Kitsch

Kitsch ist ein schwer festlegbarer Begriff. Man weiß ungefähr, was er meint, kommt ihm aber kaum je mit einer allgemeingültigen Definition bei. Dabei haben viele Autoren, mithin tiefschürfende Denker und Kulturforscher sich mit dem Phänomen des Kitschs befaßt. Zwar ist das Verhältnis zu ihm bei nahezu allen negativ gefärbt, aber das eigentlich Pejorative an seiner Erscheinung entgleitet einem, sobald man versucht, sich seiner mit Beispielen habhaft zu werden. Und so läßt sich sagen: Die entschiedenen Kritiker des Kitschs mögen sich das Diktum Hermann Brochs, der die wohl rigoroseste Kitschkritik im 20. Jahrhundert verfaßt hat, zu Herzen nehmen, er selbst sei nicht gegen den Kitsch gefeit. Diejenigen, die darin eine Rechtfertigung für ihre Affinität zum Kitsch sehen zu dürfen meinen, mögen seinen Text lesen.

Umberto Ecos Anschauung, wonach sich der Kitsch als eine Art Prätention erweise – sich für autonome Kunst auszugeben, obwohl er in heteronomen Zusammenhängen erscheint, die den Kitschakt als das dem Anspruch Unangemessene entlarven – trifft die Sache und ist doch zugleich problematisch. Sie trifft die Sache, weil sie auf die autonome Kunst als Quelle des Kitschs verweist und nicht auf irgendeine von dieser abgetrennte Sphäre der Kunstpraxis. Sie ist gleichwohl problematisch, weil sie den Zusammenhang zum Kriterium der Bestimmung des Heteronomen erhebt. Nicht, daß das Heteronome durch etwas anderes als durch das, was sich außerhalb des autonomen Geltungsbereichs befindet, also durch den Zusammenhang, bestimmt werden könnte. Und doch erhebt sich die Frage: Worüber sonst noch ließe sich sagen, daß es sich nicht in diesem oder jenem Maß durch seinen Zusammenhang bestimme? Eco meinte eine gewisse Art von Heteronomie: ein Gemälde von Kandinsky als Muster für den Bezug eines Sofas zum Beispiel. Wenn dieser bestimmte Kontext den Rest der Aura von Kandinskys Werk abtötet, sodaß sogar das geringste Aufscheinen dessen, was es ursprünglich war, unmöglich wird, dann hat Eco recht. Aber wenn er recht hat – bewirken nicht die rasante Globalisierung der Kulturindustrie und ihr unaufhaltsames Eindringen sogar in die entlegensten Nischen des Lebens, daß die Welt insgesamt zu einem einzigen Kitschzusammenhang wird?

Ein erlebtes beispiel: Im WC eines Landhotels in England, einem kleinen Raum, dessen Wände mit blumigen Tapeten bedeckt sind, hängt eine Reproduktion der „Mona Lisa“. Die Farben des Bildes sind verblaßt und haben sich in eine braun-grünliche Soße verwandelt, ein monochromes Gemisch, das den prächtigen Rahmen der Reproduktion Lügen straft. Der WC-Benutzer fragt sich, was wohl die Quelle jenes mächtigen Kitschgefühls sein mag, welches ihn unweigerlich erfaßt, sobald er den Raum betritt: das Kunstwerk an diesem bestimmten Ort? Die schlechte Reproduktion im prachtvollen Rahmen? Oder etwa die das Bild bedeckende Grüne, die die Ursprungsfarben in skandalöser Weise entstellt? Vielleicht ist es aber auch keines von diesen; vielleicht ist das Kitschgefühl an sich unangebracht? Man denke nur an die Möglichkeit, daß jemand vom Kaliber eines Marcel Duchamp die frivol augenzwinkernde Schrecklichkeit veranstaltet hat. Kitsch also als ein subversiver Akt, wie er von Jeff Koons sogar zu einer Art Kunstmanifest erhoben und materiell verwirklich worden ist.

