Von der Erinnerung vergangenen Grauens

Auschwitz. Bild: C.Puisney/CC BY-SA-3.0

Das ideologische Interesse – und nicht das Andenken an das wirkliche Grauen – ist es, was die Fetischisierung des „historischen Traumas“ der Shoah in Israel antreibt, aber auch die Perpetuierung der „Kollektivschuld“ der Deutschen

Ausschnitt aus einem Dokumentarfilm über den Holocaust: Der deutsche Soldat trennt die Mutter von ihrem kleinen Sohn. Sie wendet sich zur einen Seite, das Kind zur anderen und schaut seiner Mutter nach. Plötzlich kehrt sie zurück, versucht verzweifelt, zu ihrem Sohn zu gelangen, aber der Soldat verjagt sie, trennt mit Gewalt die Mutter vom Kind.

Das Herz bricht beim Anblick der Bilder, die Kehle schnürt sich zu, Tränen benetzen die Augen. Warum rufen die darauffolgenden Bilder des Grauens – Leichenberge, entstellte Körper, Skelette – keine ähnliche emotionale Reaktion, sondern die eines paralysierenden Schocks hervor?

Möglich, dass die Antwort hierauf im Unterschied zwischen dem erregenden und dem lähmenden Grauen liegt. So entsetzlich es an sich sein mag, birgt das erregende Grauen noch ein Stück Leben in sich; ein „dramatischer“ Moment im Dasein von Mutter und Kind, ehe sie selbst zu Leichen werden und auf den Haufen toter Körper, deren Massentod ihre Merkmale als lebende Wesen ausgelöscht und sie des Rests ihrer Individualität beraubt hat, geworfen werden.

Man kann sich mit einer Leiche nicht identifizieren, sondern nur mit dem, was sie war, bevor sie zur Leiche wurde – mit dem vormaligen Individualleben. Während aber die individuelle Leiche noch die nachmalige Projektion auf ihr vormaliges Leben, dessen sie beraubt worden ist, zulässt, verunmöglicht der Massentod, der dem Einzelmenschen die extreme Anonymität des Todes aufoktroyiert, noch den letzten Rest an Identifikation. Der Leichenberg ruft das Lähmungsgefühl hervor, weil er jeder Basis der Identifikation entbehrt: das lähmende Grauen kodiert äußerste Entfremdung.

Die Perfektion der industrialisierten Massenvernichtung ruft die Entfremdung emotionaler Reaktion hervor

Die Shoah umfasste all diese Erscheinungen: das Drama der Mutter, des Kindes und des deutschen Soldaten sowie die Berge entstellter Leichen. Insofern sie aber ihren Kulminationspunkt in der Perfektion der industrialisierten Massenvernichtung erreichte, ihr Wesen sich in der bürokratisch-administrativen Anonymisierung des Todes manifestierte, ruft sie unweigerlich die Entfremdung emotionaler Reaktion hervor, paralysiert den Einzelnen, der sich einer monumentalen Monstrosität massivsten Ausmaßes, der Unsäglichkeit einer allumfassenden Inhumanität ausgesetzt sieht. Die Gefühlsregung, Rettungsring des Einzelmenschen, versäumt mutatis mutandis zwangsläufig das Wesen des Holocaust.

Ein beklemmender Gedanke: Und wenn sich die Bestürzung angesichts des Grauens der dokumentarischen Szene, die sich zwischen der Mutter, dem Kind und dem deutschen Soldaten zuträgt, nicht von der Bestürzung angesichts einer „ähnlichen“ Szene aus einem inszenierten Kinofilm unterscheidet? Was, wenn wir erst durch Kinofilme gelernt hätten, uns bei „solchen Szenen“ zu entsetzen?

Selbst wenn man annähme, dass dem so sei, besteht zwischen beiden augenscheinlich ähnlichen Formen ein wesentlicher Unterschied, der die einfache isomorphe Analogie zwischen ihnen infrage zu stellen vermag. Das Ende der Kinofilmszene kann sich den gesamten Prozess ihrer Produktion hindurch ändern; das Happy-End ist eine reale Möglichkeit in jedem Moment ihrer bis ins Detail gestalteten Entstehung.

