„Geißel der Menschheit“ von Lord Russell of Liverpool

Massenmord an sowjwtischen Zivilisten 1941. Bild: gemeinfrei

 

Im Jahr 2020 ist das Buch „Geißel der Menschheit“ von Lord Russell of Liverpool, das erstmals 1956 erschienen war, im Westend-Verlag erneut veröffentlicht worden. Warum?

Im Prolog zu seinem 1956 auf Deutsch erschienenen Buch „Geißel der Menschheit“ schreibt Lord Russell of Liverpool: „Während des zweiten Weltkrieges […] wurden von deutscher Seite Kriegsverbrechen in einem noch nie dagewesenen Ausmaß begangen. Sie waren Bestandteil der nazistischen Konzeption des totalen Krieges und wurde auf Grund eines vorher ausgearbeiteten und vereinbarten Planes verübt, dessen Ziel es war, die Einwohner der überfallenen und besetzten Gebiete zu terrorisieren und auszubeuten und alle die Menschen zu vernichten, die den deutschen Eroberern und der Naziherrschaft besonders feindlich gesinnt waren.“

Mit Bezug auf die in den Nürnberger Prozessen angeklagten Hauptkriegsverbrecher im deutschen Generalstab und Oberkommando zitiert Lord Russell das gefällte Urteil, in welchem es u.a. heißt, diese Männer seien „in großem Maße verantwortlich gewesen für die Leiden und Nöte, die über Millionen Männer, Frauen und Kinder gekommen sind. Sie sind ein Schandfleck für das ehrenhafte Waffenhandwerk geworden. Ohne ihre militärische Führung wären die Angriffsgelüste Hitlers und seiner Nazikumpane akademisch und ohne Folgen geblieben […], sie waren eine rücksichtslose militärische Kaste […]. Viele dieser Männer haben mit dem Soldateneid des Gehorsams gegenüber militärischen Befehlen ihren Spott getrieben. Wenn es ihrer Verteidigung zweckdienlich ist, so sagen sie, sie hatten zu gehorchen; hält man ihnen Hitlers brutale Verbrechen vor, deren allgemeine Kenntnis ihnen nachgewiesen wurde, so sagen sie, sie hätten den Gehorsam verweigert. Die Wahrheit ist, daß sie an allen diesen Verbrechen rege teilgenommen haben oder in schweigender Zustimmung verharrten, wenn vor ihren Augen größer angelegte und empörende Verbrechen begangen wurden, als die Welt je zu sehen das Unglück hatte.“

Das Präzedenzlose der deutschen Kriegsverbrechen

Es hätten viele andere Textstellen herangezogen werden können, aber schon diese beiden aus dem Prolog mögen als paradigmatisch für Lord Russells gesamtes Werk angesehen werden. Es fällt zunächst auf, dass der Autor das Präzedenzlose der deutschen Kriegsverbrechen, zugleich aber auch ihren unglaublichen Umfang ins Auge fasst. Dieser Punkt muss hervorgehoben werden, denn sosehr sich der Diskurs um die deutschen Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg in der Forschung späterer Jahre gemeinhin auf den an den europäischen Juden verbrochenen Holocaust und seine Einzigartigkeit konzentriert hat, darf nicht übersehen werden, dass die Untaten der Nazis weit mehr umfassten als die Monstrosität des Holocaust.

Lord Russell befasst sich zunächst mit den institutionellen Apparaten der Nazi-Tyrannei, ihren Strukturen und Funktionen (etwa denen der SS, der Gestapo und der Wehrmacht), um dann ihre Praxis und Wirkmächtigkeit bei der Verübung unterschiedlicher Kategorien von Kriegsverbrechen kenntnisreich anzuvisieren: Erörtert werden Verbrechen, die an Kriegsgefangenen, aber auch bei Vorfällen auf hoher See begangen wurden; gegen Zivilbevölkerung gerichtete Verbrechen wie auch die Schrecken der Zwangsarbeit und der Konzentrationslager; Ereignisse wie die Massaker von Lidice und Malmedy sowie die Zerstörung des Warschauer Ghettos oder etwa die von der deutschen Bevölkerung an gefangenen Angehörigen der Luftwaffenbesatzungen von Alliierten verübten Lynchmorde werden dargestellt und analysiert; so auch der Tod von vier Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen und schlimmste, von einzelnen deutschen Offizieren begangene Verbrechen.

