setzte, in der deutschsprachigen Lyrik nach 1945 die Ausnahme; und manche Lyriker mochten auf eine explizite Thematisierung des „Verhältnis[ses] von Ich und Gesellschaft“ gerade im Blick auf die Katastrophe nicht verzichten. In diesem Sinn verstießen sie zwar gegen die Forderungen, die Adorno an das Gedicht stellte; zugleich zehrten sie jedoch von seiner Überzeugung, dass gerade der lyrischen Gattung ein genuines Widerstandsvermögen gegen den Verblendungszusammenhang eigne.

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