Rosa Luxemburg und die Tiere

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Rosa Luxemburgs Tierliebe ist bekannt. Sie war mitnichten nur anekdotisch, sondern machte einen integralen Bestandteil ihrer revolutionären Emphase aus.

 

In der Erörterung des Verhältnisses des Menschen zur Natur, insbesondere zu Tieren, sah sich das marxistische Denken von jeher einem theoretischen wie praktischen Dilemma ausgesetzt. Einerseits galt es, die Produktivkräfte zu entfalten, um die Bedürfnisse der Menschen befriedigen zu können, mithin den Fortschritt so zu fördern, dass der gesellschaftlich generierte fundamentale Mangel überwunden werde. Die materiellen Voraussetzungen für den jeweiligen Stand der Produktionsmittel waren dabei zwangsläufig an Naturbeherrschung gebunden.

Es gibt keine Zivilisation, die nicht an Naturbeherrschung gebunden wäre. Sich diesem Zwang zu entwinden, war ein utopisches Ziel der Marxschen Philosophie, wobei damit freilich das „Reich der Freiheit“ des Menschen gemeint war, nicht aber eine völlige Loslösung von der zivilisatorisch generierten Naturbeherrschung. Andererseits – das muss komplementär zur stets fortschreitenden Entfaltung der Produktivkräfte gedacht werden – postulierte das marxistische Denken auch die mögliche Versöhnung von Mensch und Natur. Denn gerade der zivilisatorische Fortschritt hatte über Jahrtausende zwangsläufig zur zunehmenden Entfremdung des Menschen von der Natur, mithin zur ausgreifenden Ausbeutung und Schändung der Natur geführt, welche im modernen Zeitalter zur globalen katastrophenträchtigen Bedrohung gerann.

Horkheimer und Adorno haben dem in geraffter Formulierung beredten Ausdruck verliehen: „Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“

Dialektik der Aufklärung

Horkheimer und Adornos „Dialektik der Aufklärung“ verstand sich vor allem als eine über das die Geschichte der menschlichen Zivilisation durchwirkende Moment der Herrschaft abzulegende Rechenschaft. Herrschaft geht dabei vom Menschen, wirkt sich aber auch vermittelt auf den Menschen aus: Die Beherrschung der äußeren Natur mündet notwendig in die Beherrschung der inneren des Menschen, welche als solche – gesellschaftlich – die Herrschaft von Menschen über Menschen zeitigen muss. Es geht bei diesem Paradigma um Zivilisationsgeschichte als Herrschaftsgeschichte: Der vom fundamentalen Mangel ausgehende Naturzwang macht den Menschen zum Gefangenen seiner eigenen Überlebensstrategie, er muss die Natur beherrschen, um sich zu erhalten; die notwendige Naturbeherrschung lässt den Menschen indes zum invaliden Herrscher werden. Denn die Selbstbeherrschung, Voraussetzung aller Kultur, bedeutet nicht nur individuellen Triebverzicht, sondern tendenziell auch die Herrschaft über andere.

Auf das politische Moment dieser Entwicklung hat Norbert Elias hingewiesen: Die sublimierende Verfeinerung von hoher Kultur in der Neuzeit Europas ging mit der Herausbildung von Herrschaftseigenschaften einher – die kultivierte Zähmung von Leidenschaften meinte immer auch die Weitsicht, Planung und Kalkulation ermöglichende Selbstbeherrschung.

So besehen war Naturbeherrschung stets mit diversen Formen dessen verbunden, was Horkheimer als „instrumentelle Vernunft“ apostrophiert hat. Die auf Beherrschung ausgerichtete, somit instrumentell eingesetzte Vernunft ist dabei insofern „blind“, als sie keinen wesentlichen Unterschied macht zwischen den heterogenen Objekten der Beherrschung: Beherrscht werden können Naturressourcen (Boden, Wasser, Luft), Menschen (durch Machtausübung oder Arbeitsteiligkeit), Geist und Ästhetik (durch Zensur, Ideologie und Normierung), das Selbst (in Form gesellschaftlich vermittelter Selbstbeherrschung) oder die der zivilisatorischen Herrschaftslogik unterworfenen Tiere.

Bemerkenswert ist dabei, dass, insofern sich die Ideologie der gegen die Tiere verübten Gewalt (auch die religiös begründete) bis in die späte Moderne hinein aus der unabweisbaren Realität einer unter fundamentalem Versorgungsmangel leidenden Gesellschaft erklärte, dieses ökonomische Strukturmoment spätestens im Zeitalter des Spätkapitalismus, zumindest in der westlichen Welt, überwunden wurde, und doch zeitigte dies keinen wesentlichen Wandel im allgemeinen Mensch-Tier-Verhältnis. Im Gegenteil, gerade im Zeitalter, in dem der gewaltdurchwirkten Ausbeutung von Tieren die reale Grundlage ihrer historisch gewachsenen Notwendigkeitsideologie objektiv abhanden zu kommen begann, ging diese jahrtausendealte Ausbeutung durch fortschreitende Industrialisierung in die brutale Phase ihres rabiatesten, systematisch durchorganisierten Exzesses über.

Horkheimers berühmt gewordene Metapher, in der er die Gesellschaft einem Wolkenkratzer verglich, dessen Dach einer Kathedrale, sein Keller aber einem Schlachthof gleichgesetzt wird, hat, so besehen, einen pronociert modernen Gegenstand zum Inhalt, nämlich den des monopolistischen Kapitalismus. Dass dabei die Ausbeutungskette zugunsten der Bewohner der oberen Stockwerke bis in die tiefsten Etagen des Gebäudes reicht, die private Aneignung gesellschaftlicher Arbeit also Not und Elend weltweit millionenweise krepierender Ausgebeuteten in den unsichtbaren Niederungen der Gesellschaft zur Voraussetzung hat, steht noch in bester Marxscher Tradition. Neu ist aber, dass Horkheimer mit dem Schlachthofmotiv die Tiere mit in die Kette der Ausgebeuteten einbezieht.