Nun, Jeff Koons ist (kommerziell) erfolgreich, und das an sich mag ihm schon als Nachteil angekreidet werden. Es ist aber nicht wahr, daß die Popularität eines Werks (auch nicht, daß es zum „Bestseller“ oder „Hit“ avanciert ist) notwendig seine Minderwertigkeit indiziert, weil es vermeintlich den Publikumsgeschmack bediene. Viele, ganz unterschiedliche Gründe können die wohlwollende Aufnahme eines Kunstwerks beeinflussen. Das breite Publikum mag die volle Komplexität des Werks, seine verschlungenen Schichten und angedeuteten Raffinessen nicht erfaßt haben, sondern nur seine äußeren, leichter zugänglichen und verdaubaren Elemente. Die Aura vergangener positiver Rezeption mag die Tradition kanonisierter, mithin unanfechtbarer Begeisterung in Gang gesetzt haben – eine zwar heteronome, zugleich aber auch suggestive Aufnahme, die die Begeisterung stets aufs neue befeuert. Nicht auszuschließen auch, daß sich das manipulative Vermarktungssystem des Werks immer wieder effektiv auswirkt. Es kann aber auch sein, daß das Publikum im Laufe der Zeit einfach gelernt hat, das Werk aufgrund längerer, intensiver und „intimer“ Berührung mit ihm zu schätzen. Das will freilich nicht besagen, daß die Popularität des Werks nicht werkimmanenten, mit dem Publikum liebäugelnden Elementen, die sich aus instrumenteller Materialanordnung und einer mit dieser einhergehenden Effekthascherei ergeben, geschuldet ist. Nur läßt sich daraus nicht schließen, daß sich diese Popularität notwendig vom Werkinnern ableitet. Und dennoch kann man sich einer anderen Gefahr, der die populären Werke ausgesetzt sind, nicht verschließen, und zwar selbst dann, wenn die Werke diese durch Form und Inhalt nicht provozieren: ihrer unabwendbaren, durch permanente Anwesenheit in der Kultursphäre wie auch durch die zu häufige Aufführung, die sich dem penetranten Willen des sie immerfort würgend-liebenden Publikums verdankt, hervorgerufenen Ausreizung. Das Problem liegt nicht in den Werken selbst, sondern in deren Potential, von der würgenden Umarmung des Publikums ereilt zu werden – in deren Rezeption. Der Autor des Werks hat keinerlei Handhabe über diese Aufnahmemechanismen. Das Publikum auch nicht – es „liebt“ einfach das Werk.

Wie eingangs angemerkt, ist Kitsch für Hermann Broch eine zutiefst ernste, weil auch gefährliche Kulturerscheinung. Jemand, der Kitsch herstellt, ist ihm zufolge „nicht einer, der minderwertige Kunst erzeugt, er ist kein Nichts- oder Wenigkönner“, sondern er ist jemand, der Böses verursacht: “[…] er ist kurzerhand ein schlechter Mensch, er ist ein ethisch Verworfener, ein Verbrecher, der das radikal Böse will. Oder etwas weniger pathetisch gesagt: er ist ein Schwein.“ Broch ist es in der Tat um Kitsch in allen Lebensbereichen, nicht zuletzt in der Politik und der Ökonomie zu tun, wobei das Seriöse dieser Bereiche, zuweilen ihr Todernstes, zur emotionalisierten Seichtigkeit und pathoserfüllten Oberflächlichkeit verkommt. Mit Bezug auf Hitler als „Rein-Inkarnation“ des Spießergeistes schreibt er:„Vielerlei Gründe lassen sich für das böse Phänomen anführen, beispielsweise das Abreißen der abendländischen Werttradition sowie die hierdurch bewirkte seelische Unsicherheit und Haltlosigkeit, von der eine so traditionsschwache Zwischenschicht wie das Spießertum sicherlich am intensivsten erfaßt worden ist.“

Bedenkt man, was in den Jahrzehnten seit Brochs Schrift die Kulturindustrie alles verbrochen hat, wie kitsch-verlogen Politiker und Staatsmänner heute vermarktet und gewählt werden, mit welch kitschigem Ballast Waren beworben, Ideologien verpackt, ja ganze Lebensentwürfe in vorgefertigten Kitschmustern eingebettet werden, und wie wenig die kitschdurchseuchten Sphären der Politik, der Wirtschaft und der Kultur von ihren durch überbordernde Kitschrhetorik indokrinierten „Konsumenten“ reflektiert werden, ermißt man erst, wie aktuell Brochs Erkenntnisse als unheilvolle Erbschaft der Moderne geblieben sind.

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