Hingegen ist das entsetzliche Ende der realen geschichtlichen Begebenheit von vornherein bekannt (bzw. es kann mit allergrößter Wahrscheinlichkeit erahnt werden). Ihre Tragik ist keine dem Autor offen überlassene kompositorische Option, sondern unabwendbares Resultat des allerschlimmst Vorgegebenen. Man kann ihr nicht entrinnen. Das Grauen, das uns angesichts des historischen Geschehens packt, wurzelt in einer gewissen, die historische Dokumentation durchdringenden Gefühlskonstellation: dem Aufscheinen eines atavistischen Entsetzens in Verbindung mit dem Bewußtsein der Allmacht einer historischen unumkehrbaren Ohnmacht.

Die Historisierung des Geschichtsereignisses bringt es mit sich, dass seine Erinnerung zum Ritual verkommt

Was besagt das für die Rezeption durch die nachfolgenden Generationen? Was sollen jene, die dem Begriff der „Kollektiv-“ bzw. „vererbten Schuld“ abschwören, mit Konzeptionen wie „historisches Trauma“, „kollektives Gedächtnis“ oder „nationale Trauer“ anfangen? „Die zweite Generation“ – ein an sich prekärer Begriff – nimmt noch in gewisser Weise an der grauenhaften Erfahrung der Elterngeneration teil.

Die Generation der Kinder der „zweiten Generation“ sieht sich bereits gezwungen, die Leidensgeschichte der ersten Generation zu entdecken, aber ihre Anteilnahme zeichnet sich bereits durch Abstraktion der Vergangenheit aus, mag sich auch die Entdeckungserfahrung selbst als ein authentisch-emotionales Erlebnis erweisen. Der Abstraktionsprozess vertieft sich in den folgenden Generationen nach und nach, bis das Geschichtsereignis mit all seinen Erlebnis- und Erfahrungsdimensionen zur „Geschichte“ mutiert, um es mit Reinhard Koselleck zu sagen.

Die Historisierung des Geschichtsereignisses bringt es zwangsläufig mit sich, dass sein Andenken zum Kult, seine Erinnerung zum Ritual verkommt. Sobald diese ihre kollektive politische Funktion (als Teil einer instrumentalisierten Vergangenheit) verlieren, verblaßt auch die immanente Bedeutung des Geschichtsereignisses.

Entideologisierung des Shoah-Gedenkens

Ein säkularer Mensch in Israel kann heute nicht mehr allen Ernstes den „Untergang des zweiten Tempels“ betrauern; auch dem religiösen Menschen ist er nunmehr zum Fetisch eines über Generationen vererbten Kultes, zur rituellen Abstraktion einer formalisierten, mechanisch rezipierten Erbschaft geronnen. Wohl stimmt es, dass sich das Geschichtsereignis als eine Matrix von Signalen erhält, die Reaktionen bei nachkommenden Generationen  zu aktivieren vermag; nur handelt es sich dabei gemeinhin um von der Gegenwart auf die Vergangenheit projizierte Regungen, nicht, wie es scheinen mag, um nachmalige Regungen von Vergangenem, die sich der Gegenwart gleichsam „in Erinnerung rufen“ wollen.

Die bewusste Erhaltung der Matrix als Projektionsfläche kollektiver Erinnerung, als Kult und Ritual, ist ihrem Wesen nach ideologisch. Das ideologische Interesse – und nicht das Andenken an das wirkliche Grauen – ist es, was die Fetischisierung des „historischen Traumas“ der Shoah in Israel antreibt, nicht minder aber auch die Perpetuierung der „Kollektivschuld“ der Deutschen, gar deren „vererbte Schuld“.

Von selbst versteht sich, dass Versuche von Deutschen, sich von dieser „vererbten Schuld“ kraft eines rituell gezogenen „Schlussstrichs“ zu lösen, kaum weniger ideologisch sind, als die in Israel vorwaltenden rituellen Tendenzen, sie zu fixieren. Die Befreiung von einem gewissen deutschen Hang zum „Schlussstrich“ wie auch die von der israelischen Neigung, die „vererbte Kollektivschuld“ erhalten zu wollen, sind einzig durch die Entideologisierung des Shoah-Gedenkens zu erlangen. Von der Notwendigkeit, sich des fetischistischen Charakters der Erinnerung und deren rituellen Grundlagen zu entledigen, ist hier die Rede, wenn man will: vom Versuch, das, was Vergangenheit war, objektiv zu erfassen.

Ähnliche Beiträge: