Romantische Naturverherrlichung

Caspar David Friedrich – Tageszeitenzyklus, Der Morgen. Bild: public domain

Das Verhältnis von Mensch und Natur ist in der Moderne real zur Krise geraten. Die Kunst spiegelt dieses zivilisatorische Verhältnis wider.

 

Die gesamte Zivilisation hindurch hat die zwiespältige Beziehung des Menschen zur Natur ihren Niederschlag in unzähligen kulturellen Werken gefunden. Sie manifestierte sich in Religion, Philosophie und Kunst, in Mythen, Märchen, Riten und Visionen. Man denke nur an die Vorstellung von Harmonie zwischen Mensch, Tier und Natur im Paradies, und die komplementäre Zerstörung dieser Harmonie nach der Vertreibung aus dem Paradies, als der Mensch, Gotteswort entsprechend, sich gezwungen sieht, die Erde sich untertan zu machen, um zu überleben – “im Schweiße seines Angesichts” Brot zu essen.

Natur stellt sich in dieser Narration als Sehnsuchtsideal dar, zugleich aber auch als Quelle potentieller Bedrohung. Nicht von ungefähr wird der Naturzustand bei Hobbes als ein Dasein voll von Gefahren, Ängste, Konflikt und Gewalt beschrieben, bei Rousseau hingegen als ein primärer Zustand harmonischer Stimmigkeit, der einzig durch die zivilisatorische Praxis des Menschen zerstört worden ist. Den Wirkzusammenhang dieser Zivilisationsdynamik bringen Horkheimer und Adorno bereits in den Anfangssätzen ihrer epochalen “Dialektik der Aufklärung” auf den Punkt:

“Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.”

Musik und Natur

Für die Künste bot diese polare Auffassung von Natur ein reiches Spektrum an Motiven und Themen: friedlich-pastorale Szenerien, ruhige ländliche Landschaften, paradiesische Idyllen und utopische Visionen von Mensch, Tier und Natur auf der einen, bedrohliche stürmische See, Vulkanausbrüche, zerstörerische Waldbrände, orkanartige Gewitter, Lawinen und katastrophale Erdbeben auf der anderen Seite – all dies findet sich mannigfaltig in der Malerei, dem Theater, der Literatur, der Oper und auch in der Musik.

Die Musik, ein in seinem Wesen begriffsloses Kunstmedium, musste dabei Strategien der Repräsentation von Naturwelten entwickeln. Als absolute Musik kodierte sie gleichsam das nicht unmittelbar Darstellbare durch fremdbestimmte Ausdrucksmittel. Wenn etwa Joseph Haydn in seinem Oratorium “Die Schöpfung” die Rinder auf der Weide musikalisch darstellte, bezog er sich nicht auf die Schwergewichtigkeit der Tiere (wie es beispielsweise Saint-Saëns bei der Darstellung des Elefanten in “Karneval der Tiere” mit dem Kontrabass vollzog), sondern benutzte die hohen Holzbläser, um eine idyllische Pastorale der grasenden Tiere zu zeichnen.

Zumeist beschränkte sich Natur darstellende absolute Musik aufs Atmosphärische. Die Morgenstimmung in Griegs “Peer Gynt-Suite” etwa oder die Morgendämmerung in Rossinis “Wilhelm Tell-Ouvertüre” sind Benennungen von ruhigen Musikstücken und -passagen, die auch andere Gemütslagen und Empfindungen suggerieren mögen. Leichter hatte es da die Programmmusik, die einen außermusikalischen Inhalt für die Musik bewusst voraussetzt, mithin auf dezidiert mimetische Repräsentationen des programmatisch Gesetzten zielt. In Smetanas “Moldau” sind die Flussquellen, die Wellengänge, das Zerschellen des Wassers an der Meeresklippen lautmalerisch imitiert, die Bauernhochzeit durch einen böhmischen Tanz symbolisiert und die “Nachtruhe” des Stroms bei Mondschein atmosphärisch nachempfunden. Die Moldau erklingt in voller musikalischer Pracht. Ob sich der Zuhörer dabei am begrifflichen Programm hält oder sich lediglich auf die innermusikalische Dynamik des Stücks konzentriert, ist ihm überlassen. Dies gilt ebenso für viele andere programmatisch vorgegebenen Naturdarstellungen wie die Sturmszenen in Beethovens “Pastoralen”, in Verdis “Otello” oder in Wagners “Walküre-Vorspiel”.

Vogelstimmen-Imitationen finden sich bei zahllosen Komponisten (Vivaldi, Beethoven und Olivier Messiaen seien hier stellvertretend erwähnt). Zuweilen werden auch die Bewegungen der Vögel komponiert: Ralph Vaughan Williams’ “The Lark Ascending” beschreibt in bewegender Weise den Flug der Lerche; Saint-Saëns und Sibelius sind von der Schwimmeleganz des Schwans beeindruckt. Die (noch unausgeschlüpften) Kücken in Mussorgskys “Bilder einer Ausstellung” tanzen. Es erübrigt sich, weitere Beispiele hierfür aufzuführen – ihre Zahl ist Legion.

Der deutsche Wald

Stattdessen sei hier auf ein zentrales Motiv der deutschen Romantik eingegangen: den deutschen Wald. Die europäische Romantik im allgemeinen, ganz besonders aber die deutsche, darf man nicht zuletzt als eine indirekte, teils auch unbewusste Reaktion auf die vernunftdominierte Vorherrschaft der Aufklärung in der Moderne bzw. auf deren Ideale der rationalen Selbstsetzung des Menschen begreifen.