Was diesem Erkenntniszusatz zugrunde liegt, ist nicht nur humane Empathie für die geschundene Kreatur, nicht nur moralische Entrüstung über die ausbeutende Quälerei von Tieren, sondern etwas, das sich der Einsicht in die zivilisationskritische Logik der „Dialektik der Aufklärung“ verdankt. Denn wenn die Herrschaft des Menschen über den Menschen der Beherrschung der inneren wie der äußeren Natur verschwistert ist, dann unterliegt die Ausbeutung des Menschen und des Tieres derselben Strukturlogik, wie denn die industrielle Verwertung der Tiere mit derselben Logik korrespondiert, die den alljährlichen Hungertod von Millionen Menschen in einer Welt ermöglicht, in der objektiv – gemessen am Entwicklungsstand der Produktionsmittel – kein einziger Mensch mehr Hungers zu sterben bräuchte. Dass dies für den Menschen „hinnehmbar“ geworden ist, ist der Raison d’être des Kapitalismus immanent, der des globalisierten allemal.

Als effizienter mentaler Helfershelfer dieser Strukturlogik mag das von Adorno so benannte „verdinglichte Bewusstsein“ fungieren, dessen historischen Kulminationspunkt Adorno in Auschwitz ausmachte: Menschen, die sich selbst den Dingen gleichgemacht hatten, machten, wenn es ihnen möglich wurde, die anderen den Dingen gleich. Das von den heteronomen Impulsen der instrumentellen Vernunft in den Exzess getriebene verdinglichte Bewusstsein ist aber welthistorisch noch lange nicht überwunden, sondern liegt vielmehr in der zivilisatorischen Gesamttendenz, die in Auschwitz zur industriell betriebenen, bürokratisch verwalteten Ausrottungspraxis gerann und im gegenwärtigen „Normalzustand“ den alljährlichen millionenfachen Hungertod als hinnehmbares Epiphänomen, das das System nun mal mitproduziert, wie selbstverständlich verbucht.

Und wenn dies für den Menschen „begründbar“ werden konnte, bedurfte es schon gar keiner weiteren Anstrengung der Kritik für die fortwährende, industriell verrichtete, warenförmig betriebene Massenvernichtung von Nutztieren. Denn nicht nur hatte man die Apologie ihrer Verwertungsverdinglichung über Jahrtausende – durch den Fundamentalmangel gerechtfertigt und religiös abgesegnet – einzuüben gelernt, es bedurfte ihrer nicht einmal mehr: Zu unleugbar hat das 20. Jahrhundert erwiesen, daß sich selbst die Unterscheidung des Menschen vom Tier als konstitutives Moment der Idee des Menschen sich ihres Geltungsanspruches begeben hat.

Welchen Stellenwert nimmt bei solch hohem Abstraktionsniveau die persönliche Beziehung zu Tieren ein? In der symbolischen Ordnung haben sich Kosenamen wie „Mäuschen“, „Täubchen“, „Küken“ etc. als Metapher für geliebte Menschen erhalten. Adorno hatte „Nilstute“, „Wundernilstute“ und „Marientier“ für seine Mutter oder etwa „alte [bzw. lange] Giraffe“ für seine Frau Gretel auf Lager. Das zeugt von hoher Zuneigung für die Tiere, die auf die geliebte Person, freilich als generische Kategorie, projiziert wird.

Rosa Luxemburgs Tierliebe

Der wohl persönlich intimsten, zugleich aber auch das Allgemeine des Tierschicksals mitreflektierenden Beziehung zu Tieren hat Rosa Luxemburg vielfach einen besonders berührenden Ausdruck verliehen. Rosa Luxemburg liebte Tiere. Sie liebte sie innig, konnte sich in rührendster Weise an ihnen ergötzen, machte sich Gedanken um ihr grausames Schicksal, kümmerte sich in großer Sorge um sie, wo immer sie konnte. Briefe an ihre Sekretärin Mathilde Jacob aus dem Frauengefängnis beendete sie mit emotionalen Grußworten an die Gehilfin und an ihre Katze: „Tausend Küsse Ihnen und Mimi“ oder „Ich umarme Sie und Mimi in schrecklicher Sehnsucht“. Nicht von ungefähr lässt sie im Februar 1915 der befreundeten Sekretärin die „höchste Ehre“ in Zusammenhang mit ihrer über alles geliebten Katze zuteil werden:

„Liebes Fräulein Jacob, ich erweise Ihnen die höchste Ehre, die ich einem Sterblichen antun kann: ich werde Ihnen meine Mimi anvertrauen! Sie müssen aber noch auf bestimmte Nachricht warten, die Sie von meinem Rechtsanwalt bekommen. Dann werde Sie sie in Ihren Armen (nicht etwa im Körbchen oder Sack!!!) im Auto entführen müssen. Mit Hilfe meiner Wirtschafterin, die Sie mitnehmen am besten (ich meine nur für die Fahrt, nicht für das Leben) und die alle sieben Sachen der Mimi (ihr Kistchen, Torfmull, Schlüsselchen, Unterlagen und – bitte, bitte! – einen roten Plüschsessel, an den sie gewöhnt ist) mit verpacken wird. Das alles kann doch im Auto verstaut werden. Doch wie gesagt, warten Sie damit noch einige Tage.“

In der Sorge um das Wohlsein der Katze vermengt sich die große Liebe für das Tier mit einem noch im kleinsten Detail sich konkret kundtuenden Organisationssinn. Die empathische Fürsorge könnte für einen Menschen nicht größer sein. Rosa Luxemburg sieht sich denn auch als „Mutter“ der Katze. Am 10. Oktober 1915 schreibt sie an die Sekretärin:

