Tschaikowskys „Pathetique“

Warum klatscht das Publikum nach dem dritten Satz?

Tschaikowskys sechste Sinfonie „Pathetique“ besteht aus vier Sätzen: einem ersten Satz in der Sonatenform, der vor allem im Durchführungsteil vor dynamischer Rasanz und emotionaler Aufgewühltheit strotzt; einem zweiten graziösen Satz, der sich wie ein Walzer ausnimmt, aber im ungewohnten 5/4-Takt gehalten ist; einem dritten energischen Satz, in dem ein eindringliches Marschmotiv dominiert, welches in einem lautstarken, kraftvollen Schluß kulminiert; und – überraschend – einem langsamen, wehklagenden Finalsatz, der angemessen mit „Adagio lamentoso“ überschrieben ist. Dieser Aufbau verblüfft, denn es gilt als höchst unüblich, daß eine Sinfonie in der klassisch-romantischen Tradition in einem langsamen, zudem von bedrückendem Schmerz getragenen Satz ausklingt.

Nun ist man aber nicht selten mit der Erscheinung konfrontiert, daß das Publikum – entgegen der ungeschriebenen, gleichwohl stets eingehaltenen Regel, daß man erst nach Beendigung des musikalischen Werks applaudiert – im Fall der „Pathetique“ bereits nach dem dritten, also vorletzten Satz in stürmischen Beifall ausbricht, der nach wenigen Sekunden von einem „korrekten“ Teil des Publikums erdrosselt wird. Was drückt dieses „tabubrechend“ applaudierende Publikum eigentlich aus? Handelt es sich um eine Bande Philister, die wirklich nicht wissen, daß das Werk einen weiteren Satz enthält? Oder geht es um den Ausbruch authentischer Begeisterung über das stürmische Ende des glänzend orchestrierten, rhythmisch rasanten und melodiös so eindrücklichen vorletzten Satzes? Und wenn dem so wäre, haben wir es mit einer beabsichtigten Manipulation seitens Tschaikowskys zu tun – einer kompositorischen Falle, die er dem der Sinfonie in fetischistischer Hingabe lauschenden Publikum absichtlich gestellt hat?

Oder wissen etwa die Zuhörer, was sie nach diesem Satz, der in theatralischem Pathos voller Lebensfreude und erregtem Elan zu Ende geht, erwartet, und sie möchten ihr Verlangen gerade nach diesem „Ende“ und nicht nach der bedrohlichen Todesbotschaft des letzten Satzes und der ihm innewohnenden depressiven Hinnahme dessen, womit man sich letztlich nicht abfinden kann, „bevor es zu spät ist“, bezeugen? Vielleicht zeigen gerade sie mit dem an der falschen Stelle aufbrausenden Beifall ihren Widerstand gegen das an, was sie erwartet, etwas, dem sie nicht werden entkommen können, ohne daß sie sich deshalb schon damit abzufinden vermöchten? Möglicherweise schließt das eine das andere gar nicht aus: Erweisen sich nicht die allermeisten Menschen bei ihrem Lebensentwurf und im unbewußt-routinierten Angesicht des Todes als fähige „Philister“? Und dennoch – wer erklärt mal den voreilig Beifall Klatschenden, daß Tschaikowskys „Pathetique“ erst mit dem vierten Satz zu Ende geht und daß man sich in seltenen Momenten, wenn eine wirklich außergewöhnliche Aufführung dargeboten wird, des Beifalls nach Ausklang des Werkes enthalten darf, um in besinnlicher Stille zu verharren.

Ist es überhaupt angängig, so zu denken? Darf man die Rezeption eines Kunstwerks mit derlei befrachten? Überliefert ist, daß eine Wiener Dame nach der Uraufführung einer Sinfonie von Beethoven auf den Komponisten zuging und ihrer Erregung über das gerade Erlebte emphatischen Ausdruck gab. Und er – kein allzu höflicher Mensch im Umgang mit anderen – grummelte: „Werteste, Ihre Sentimentalität geht mich nichts an.“ Selbst wenn es sich um Erfundenes handeln sollte, enthält die Anekdote einen Wahrheitskern. Beethoven erwartete wohl, daß die Dame ihren Enthusiasmus zügelt, solange sie das Werk in seiner Komplexität, seiner Mehrschichtigkeit und der architektonischen Logik seiner Ästhetik nicht wirklich erfaßt hat. Das konnte unmöglich unmittelbar nach der Uraufführung einer Beethoven-Sinfonie passiert sein. Seine barsche Antwort indizierte, daß er ernst genommen werden und sein Werk nicht nach dem oberflächlichen Eindruck des ersten äußeren emotionalen Effekts rezipiert wissen wollte.

