Parsifal und die „Rückkehr zur christlichen Symbolik“

Amalie Materna als Kundry mit Ernest van Dyck als Parsifal, Bayreuth 1889. Bild: Public domain

Warum sich Nietzsche von Wagner und Bayreuth zu entfernen suchte

Man sollte gemeinhin Werk und Person auseinanderhalten. Das Werk ist es letztlich, was die Identität des Künstlers als solchen ausmacht. Nicht also sollte man von der Biographie auf die Werkgenese bzw. aufs Werk selbst schließen wollen, sondern, wenn überhaupt, vom Werk ausgehen, um auf die Person qua Künstler zu schließen.

Diese Grundeinsicht erhärtet sich, wenn man bedenkt, dass wir über die allermeisten Künstler in der Kulturgeschichte herzlich wenig wissen; erst der Moderne war es dank epistolarer und gängiger Tagebuchpraxis überhaupt möglich geworden, sich für den Künstler als Person interessieren zu wollen.

Darüber hinaus weiß man aber auch, dass zwischen dem Werk und dem, was man über die das Werk schaffende Person weiß, oft genug Unvereinbarkeiten, ja krude Widersprüche bestehen. Wie kommt ein Misanthrop vom Schlage Schopenhauers dazu, die wohl bedeutendste säkulare Mitleidsphilosophie der Neuzeit zu verfassen? Wie erklärt sich, dass der in seinem Privatleben allgegenwärtige Antisemitismus Richard Wagners keinen Eingang in sein Werk gefunden hat? (In diesem einen Punkt irrte Adorno). Wie kompatibel sind die langweiligen Tagebucheintragungen Dostojewskis mit seinen an psychologischer Tiefe kaum übertroffenen Romanen? Darüber hinaus und im gleichen Zusammenhang: Ist das Wissen um Dostojewskis Epilepsie notwendig, um den literarischen Stellenwert dieser Krankheit bei der Romanfigur Fürst Myschkin zu begreifen?

Und doch kommt man bei Beurteilung der Beziehung von Nietzsche und Wagner nicht umhin, Persönliches mit einzubeziehen, und zwar schon deshalb, weil das Werk Nietzsches vor intensiver Beschäftigung mit Wagner nachgerade überquillt – sowohl in den Phasen harmonischer Übereinstimmung als auch in denen der schmerzerfüllten Trennung, besonders auf Nietzsches Seite. Man kann sich kaum des Eindrucks erwehren, dass eine ödipale Tiefendimension der Abkühlung der Beziehung zwischen beiden bis zu deren völligen Zusammenbruch zugrunde lag. Davon zeugt nicht zuletzt Nietzsches Eigendiagnose in seinen Briefen und Schriften. Nietzsche war ja dafür bekannt, nicht nur formal, sondern durchaus auch inhaltlich Persönliches im philosophischen Werk zu thematisieren. Das darf durchaus als Vorteil gelten, wenn sich Philosophen einer solchen Praxis verschreiben, geniale Philosophen zumal: Sie bewältigen ihre Leiderfahrung philosophisch, verraten mithin nicht die Kohärenz von Werk und Person, weil sie – vom Medium der Bewältigung her gesehen – den Vorrang des Werks wahren.

„Wagner“ als „Haschisch“

Es wird wohl nie bis zum letzten zu klären sein, warum Nietzsche meinte, sich von Wagner und Bayreuth entfernen zu müssen. Sein Diktum: „Wenn man von einem unerträglichen Druck loskommen will, so hat man Haschisch nötig. Wohlan, ich hatte Wagner nötig“, deutet darauf, dass er an und mit Wagner heilend Wohltuendes erfuhr, zugleich aber auch in eine rauschhafte Abhängigkeit geriet, von der er sich loslösen musste.

Wenn in solchen Kategorien geredet wird, mag der Eindruck aufkommen, Psychisches werde publik gemacht, Heteronomes also zum Wesen erhoben. Zu fragen bleibt gleichwohl, ob dies Psychische nicht auf etwas Grundsätzlicheres verweist, namentlich, ob besagter „unerträglicher Druck“ nicht Existenziellem zuzuordnen ist, und ob „Wagner“ als „Haschisch“ also nicht das meint, was Wagners (heilende) Genialität ausmacht – sein Werk und die es leitenden Ideen.