Es galt quasi, das Gemüt, den Affekt, die Emotion von den Fängen einer um sich greifenden Welt der rationalen Kalkulation und abstrakter Verträge zu “emanzipieren”. Schlagwort war in diesem Zusammenhang die “Authentizität”, mithin der Rückzug ins “Innere”, die Abwendung von der künstlich generierten Moderne, in Deutschland zumeist als “französische Zivilisation” verschrien. Nicht nur die Sehnsucht nach “Gemeinschaft” anstelle von solidarischer Gesellschaft, sondern auch Idealisierung der Einsamkeit als Freiheit gab den kulturellen Ton an.

Das Akronym f.a.e. (frei aber einsam), Parole der deutschen Romantiker, erfuhr eine komplementäre Bereicherung in Form einer Umkehrung der Buchstaben – e.a.f. (einsam aber frei). Die Zusammenfügung beider Akronyme widerspiegelt deutlich das ambivalente Verhältnis der Geistesmenschen jener Epoche zur komplexen Verkettung von Freiheit und Einsamkeit.

Der deutsche Wald nahm hierin einen nachgerade paradigmatischen Stellenwert ein. Waldeinsamkeit, Waldesruh, Waldweben, Waldzauber sind nur einige der mit “Wald” verbundenen Wortkonstellationen, welche die auf ihn projizierte Gefühle, Regungen und Wunschvorstellungen anzeigen. Der Wald ist geheimnisvoll, mag auch Gefahren in sich bergen, rührt aber vor allem atavistische Bedürfnisse an und weckt archaische Empfindungen der kollektiven Geborgenheit und naturverbundenen Zugehörigkeit.

Deutsche Maler der romantischen Epoche wie Ludwig Richter, Carl Spitzweg, Caspar David Friedrich und Moritz von Schwind bebilderten diese Waldsehnsüchte, Dichter wie Joseph von Eichendorff, Eduard Mörike und Friedrich Hölderlin besangen den Wald, mithin seine zum (nationalen) Mythos geronnenen Eichen. Selbstverständlich spielte er auch in der Kunstmusik der romantischen Ära eine gravierende Rolle.

Nicht von ungefähr zelebriert die sogenannte “erste deutsche Oper”, Cal Maria von Webers “Der Freischütz”, den deutschen Wald, wobei zu ihm schon in der Ouvertüre sowohl die in den Hörnern erklingende Naturerhabenheit als auch die Unheimlichkeit, ja Bedrohlichkeit der nächtlichen Wolfsschlucht gehören. Idylle und latente Gefahr sind hier miteinander aufs engste verschwistert. Dieses Moment einer immanenten Ambivalenz lässt sich ebenfalls in Humperdincks (bereits wagnerianisch beeinflusster) Oper “Hänsel und Gretel” feststellen, aber auch schon in der frühromantischen Musik, die der junge Mendelssohn zu Shakespeares “Sommernachtstraum” komponiert hat.

Bei Wagner selbst ist der Wald in all seinen Facetten von zentraler Bedeutung – nicht nur als landschaftliche Umgebung und Urgrund allen Lebens (im Fall des Rheins), sondern auch als ein mythisches Motiv der Mensch-Tier-Barriere überwindenden Naturverbundenheit: Siegfried versteht “die Sprache” des Waldvogels, und Parsifals Vergehen, das ihn auf seine Bewusstwerdungsodyssee schickt, beginnt nicht zufällig mit der Untat der Erlegung eines Schwans. Dass der “Karfreitagszauber” im “Parsifal” bereits religiös unterlegt ist (was Nietzsche Wagner nicht verzeihen mochte), ändert nichts an der Naturseligkeit dieser Musik.

Der marschierende Wald

Indes, diese deutsche Waldbegeisterung hatte auch ihre dunkle politische Kehrseite. In “Masse und Gewalt” schreibt Elias Canetti:

“Das Massensymbol der Deutschen war das Heer. Aber das Heer war mehr als das Heer: es war der marschierende Wald. In keinem modernen Lande der Welt ist das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland.”

Einer der schlimmen Nebeneffekte der von der völkischen Ideologie im 20. Jahrhundert gezeitigten Zerstörung erweist sich an der Beschädigung, die sie der romantischen Fähigkeit, sich dem Naturschönen hinzugeben, zugefügt hat. Die Blut-und-Boden-Doktrin hat den Boden mit dermaßen viel Blut getränkt, dass Natur zum Bestandteil einer verruchten Weltanschauung wurde, die es nicht mehr ermöglicht, die Geheimnisse des deutschen Waldes als Ursehnsüchte nach etwas “Purem”, wesentlich unkorrumpiert und “bezaubernd” in seiner Erscheinung, und eben nicht als eine schrecklich-schöne Komplementärvision zu Auschwitz zu erfahren. Im Bewusstsein des Vernichtungslagers fühlt man stets die Schuldgefühle hochsteigen, wenn man von der Herrlichkeit der Waldvision, in welche man versinken möchte, überkommen wird.

Canetti schrieb noch vom Deutschen: “Er sucht den Wald, in dem seine Vorfahren gelebt haben, noch heute gern auf und fühlt sich eins mit den Bäumen.” Stimmt das noch?

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Ein Kommentar

  1. ““Er sucht den Wald, in dem seine Vorfahren gelebt haben, noch heute gern auf und fühlt sich eins mit den Bäumen.” Stimmt das noch?”

    Ja.
    Und ich bin bestimmt kein “Grüner”.

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