Positionierung gehört zur politischen Kultur ideologischer Kontroversen. Zwei Lieder aus der Vergangenheit zum Vergleich.
Die im Rahmen der DDR-Singebewegung gegründete Vereinigung “Oktoberklub” nahm im Jahre 1967 das Lied “Sag mir, wo du stehst” auf. Es gilt als erfolgreichster Song dieser Bewegung, was nicht zuletzt seinem markanten Charakter geschuldet sein dürfte: Schon der in Titel und Refrain eindringlich artikulierte Imperativ kreist das im Lied angesprochene Du ein und zwingt ihm das Bekenntnis zum richtigen bzw. die Absage an den falschen Standort auf. Das (offenbar kollektiv zu verstehende) Sprechsubjekt ist sich der Evidenz seiner historischen Fortschrittsperspektive ganz und gar gewiss, die Aufforderung zur wahrhaftigen Positionierung fällt entsprechend selbstbewusst und bestimmt aus.
Es ist davon auszugehen, daß sich “Sag mir, wo du stehst” vom 1931 in den USA entstandenen Song “Which Side Are You On?” inspiriert worden ist. Den Text schrieb Florence Reece, deren Ehemann Sam Reece Gewerkschafter der United Mine Workers in Harlan County, Kentucky, war. Während des erbitterten Arbeitskampfes mit den Minenbesitzern wurde die Familie des Gewerkschaftlers vom örtlichen, mit der Bergbaugesellschaft verbandelten Sheriff J.H. Blair und seinen Leuten terrorisiert. Die nach der Flucht ihres vorgewarnten Mannes mit den Kindern zurückgebliebene Florence schrieb den Text nach gewaltsamen Einschüchterungsaktionen seitens der Bande des Sheriffs. Der Song, der eine traditionelle Baptisten-Hymne als melodische Grundlage verwendet, sollte zur musikalisch-poetischen Ikone des Arbeitskampfes weltweit avancieren. Vor allem durch Pete Seegers Interpretation in den 1960er Jahren, aber auch durch die anlässlich des britischen Bergarbeiterstreiks von 1984-85 textlich veränderte Version von Billy Bragg gewann er kultischen Rang.
Worin unterscheidet sich aber das DDR-Lied vom amerikanischen Song und seiner britischen Abwandlung? Worin variiert die ihnen gemeinsame Agitationsemphase? Sowohl in “Which Side Are You On?” als auch in “Sag mir, wo du stehst” geht es unverhohlen um Gesinnungsbekenntnis. Während aber der Text von Florence Reece und Braggs Modifakation sich mit der Darstellung konkreter Leiderfahrung und dem von dieser abgeleiteten Empörungspathos befaßt, mithin mit der Notwendigkeit, sich gewerkschaftlich zu organisieren, verharrt der DDR-Song weitgehend im Abstrakten.
Reece schreibt im Namen ihres Ehemannes “My daddy was miner and I’m a miner’s son”; die Positionierung wird historisch konkret gefasst: “They say in Harlan County there are no neutrals there / you’ll either be a union man or a thug for J.H. Blair”; und emphatisch wird beschworen: “Don’t scab for the bosses don’t listen to their lies / us poor folks haven’t got a chance unless we organize.”
BillyBragg geht schon in der Eingangsstrophe ans politisch Eingemachte: “This government had an idea / The Parliament made it law / Seems like it’s illegal / To fight for the Union any more”; und beschließt nach Darstellung der Grausamkeit der etablierten Kräfte seinen Song mit dem Gelöbnis: “Well, I’m bound to follow my conscience / And I’ll do whatever I can / But it’ll take much more than the Union law / To knock the fight out of a working man.”
Demgegenüber heißt es im DDR-Song etwas schulmeisterlich: “Du gibst, wenn du redest, vielleicht dir die Blöße / Noch nie überlegt zu haben, wohin / Du schmälerst durch Schweigen die eigene Größe – / Ich sag’ dir, dann fehlt deinem Leben der Sinn!”; und im Schlußvers geht es gar um unannehmbare Verstellung und rechtens eingeforderte Wahrheit: “Wir haben ein Recht darauf dich zu erkennen / Auch nickende Masken nützen uns nichts – / Ich will beim richtigen Namen dich nennen / Und darum zeig mir dein wahres Gesicht.”
Berühmt geworden ist Marxens Diktum: “Die Deutschen haben in der Politik gedacht, was die anderen Völker getan haben.” Die Denkabstraktion lag ihnen wohl besser als die revolutionäre Tat. Das Paradoxon: Im kapitalistischen Amerika und in Thatchers Britannien ergab sich die agitatorische Praxis aus dem real gelebten Klassenkampf. In der realsozialistischen DDR blieb davon nur noch der abstrakte Gesinnungskampf übrig. Wo man hegemonial zu stehen hatte, war den allermeisten klar; die eigene Praxis durfte nicht mehr hinterfragt werden. Man mag sich aber heute wieder nach jenem rhetorischen Gesinnungskampf sehnen. Denn historisch gesiegt haben – vorläufig! – die anderen.
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