„Nun wissen Sie, guter Geist, daß Mimi eine kleine Mimose, ein hypernervöses Prinzeßchen in Katzenfell ist, das schon als ich, ihre eigene Mutter, sie einmal mit Gewalt aus dem Haus heraustragen wollte, Krämpfe gekriegt hat vor Aufregung und mir in den Armen steif geworden ist, mit brechenden Äuglein wieder in die Wohnung getragen werden mußte und nach Stunden zu sich kam. Ja, ja! Sie haben keine Ahnung, was mein Mutterherz schon durchgemacht hat. Also lassen wir Mimichen in der Wohnung […].“

Als sich aber herausstellt, dass die treue Sekretärin aus Rücksichtnahme auf Rosa Luxemburg und in guter Absicht ihr die Krankheit Mimis verschwiegen hat, kennt Luxemburgs Ungehaltenheit keine Grenzen; sie fühlt sich entmündigt. Am 11. August 1917 schreibt sie:

„Meine liebste Mathilde! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie mich Ihr gestern erhaltener Brief erschüttert hat. Also meine Mimi ist seit Monaten schwer krank, und ich erfahre das erst jetzt, zufällig, weil ich Sie sozusagen mit meinen Fragen an die Wand drückte! Und Sie brachten es fertig, mir etwas zu verheimlichen, was mir so sehr nahe geht! Ich frage, wo ist einfach der Respekt vor mir, um mich nicht wie ein unmündiges Kind, ein ‚Objekt‘ zu behandeln. […] Sie waren noch die Einzige, deren Worte ich glaubte trauen zu können, jetzt traue ich Ihnen auch nicht mehr, und bin nun völlig einsam. Meinetwegen. […]“

Als sie dann zwei Wochen später von Mimis Tod erfährt, beklagt sie noch einmal die „falsche Rücksichtnahme“, die ihr bezeigt worden war, und registriert in großer Trauer: „Und so sitze ich hier mit der nackten Tatsache, weiß nichts Näheres und komme mir so roh und herzlos vor, daß ich vier Monate in völliger Unkenntnis von ihrem traurigen Ende leben konnte.“ Gleichwohl beendet sie den Brief versöhnlich und fügt notabene hinzu: „Anbei sind ein paar Federchen von Tauben, die ich im Hof fand. Eine schillert am Rande blau-rot.“

Das symbiotische Verhältnis, das Rosa Luxemburg zu ihrer Katze unterhielt, hatte gewiss einiges mit einer von ihrem „Mutterherz“ beseelten libidinösen Besetzung zu tun. Sie, die Kinderlose, liebte ihre Mimi wie ein Kind – nicht als „Frauchen“, wie es im Deutschen euphemistisch heißt, sondern eben als „Mutter“.

Aber es hatte auch mit etwas Zusätzlichem, im Wesen fast schon (für die damalige Zeit) Revolutionärem zu tun: mit einer frühen Form dessen, was man heutzutage im theoretischen Diskurs wie auch in der Tierbefreiungs-Praxis als „Antispeziesismus“ zu apostrophieren pflegt. In der Tat evaporierten bei Rosa Luxemburg althergebrachte speziesistische Barrieren. Das begann für sie schon beim kleinsten Getier, und zwar bezeichnenderweise gerade im Kontext revolutionärer Emphase, wie sich dem berühmten Wurm-Zitat entnehmen lässt:

„Eine Welt muss umgestürzt werden, aber jede Träne, die geflossen ist, obwohl sie abgewischt werden konnte, ist eine Anklage, und ein zu wichtigem Tun eilender Mensch, der aus roher Unachtsamkeit einen armen Wurm zertritt, begeht ein Verbrechen.“

So auch in einem Brief an Sophie Liebknecht vom 24.11.1917, in welchem sie einer zerdrückten Fliege nachtrauerte:

„Ich weiß, für jeden Menschen, jede Kreatur, ist eigenes Leben das einzige, einmalige Gut, das man hat, und mit jedem kleinen Flieglein, das man achtlos zerdrückt, geht die ganze Welt jedesmal unter; für das brechende Auge dieses Fliegleins ist alles so gut aus, als wenn der Weltuntergang alles Leben vernichtete.“

Das berühmteste, mittlerweile ikonisch gewordene Zeugnis für Rosa Luxemburgs von allerhöchstem Mitgefühl getragene Beziehung zu Tieren findet sich in einem Brief, den sie Mitte Dezember 1917 in Breslau an Sophie Liebknecht geschrieben hat, dem sogenannten „Büffel-Brief“. Die für den hier erörterten Zusammenhang relevante Textpassage aus diesem Dokument sei in ausgreifender Länge zitiert – sie verdient es wegen ihres literarischen Rangs, wegen ihres anrührenden emotionalen Gehalts und weil sie alles zusammenträgt, was hier bisher angerissen worden ist und weiterer Erörterung bedarf.


Der geschundene Büffel

„Ach, Sonitschka, ich habe hier einen scharfen Schmerz erlebt, auf dem Hof, wo ich spaziere, kommen oft Wagen vom Militär, voll bepackt mit Säcken oder alten Soldatenröcken und Hemden, oft mit Blutflecken. Die werden hier abgeladen, in den Zellen verteilt, geflickt, dann wieder aufgeladen und ans Militär abgeliefert. Neulich kam so ein Wagen, bespannt statt mit Pferden mit Büffeln. Ich sah die Tiere zum erstenmal in der Nähe. Sie sind kräftiger und breiter gebaut als unsere Rinder, mit flachen Köpfen und flach abgebogenen Hörnern, die Schädel also unseren Schafen ähnlicher, ganz schwarz mit großen sanften Augen. Sie stammen aus Rumänien, sind Kriegstrophäen.

Die Soldaten, die den Wagen führen, erzählen, daß es sehr mühsam war, diese wilden Tiere zu fangen, und noch schwerer, sie, die an die Freiheit gewöhnt waren, zum Lastdienst zu benützen. Sie wurden furchtbar geprügelt, bis daß für sie das Wort gilt ‚vae victis‘ … An hundert Stück der Tiere sollen in Breslau allein sein; dazu bekommen sie, die an die üppige rumänische Weide gewöhnt waren, elendes und karges Futter. Sie werden schonungslos ausgenützt, um alle möglichen Lastwagen zu schleppen, und gehen dabei rasch zugrunde.