Aber war das eine legitime Erwartung? Gerade ein Beethoven, der die unterkühlte Eleganz der Klassik revolutionierte und die musikalische Romantik mit all ihren Affekten, Erregungen und Überreiztheiten historisch einläutete – gerade er durfte wohl kaum davon ausgehen, daß das Publikum bei der Aufnahme seiner Werke Distanz bewahren, geschweige denn, sich taktischer Indifferenz befleißigen werde. Die Eruptionen Beethovens sind in seiner Musik angelegt; es gibt keinen Grund anzunehmen, daß sie den Zuhörer unbeteiligt lassen werden, wenn er sich erst einmal auf sie eingelassen hat. Das, was das Werk (als Autonomes) beim Rezipienten an Affekten auslöst, ist dem Werk zwar durch seinen Schöpfer eingegeben, aber der Schöpfer kann darüber hinaus keinen Einfluß auf die Aufnahme des von ihm Erschaffenen ausüben. Die Autonomie des Werks impliziert zwar ein unantastbares An-sich, zugleich aber auch eine dieser Autonomie entspringende Verselbständigung der Wirkung und weiterführenden Rezeption des Werks. Dabei mag die Intention des Künstlers verraten werden. Er hat eben keine Handhabe darüber, wie seine Schöpfung aufgenommen und erfahren wird. Bekannt ist Brechts Gram über seine Erfahrung, daß der von ihm eingesetzte Verfremdungseffekt letztendlich versagte – das Publikum wollte nicht nur „verstehen“, sondern sich auch von der künstlerischen Darbietung emotional „anrühren“ lassen und ja – seine Begeisterung und Dankbarkeit für das Dargebotene enthusiasmiert kundtun.

Als also Beethoven seine Zuhörerin wissen ließ, daß ihre Sentimentalität ihn nicht interessiere, hätte sie ihm, wenn sie mutig genug dazu gewesen wäre, antworten dürfen, daß es für sie von keinem Belang sei, ob er sich für ihre Gefühle seinem Werk gegenüber interessiere oder nicht. Das Werk gehöre ihm als sein Schöpfer, nicht aber dessen Wirkung auf die Rezipienten. Diese gehört einzig ihnen, und ob sie das Werk dabei adäquat rezipieren oder nicht – es gibt ja mehrere mögliche Erlebnisebenen der Rezeption –, ist einzig ihnen überlassen. Auch Brecht hätte sich darüber klar werden können, daß das Publikum dem Werk etwas abverlangt, das über dessen intellektuelle Aufnahme hinausgeht. Dies meinte wohl auch Brechts Freund, Walter Benjamin, als er schrieb, die Masse verlange vom Kunstwerk „etwas Wärmendes“, einen „Komfort des Herzens“, der die Kunst „zum Gebrauche qualifiziert“.

Hat dies alles etwas damit zu tun, daß das Publikum bei der Aufführung der sechsten Sinfonie von Tschaikowsky zuweilen nach Beendigung des dritten Satzes des Werks – entgegen dem Konzertusus – in begeisterten Applaus ausbricht? Schwer zu sagen. Von Tschaikowsky wird es kaum gewollt gewesen sei. Seine sinfonische Botschaft ist klar. Es wird auch kaum nur fetischistischer Automatismus der begeisterten Reaktion nach musikalischer Rasanz sein. Vielleicht ist es doch der unbewußte Widerstand des Publikums gegen das, was sich in der „Pathetique“ mitteilt, Tschaikowskys letztem Werk, dessen Uraufführung wenige Tage vor dem Tod (und möglichen Selbstmord) des Komponisten stattfand.

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