Als zentraler Beweggrund von Nietzsches Wagner-Abkehr im Bereich des Ideellen wird gemeinhin des Komponisten „Rückkehr zur christlichen Symbolik“, wie sie sich im „Parsifal“ manifestiert habe, angeführt. Es fällt nicht schwer, diesem Vorwurf des Philosophen gegen seinen väterlichen Freund nachzufühlen – eine solche „Rückkehr“ musste in unversöhnlichem Gegensatz (und gesinnungslogischem Widerspruch) zu Nietzsches an Radikalität kaum zu überbietenden Religionskritik stehen. Das Werk selbst strotzt in der Tat vor zentralen religiösen Motiven des Christentum – dem Gral, der Taufe, dem Abendmahlsritual und einer es beseelenden Erlösungsemphase. Es erhebt sich indes die Frage, von was für einer Religion und welchem Christentum die Rede ist.

In seinem 1880 verfaßten Aufsatz „Religion und Kunst“ legt Wagner Rechenschaft darüber ab, wobei er auf den inneren Zusammenhang beider im Titel des Aufsatzes apostrophierten Kulturbereiche verweist. Paradigmatisch für die Erörterung dieses Zusammenhangs behauptet er: „Man könnte sagen, dass da, wo die Religion künstlich wird, der Kunst es vorbehalten sei, den Kern der Religion zu retten, indem sie die mythischen Symbole, welche sie im eigentlichen Sinne als wahr geglaubt wissen will, ihrem sinnbildlichen Werte nach erfasst, um durch ideale Darstellung derselben die in ihnen verborgene tiefe Wahrheit erkennen zu lassen.“

Was aber die Religion selbst anbelangt, stellt sich heraus, dass es ihm weit mehr um den Buddhismus, eine Religion ohne Gott, Himmel und Hölle, und letztlich um Schopenhauers Mitleidsphilosophie zu tun ist, als um die gestandene Theologie des Christentums. Der Aufsatz beinhaltet eine merkwürdige Melange aus harscher Kritik des institutionalisierten Christentums, bekundetem Widerwillen gegen den jüdischen Schöpfergott Jehova, Mitleid mit den Menschen, insoweit es sich um die „Armen am Geiste“ handelt, zugleich gekoppelt mit einem übergreifenden Ekel vor dem fleischfressenden Menschengeschlecht und einer damit einhergehenden Vegetarismus-Ideologie sowie einer Vision der „aus dem tiefen Boden einer wahrhaftigen Religion“ erwachsenen menschlichen Regeneration, bei der die Abkehr von Fleischkonsum, die heilende Kraft von Kunst und Musik eine gewichtige Rolle spielen, mithin sein eigenes „Bühnenweihfestspiel Parsifal“ als ein „weihevoll reinigender religiöser Akt“ wirken soll.

Wozu bedarf es dann aber eines Christus, wenn Gott selbst (mit dem Buddhismus) und letztlich die Religion insgesamt (mit dem Schopenhauerischen Atheismus) in Abrede gestellt werden soll? Wagners Selbstherrlichkeit mal beiseite gestellt und den Defiziten seiner philosophischen Theoriefähigkeit nachgesehen – man versteht sehr gut, was Nietzsche an Wagners „Rückkehr zur christlichen Symbolik“ irritieren, wenn nicht regelrecht abstoßen musste. Denn wenn es sich nicht um eine ernstzunehmende Rückkehr zur Religion (bzw. zu deren Symbolen handelte), dann konnte Wagners Umgang mit ihr nichts als schändliche Koketterie sein – ähnlich wie Wagners frühe Revolutionsemphase im realen Politischen zur Monarchie-affinen Reaktion geronnen war.

Ein radikaler Philosoph wie Nietzsche, der einen gesamten philosophischen Kosmos ausgehoben hatte, weil er keinen Kompromiss kannte, konnte sich nicht mit der ideologischen Frivolität des einst Angebeteten abfinden. Er musste mit „Carmen“ aufwarten – keine größere Beleidigung für Wagner als dieses Werk in der Tradition der von ihm verachteten französischen Grand opéra als essentieller Gegenentwurf zu seiner Gesamtkunstwerk-Konzeption –, um sich künstlerisch-philosophisch von jenem zu verabschieden, den er freilich im Persönlichen nie wirklich zu überwinden vermochte. Dass aber „Parsifal“ beim Publikum (und offenbar auch beim deutschen Kulturestablishment) zur Karfreitags-Oper gerinnen sollte, gibt Nietzsche mutatis mutandis noch im Nachhinein Recht.

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