Vor einigen Tagen kam also ein Wagen mit Säcken hereingefahren, die Last war so hoch aufgetürmt, daß die Büffel nicht über die Schwelle bei der Toreinfahrt konnten. Der begleitende Soldat, ein brutaler Kerl, fing an, derart auf die Tiere mit dem dicken Ende des Peitschenstieles loszuschlagen, daß die Aufseherin ihn empört zur Rede stellte, ob er denn kein Mitleid mit den Tieren hätte! ‚Mit uns Menschen hat auch niemand Mitleid‘, antwortete er mit bösem Lächeln und hieb noch kräftiger ein … Die Tiere zogen schließlich an und kamen über den Berg, aber eins blutete … Sonitschka, die Büffelhaut ist sprichwörtlich an Dicke und Zähigkeit, und die ward zerrissen.

Die Tiere standen dann beim Abladen ganz still erschöpft und eines, das, welches blutete, schaute dabei vor sich hin mit einem Ausdruck in dem schwarzen Gesicht und den sanften schwarzen Augen wie ein verweintes Kind. Es war direkt der Ausdruck eines Kindes, das hart bestraft worden ist und nicht weiß, wofür, weshalb, nicht weiß, wie es der Qual und der rohen Gewalt entgehen soll … ich stand davor und das Tier blickte mich an, mir rannen die Tränen herunter – es waren seine Tränen, man kann um den liebsten Bruder nicht schmerzlicher zucken, als ich in meiner Ohnmacht um dieses stille Leid zuckte.

Wie weit, wie unerreichbar, verloren die freien, saftigen, grünen Weiden Rumäniens! Wie anders schien dort die Sonne, blies der Wind, wie anders waren die schönen Laute der Vögel oder das melodische Rufen der Hirten! Und hier – diese fremde schaurige Stadt, der dumpfe Stall, das ekelerregende muffige Heu mit faulem Stroh gemischt, die fremden, furchtbaren Menschen und – die Schläge, das Blut, das aus der frischen Wunde rinnt …

O mein armer Büffel, mein armer, geliebter Bruder, wir stehen hier beide so ohnmächtig und stumpf und sind nur eins im Schmerz, in Ohnmacht, in Sehnsucht. Derweil tummelten sich die Gefangenen geschäftig um den Wagen, luden die schweren Säcke ab und schleppten sie ins Haus; der Soldat aber steckte beide Hände in die Hosentaschen, spazierte mit großen Schritten über den Hof, lächelte und pfiff einen Gassenhauer. Und der ganze herrliche Krieg zog an mir vorbei […] Sonjuscha, Liebste, seien Sie trotz alledem ruhig und heiter. So ist das Leben und so muß man es nehmen, tapfer, unverzagt und lächelnd – trotz alledem.“


Rosa Luxemburg nimmt den Büffel nicht nur beiläufig wahr. Sie beschreibt seine Physis, vergleicht ihn mit den Rindern und Schafen Deutschlands, verweilt mithin bei seiner körperlichen Eigentümlichkeit. Zugleich notiert sie auch seine „großen sanften Augen“, welche ihm kurz darauf, bei der Beschreibung seines Leids, einen Ausdruck verleihen, der ihr das geschundene Tier „wie ein verweintes Kind“ vorkommen lässt. Sie insistiert auf die Triftigkeit des anthropomorphen Bildes:

„Es war direkt der Ausdruck eines Kindes, das hart bestraft worden ist und nicht weiß, wofür, weshalb, nicht weiß, wie es der Qual und der rohen Gewalt entgehen soll.“ Und als ihr beim erschütternden Anblick des tierischen Elends die Tränen herunterrinnen, sind es für sie „seine Tränen“, und sie bekräftigt dieses symbiotische Moment, indem sie hinzufügt: „Man kann um den liebsten Bruder nicht schmerzlicher zucken, als ich in meiner Ohnmacht um dieses stille Leid zuckte.“ Und was in diesem Satz noch als Vergleich (mit dem „liebsten Bruder“) angeführt wird, geht in die unverhohlene, allen Speziesismus endgültig hinter sich lassende Identifikation mit dem nunmehr direkt als „geliebter Bruder“ angesprochenen gemarterten Büffel über:

„O mein armer Büffel, mein armer, geliebter Bruder, wir stehen hier beide so ohnmächtig und stumpf und sind nur eins im Schmerz, in Ohnmacht, in Sehnsucht.“

Rosa Luxemburg gesellt sich gleichsam zur Ohnmacht des Tieres, erkennt sich selbst in seiner Leiderfahrung und weiß sich mit ihm „eins im Schmerz, in Ohnmacht, in Sehnsucht“. Sie imaginiert, angerührt von dem vor ihr sich real zutragenden Grauen die Lebensbedingungen, die durch die Kriegsgefangenschaft der Büffel verlorengegangen sind – „die üppige rumänische Weide“, die unerreichbar gewordenen, endgültig abhanden gekommenen „freien, saftigen, grünen Weiden Rumäniens!“, idealisiert gar die Herrlichkeit jener Idylle, aus der die Büffel wie aus dem Paradies vertrieben und verschleppt worden sind:

„Wie anders schien dort die Sonne, blies der Wind, wie anders waren die schönen Laute der Vögel oder das melodische Rufen der Hirten!“

Von selbst versteht sich, dass die Büffel auch vormals als Nutztiere gehalten wurden – dessen wird sich Rosa Luxemburg wohl bewusst gewesen sein –, aber sie steigert deren nunmehriges Leid, indem sie es in den Kontext der Kriegskatastrophe stellt: „Kriegstrophäen“ seien die malträtierten Kreaturen; sie ziehen Militärwagen, „voll bepackt mit Säcken oder alten Soldatenröcken und Hemden, oft mit Blutflecken“; sie, die an die „Freiheit gewöhnt“ waren, werden jetzt zum Lastdienst rekrutiert, schonungslos geprügelt, mit „elendem und kargem“, „ekelerregend muffigem Futter“ versorgt und in einem „dumpfen Stall“ untergebracht; schändlich ausgenützt werden sie und zugrunde gerichtet.

Die Menschen schinden die Tiere, behandeln sie brutal und sadistisch, ohne Mitleid angesichts deren entsetzlichen Plage – Rosa Luxemburg zeigt dabei den Kausalnexus zwischen dem Leid der Menschen und dem des Tieres auf („Mit uns Menschen hat auch niemand Mitleid“), stellt aber doch die Qual des misshandelten Büffels in den Vordergrund, „die Schläge, das Blut, das aus der frischen Wunde rinnt“, die „zerrissene Haut“ des Tieres. Zwar klagt die Aufseherin humanes Mitleid ein, wird aber mit „bösem Lächeln“ und noch kräftigerer Verprügelung der geschundenen Kreatur abserviert. Der Büffel hat nicht die Möglichkeit, lächelnd über den Hof zu spazieren und einen Gassenhauer zu pfeifen. Er ist seinem Schicksal, dem menschengemachten Drangsal unweigerlich ausgeliefert.

Das ist die Ohnmacht, die Rosa Luxemburg so erschüttert, die Hölle, die „den ganzen herrlichen Krieg“ an ihr vorbeiziehen lässt. So sei das Leben und so müsse man es nehmen, schreibt Rosa Luxemburg zum Schluss, „tapfer, unverzagt und lächelnd – trotz alledem“. Aber kann man es ohne weiteres? Kann man dem Grauen, das den Leser bei der Lektüre erfasst, unversehens entfliehen?

Karl Kraus

Erstaunlich an diesem meisterlich verfassten Text, dieser berückenden Synthese aus tiefster Humanität, großer Emotion und suggestiver Vermittlung von unermesslichem Leid, ist der ihn beseelende antispeziesistische Geist, welcher gleichwohl nicht sloganhaft als solcher deklariert wird, sondern sich aus der Darstellung der elenden Not des Büffels und der gefühlsmäßigen Solidarität, ja symbiotischen Identifikation mit ihm erschließt.

Das war damals (und letztlich auch noch heute) mitnichten eine Selbstverständlichkeit. Wer sich von diesem Prosatext besonders beeindruckt zeigte, war kein anderer als Karl Kraus. Überrascht darf man dabei sein, dass der konservative Schriftsteller und Publizist sich von der revolutionären Kommunistin faszinieren ließ. Man versteht aber diese Affinität, wenn man der Einsicht von Edward Timms folgt:

„Bei beiden Autoren findet eine außergewöhnliche Sensibilität für die Tier- und Pflanzenwelt moralisch ihre Entsprechung in einem leidenschaftlichen Mitgefühl für ebenso wehrlose und ausgebeutete Menschen. Beide besaßen die Fähigkeit, die Leiden anderer Kreaturen gleichsam am eigenenein Leib zu spüren.“

Kraus druckte den „Büffel-Brief“ Rosa Luxemburgs in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Die Fackel“ im Juli 1920 nach, empfahl mithin, ihn „zwischen Goethe und Claudius“ in Schulbücher aufzunehmen. Er hat den Text in seinen zahlreichen Lesungen zwischen 1920 und 1929 mehrmals vorgetragen. Wie von Kurt Tucholsky und Elias Canetti bezeugt hob er die Wirkung dieses Textes aufs Publikum besonders hervor: „Der tiefste je in einem Saal bewirkte Eindruck war die Vorlesung des Briefes von Rosa Luxemburg.“

Offenbar teilten aber nicht alle die Begeisterung von Kraus und seinem Publikum. Am 25. August 1920 schrieb eine „Fackel“-Abonnentin aus Innsbruck einen von ihr selbst als „Antwort an Rosa Luxemburg von einer Unsentimentalen Innsbruck, 25. August 1920“ betitelten Leserbrief. Karl Kraus druckte ihn in seiner Zeitschrift. Er müsste hier eigentlich auch in Gänze aufgeführt werden – zum einen, weil er als nachgerade paradigmatisch für die Ideologie eines an polemischer Perfidie kaum zu überbietenden Speziesismus gelten darf; zum anderen, weil ihn Kraus, seinerseits meisterlich polemisch, auf höchstem Niveau kommentiert hat. Es seien hier aber nur die „Highlights“ beider Texte widergegeben.

So ergeht sich die Autorin eingangs in der Vermutung, „wie viel ersprießlicher und erfreulicher das Leben der Luxemburg verlaufen wäre, wenn sie sich statt als Volksaufwieglerin etwa als Wärterin in einem Zoologischen Garten od. dgl. betätigt hätte, in welchem Fall ihr wahrscheinlich auch das ‚Kittchen‘ erspart geblieben wäre.“ Mit „Kittchen“ meint sie das Frauengefängnis, in welchem Rosa Luxemburg eingesperrt war. Sie belustigt sich über die „etwas larmoyante Beschreibung des Büffels“, von der sie gern glauben mag, „daß dieselbe ihren Eindruck auf die Tränendrüsen der Kommerzienrätinnen und der ästhetischen Jünglinge in Berlin, Dresden u. Prag nicht verfehlt hat“, um dem dann aber – ihre Herkunft offenlegend – entgegenzuhalten:

„Wer jedoch, wie ich, auf einem großen Gute Südungarns aufgewachsen ist, u. diese Tiere, ihr meist schäbiges, oft rissiges Fell u. ihren stets stumpfsinnigen ‚Gesichtsausdruck‘ von Jugend auf kennt, betrachtet die Sache ruhiger.“

Sie weist zurecht darauf hin, dass Büffel in besagten Gegenden Rumäniens „seit undenklichen Zeiten mit Vorliebe als Lasttiere (sowie auch als Milchkühe) gezüchtet u. verwendet werden“, meint aber daraus folgern zu sollen,“daß der ‚geliebte Bruder‘ der Luxemburg nicht besonders erstaunt gewesen sein dürfte, in Breslau einen Lastwagen ziehn zu müssen“; und das Verprügeln des Tieres „wird wohl — wenn es nicht gar zu roh geschieht – bei Zugtieren ab u. zu unerläßlich sein, da sie bloßen Vernunftgründen gegenüber nicht immer zugänglich sind“; als Mutter wisse sie, „daß eine Ohrfeige bei kräftigen Buben oft sehr wohltätig wirkt!“. Am Ende ihres Briefes geht dann die Autorin ans ideologisch Eingemachte:

„Die Luxemburg hätte gewiß gerne, wenn es ihr möglich gewesen wäre, den Büffeln Revolution gepredigt u. ihnen eine Büffel-Republik gegründet, wobei es sehr fraglich ist, ob sie imstande gewesen wäre, ihnen das – von ihr – geträumte Paradies mit ’schönen Lauten der Vögel u. melodischen Rufen des Hirten‘ zu verschaffen u. ob die Büffel auf Letzteres so besonderes Gewicht legen. Es gibt eben viele hysterische Frauen, die sich gern in Alles hineinmischen u. immer Einen gegen den Anderen hetzen möchten; sie werden, wenn sie Geist und einen guten Stil haben, von der Menge willig gehört u. stiften viel Unheil in der Welt, so daß man nicht zu sehr erstaunt sein darf, wenn eine solche, die so oft Gewalt gepredigt hat, auch ein gewaltsames Ende nimmt.“

Dem hält sie, ihren Brief beendend, entgegen:

„Stille Kraft, Arbeit im nächsten Wirkungskreise, ruhige Güte u. Versöhnlichkeit ist, was uns mehr not tut, als Sentimentalität u. Verhetzung.“

Alles Ideologische kommt in dieser Schlusspassage gerafft zusammen: ein süffisant-arroganter Speziesismus, ein (diesmal von einer Frau ausgehendes) antifeministisches Ressentiment, borniert-konservativer Klassendünkel (einschließlich sadistischer Rachsucht und Schadenfreude) sowie eine gegen Empörung, Aufstand und Revolution gerichtete Tugendhaftigkeit in Form einer herrschaftlich erteilten Moralpredigt. „Meinen Sie nicht auch?“, fragt die Briefautorin zum Schluss Karl Kraus, den „Fackel“-Herausgeber, der es gewagt hatte, sich vom „Büffel“-Brief der gefangenen Rosa Luxemburgs berühren zu lassen und ihn gar (erneut) zu publizieren.

Nach seiner Meinung gefragt, gab sie Kraus mit einiger Ausführlichkeit zum Besten. Auch sein Kommentar, ein Meisterstück polemischer Kritik auf höchstem Niveau, müsste hier komplett wiedergegeben werden. Darauf muss jedoch wiederum verzichtet und die Widergabe auf einige zentrale Textpassagen beschränkt werden.

Und wenn Kraus zu Beginn (mit Bezug auf die „unsentimentale“ Lesebrief-Schreiberin) sagt, dass neben dem Brief der Rosa Luxemburg „gleich der Brief dieser Megäre“ in den Lesebüchern abgedruckt werden sollte, „um der Jugend nicht allein Ehrfurcht vor der Erhabenheit der menschlichen Natur beizubringen, sondern auch Abscheu vor ihrer Niedrigkeit und an dem handgreiflichsten Beispiel ein Gruseln vor der unausrottbaren Geistesart deutscher Fortpflanzerinnen, die uns das Leben bis zur todsichern Aussicht auf neue Kriege verhunzen wollen und die dem Satan einen Treueid geschworen zu haben scheinen, eben das was sie anno 1914 aus Heldentodgeilheit nicht verhindert haben, immer wieder geschehen zu lassen“ – so müsste dieser außerordentliche, von heiligem Zorn getragene Text von Karl Kraus gleich mit hinzugefügt werden.

Kraus spart nicht mit Worten, um seinem Abscheu vor „dieser entmenschten Brut von Guts- und Blutsbesitzern und deren Anhang“ beredten Ausdruck zu verleihen. Aus ebendiesem Abscheu gelangt er, der aufgeklärte Konservative, zu einem dialektischen Verhältnis zum Kommunismus:

Als Realität sei dieser „nur das Widerspiel“ der „lebensschänderischen Ideologie“ dieser Brut, „immerhin von Gnaden eines reineren ideellen Ursprungs, ein vertracktes Gegenmittel zum reineren ideellen Zweck — der Teufel hole seine Praxis, aber Gott erhalte ihn uns als konstante Drohung über den Häuptern jener, so da Güter besitzen und alle andern zu deren Bewahrung und mit dem Trost, daß das Leben der Güter höchstes nicht sei, an die Fronten des Hungers und der vaterländischen Ehre treiben möchten“.

Gott erhalte ihn auch, damit der „Gesellschaft der ausschließlich Genußberechtigten“ wenigstens „die Lust vergehe, ihren Opfern Moral zu predigen, und der Humor, über sie Witze zu machen!“ Kraus kann es nicht ertragen, dass die Gefangenschaft Rosa Luxemburgs verhöhnt wird und paraphrasiert bei seiner Reaktion eine Äußerung der „Unsentimentalen“: Solange die Frechheit von der Furcht vorm Kommunismus gezügelt sei, wäre „die Gefahr, daß etwaiger Spott über das ‚Kittchen‘, in dem eine Märtyrerin sitzt, auf der Stelle damit beantwortet […], daß man es der Person, die sich solcher Schändlichkeit erdreistet hat, in die Höhe hebt, wenn man nicht eine Ohrfeige vorzöge, die, wie ich Ihnen versichern kann, bei kräftigen Heldenmüttern sehr wohltätig wirkt!“

Kraus stellt auch einen Kausalnexus zwischen der Ideologie der „Unsentimentalen“, der Schinderei der Tiere und der drohenden zivilisatorischen Gefahr für die Menschheit: Er gibt resolut zu bedenken, dass „solange die Bewunderung deutscher und südungarischer Walküren für die militärische Büffeldressur vorhält, auch die Menschheit nicht davor bewahrt sein wird, mit Vorliebe zu Lasttieren abgerichtet zu werden“. Nicht nur insistiert er darauf, „daß die Menschlichkeit, die das Tier als den geliebten Bruder anschaut, doch wertvoller ist als die Bestialität, die solches belustigend findet“, sondern er postuliert zudem, dass es „jene ekelhafte Gewitztheit“ sei, „die die Herren der Schöpfung und deren Damen ‚von Jugend auf‘ Bescheid wissen läßt, daß im Tier nichts los ist, daß es in demselben Maße gefühllos ist wie sein Besitzer, einfach aus dem Grund, weil es nicht mit der gleichen Portion Hochmut begabt wurde und zudem nicht fähig ist, in dem Kauderwelsch, über welches jener verfügt, seine Leiden preiszugeben.“

Und weil das Tier nicht vernunftbegabt sei, darf es „so wenig erstaunt sein über die Schmach, die [der Mensch] ihm antut, wie er selbst; und wie nur ein Büffel nicht über Breslau staunen soll, so wenig staunt der Gutsbesitzer, wenn der Mensch ein gewaltsames Ende nimmt“. Und so mündet Kraus‘ brillante Polemik zuletzt im Fiktiven – der satirischen Gegenüberstellung des asymmetrischen moralischen Verhältnisses von Mensch und Tier:

„[… ] noch nie [sei] einem Ochsen, der in Innsbruck lebt, oder einer Gans, die auf einem großen südungarischen Gut aufgewachsen ist, eingefallen […], einander einen Innsbrucker oder eine südungarische Gutsbesitzerin zu schelten. […]  Sie hätten – wiewohl sie bloßen Vernunftgründen ‚gegenüber‘ nicht immer zugänglich sind – zu viel Takt, einen schlecht geschriebenen Brief abzuschicken, und zu viel Scham, ihn zu schreiben. Keine Gans hat eine so schlechte Feder, daß sie’s vermöchte! Meinen Sie nicht auch? Sie ist intelligent, von Natur gutmütig und mag von ihrer Besitzerin gegessen, aber nicht mit ihr verwechselt sein.“

Mensch und Tier

In der bisher hier vorgenommenen Erörterung des Verhältnisses Rosa Luxemburgs zu Tieren wurde das Hauptaugenmerk auf den „Büffel-Brief“ gerichtet. Das hat primär damit zu tun, dass diesem Brief, wie bereits erwähnt, ein paradigmatischer Stellenwert beigemessen werden darf: Transgressive Übergänge von der Menschen- zur Tierwelt kommen in den Mythologien und Märchenerzählungen vieler Kulturen vor. Sie sind auch von Mischwesen wie etwa dem Zentaur oder dem Minotaur bevölkert. Und trotz des Postulats vom Vorrang des Menschen vor dem Tier findet sich etwa in „Kohelet“, dem biblischen „Buch des Predigers Salomo“, eine angesichts des Todes abgeleitete Gleichstellung von Mensch und Tier:

„Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh: Wie dies stirbt, so stirbt auch er, und sie haben alle einen Odem, und der Mensch hat nichts voraus vor dem Vieh; denn es ist alles eitel.“

Je weiter man gleichwohl in der Zivilisation fortschritt und Naturbeherrschung beständig zunahm, wurde eine (freilich schon in der biblischen Schöpfungsgeschichte mehrfach postulierte) Rangordnung der Gattungen hervorgehoben und entsprechend ideologisiert. In diesem Zusammenhang der seit der Aufklärung das Rationale nachgerade fetischisierenden Moderne sticht der „Büffel-Brief“ Rosa Luxemburgs nun gleichsam als Manifest des Antispeziesismus hervor, obwohl freilich der Begriff selbst weder von ihr noch von ihren Zeitgenossen verwendet wurde. Dass dies mitnichten selbstverständlich war, davon zeugt der von instrumenteller Vernunft und entsprechendem Sarkasmus und Zynismus durchwirkte Leserbrief der „Unsentimentalen“ in Karl Kraus‘ „Die Fackel“. Aber gerade Kraus brillant-erboste Reaktion auf diesen Leserbrief ist beredt: Sie hebt den „Büffel-Brief“ in den Status des kanonisch Ikonischen.

Im „Büffel-Brief“ zeigte sich Rosa Luxemburg von der Leiderfahrung des konkreten einzelnen Tieres erschüttert. Aber nicht nur das leidende Einzeltier, sondern auch die Tiergattung berührte sie zutiefst. So schrieb sie etwa in einem Brief:

„Gestern las ich gerade über die Ursachen des Schwindens der Singvögel in Deutschland: Es ist die zunehmende rationelle Forstkultur, Gartenkultur und der Ackerbau, die ihnen alle natürlichen Nist- und Nahrungsbedingungen: hohle Bäume, Ödland, Gestrüpp, welkes Laub und den Gartenboden – Schritt für Schritt vernichten. Mir war so sehr weh, als ich das las. Nicht um den Gesang für die Menschen ist es mir, sondern das Bild des stillen, unaufhaltsamen Untergangs dieser wehrlosen kleinen Geschöpfe schmerzt mich so, daß ich weinen mußte.“

Und an dieser Stelle zog Rosa Luxemburg eine bemerkenswerte Parallele:

„Es erinnerte mich an ein russisches Buch von Professor Siber über den Untergang der Rothäute in Nordamerika, das ich noch in Zürich gelesen habe: Sie wurden genauso Schritt für Schritt durch die Kulturmenschen von ihrem Boden verdrängt und einem stillen, grausamen Untergang preisgegeben.“

Das barbarische Schicksal der Tiere und das der Indianer Nordamerikas – Mensch und Tier – galten ihr gleichermaßen als ihres Entsetzens, ihrer Anteilnahme und ihres Mitleids würdig. Man mag sich über diesen transgressiven Vergleich wundern, wenn man in Gattungshierarchien denkt und fühlt. Es war wohl eine Ahnung davon, die Rosa Luxemburg sodann zu phantasievollen Imaginationen und metaphorisierenden Utopieregungen beflügelte:

„Aber ich bin ja natürlich krank, daß mich jetzt alles so tief erschüttert. Oder wissen Sie? Ich habe manchmal das Gefühl, ich bin gar kein richtiger Mensch, sondern auch irgendein Vogel oder ein anderes Tier in mißlungener Menschengestalt; innerlich fühle ich mich in so einem Stückchen Garten wie hier oder im Feld unter den Hummeln und Gras viel mehr in meiner Heimat als – auf einem Parteitag. Ihnen kann ich ja wohl das alles ruhig sagen: Sie werden nicht gleich Verrat am Sozialismus wittern. Sie wissen, ich werde trotzdem hoffentlich auf dem Posten sterben: in einer Straßenschlacht oder im Zuchthaus.“

Rosa Luxemburg weiß, wie Orthodoxe ihres Lagers mit dieser Art Redens umgehen mögen. Hartgesottene Revolutionäre reden nicht so. Klassische Revolutionäre sind abstrakt cool wie Saint Just, unerbittlich doktrinär wie Robespierre. Sie wissen um den Preis, den der revolutionäre Kampf abfordert, sie sind auch opferbereit, sind daher hart, zuweilen auch grausam, Sentimentalität können sie sich gar nicht leisten. Ist aber Rosa Luxemburg sentimental? Nun, sie begeht ja keinen verweichlichten Verrat am Sozialismus, ist opferbereit, bereit, in der Straßenschlacht oder im Zuchthaus zu sterben. Darum geht es aber auch gar nicht. Denn Luxemburgs Tierliebe ist nicht sentimental, das Leid der wehrlosen Geschöpfe schmerzt sie so sehr, dass sie weinen muss. Es ist kein rührseliges Weinen, sondern das, was Else Lasker-Schüler in den Worte einfasste: „Es ist ein Weinen in der Welt.“

Und das ist auch das Geheimnis des Zaubers, den Rosa Luxemburg auf Generationen von Anhängern und Bewunderern ihres Lebens und Werks ausübt: Sie war eine brillante Theoretikerin des Sozialismus, eine hingebungsvolle politische Aktivistin, beseelt gleichermaßen von einem analytischen Realismus wie vom nicht versiegenden Idealismus, eine unvergleichlich tapfere Frau, leid- und trauererfahren, zugleich aber auch von edler Seele, unendlich sensibel für das Leid von Mensch und Tier, inspiriert vom großen Glauben an die Fähigkeit der Massen, die Geschichte zu verändern und eine Gesellschaft zu errichten, die ein wirklich freies menschliches Leben ermöglicht. Und es scheint, als liege genau darin ihr Zauber: Rosa Luxemburg ist und bleibt die mustergültige Revolutionärin – die Inkarnation der realen Möglichkeit, dass das Revolutionäre menschlich und die Menschlichkeit revolutionär bleibe, ohne beide zu verraten, weder die Revolution noch die Menschlichkeit.

Ich bin Susann Witt-Stahl für die beträchtliche Hilfe beim Zusammentragen des Materials für den vorliegenden Aufsatz zu großem Dank verpflichtet.

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3 Kommentare

  1. Mit der Charkterisierung des von mir verehrten Karl Kraus, dem Autor der Letzten Tage der Menschheit, welcher Text mir während des ersten Golfkrieges so etwas wie trotzigen Trost spendete, als aufgeklärten Konservativen habe ich etwas Mühe.

    Eine Relativierung der faktischen Naturbeherrschung durch den Menschen – sowohl die innere wie die äussere beweisen uns immer wieder, wie sehr das trügt – würde ich für notwendig halten.

    Damit hat es sich aber bereits mit spontaner Kritik, stattdessen Dank für einen weiteren bereichernden Text aus der Zuckermann’schen Schatztruhe.

  2. Rosa Luxemburg meinte in Deutschland öffentlich erklären zu müssen das die Polen ihren Traum von der Wiedererichtung ihres Landes durch das Proletiarat aufgeben sollten. Sie ist in Polen neben Polen und durch Polen aufgewachsen.
    Daraufhin erklärten die polnischen Kommies das sie nix mehr mit ihr zu tun haben.
    Sie hatte sich den Rückweg versperrt. Vielleicht hatte sie etwas zu sehr in der Tierwelt gelebt.
    Aber der Artikel hats geschafft sie wieder für mich etwas symphatischer zu machen. Sie war wirklich eine gute Theoretikerin.

    Natürlich läufts so in der Welt immer noch wies läuft aufgrund der Religion. Speziell sind hier die Protestanten als auch der Islam zu nennen. Doppelte Prädestinierung als auch Raubökonomie gepaart mit Ölreichtum.
    Ergeben Apokalypse.

  3. In diesem Zusammenhang sind (mindestens)2 Bücher interessant:
    Zum einen das der indigenen Us-Wissenschaftlerin Robin Wall Kimmerer. Geflochtenes Süßgras https://www.deutschlandfunkkultur.de/robin-wall-kimmerer-geflochtenes-suessgras-das-prinzip-der-100.html
    und ANFÄNGE von David Graeber und David Wengrich
    https://www.buchkomplizen.de/buecher/gesellschaft/anfaenge.html
    Beide zeigen auf, dass es eigentlich keine Notwendigkeit einer solchen Entwicklung der Naturbeherrschung/vulgo Naturversklavung gab, sondern dass es Entscheidungen waren und sind.
    Danke für diesen Text, Moshe Zuckermann!

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