Es erhebt sich freilich die Frage, welche aktuelle Relevanz dieses Unterfangen heute noch haben kann. Man mag einwenden, dies alles sei ja schon längst bekannt, die Forschung habe doch bereits den größten Teil dieser Verbrechen, ihrer Mechanismen, Abläufe und Ideologie zutage gefördert. Was kann man schon, so besehen, einer Schrift abgewinnen, die vor über sechzig Jahren publiziert worden ist?

Nun, für den kundigen Fachmann mag die erneute Veröffentlichung dieses Buches in der Tat überflüssig sein. Es ist allerdings anzunehmen, dass er dieses bedeutende Werk aus der Vergangenheit ohnehin schon gekannt hat. Gleichwohl muss hervorgehoben werden, dass Lord Russells Buch nicht (nur) für die Fachwelt geschrieben worden war; es erhob durchaus den Anspruch, einem breiten Publikum zu unterbreiten, welch verbrecherischen Schrecken und unvorstellbares Grauen das Naziregime verursacht und generiert hat. Nicht von ungefähr avancierte das unter dem Originaltitel „The Scourge of the Swastika“ 1954 in London veröffentlichte Werk zum Bestseller in Großbritannien; so auch die zwei Jahre später vorgelegte deutsche Übersetzung in beiden deutschen Staaten. Das Buch wurde zudem in andere Sprechen übertragen und mit Erfolg in vielen Ländern publiziert.

Die Sedimentierung historischen Wissens

Wenn es also um die breite Öffentlichkeit geht, ist die Wiederveröffentlichung dieses „Klassikers“ ganz und gar nicht überflüssig. Denn in populären Sphären sedimentiert sich kulturelles, mithin historisches Wissen gemeinhin kodiert. Selbst gebildete Rezipienten bewahren Gelesenes und Angeeignetes als kodierte Schlagworte, Slogans oder Parolen, die zwar stets abrufbar sein mögen, aber mit zunehmender Distanz zum Zeitpunkt der Aneignung immer mehr verblassen beziehungsweise sich eben zum Code verhärten oder gar versteinern.

Man kennt als elementar Gebildeter „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“, die Namen Ludwig XVI., Robespierre, Danton und Napoleon, wohl auch Bastille, Guillotine, Terror und Tricolore als Begriffsmatrix der Französischen Revolution, kann vermutlich einiges mit ihnen assoziieren, aber damit hat es sich auch schon für gewöhnlich. Sehr oft wird die spärliche Rezeption zudem ideologisch befrachtet – die „Französische Revolution“ ist dann nur Gewaltherrschaft oder nur Freiheitskampf. Zur Erörterung der dialektischen Beziehung von Freiheit und Gewalt reicht es nicht mehr.

Nimmt man noch Jan und Aleida Assmanns Konzept des „kommunikativen Gedächtnis“ hinzu, lässt sich behaupten, dass das, was ehedem den mündlich-aktuellen Diskurs der Großelterngenration ausmachte, beim Diskurs der Enkelgeneration weitgehend in Vergessenheit gerät. Im Fall der Nazigeneration dürfte sich der Vergessensakt der Enkelgeneration noch eklatanter ausnehmen, nicht zuletzt, weil er sich einem Verdrängungsakt der großelterlichen Generation anschloss.

Diese Verdrängung zeitigte nicht zuletzt den Stellenwert, den die Wehrmacht im deutschen kollektiven Gedächtnis über Jahrzehnte einnahm. Bis zu der von Jan Philipp Reemtsmas „Hamburger Institut für Sozialforschung“ von 1995 bis 1999 und dann von 2001 bis 2004 korrigiert verbreitete Wehrmachtausstellung war die Wehrmacht als kriegerische Gewaltinstitution einigermaßen tabuisiert. Die Widerstände gegen die Ausstellung bei Teilen der breiten Öffentlichkeit machten erst eigentlich klar, wie sehr im Grunde noch gar nichts an der Auseinandersetzung mit den Naziverbrechen abgehakt und ad acta gelegt werden konnte. Gerade unter diesem Gesichtspunkt, und ja, auch unter dem einer zunehmenden Verdrossenheit an der Vergangenheit und dem Verlangen nach einem „Schlussstrich“, das sogar Neonazismus in der politischen Sphäre Deutschlands mit allen diesem inhärierenden sozialen und ideologischen Ableitungen salonfähig zu machen vermag, ist die Neuauflage von Lord Russells „Geißel der Menschheit“ an der Zeit. Politische Mahnung, deren man sich schon überdrüssig wähnte, wird in der gegenwärtigen Konstellation nicht nur, aber offenbar auch in Deutschland notwendig.

Unerwünschte Veröffentlichung des Buches

Aber es gibt einen weiteren Aspekt, der die erneute Veröffentlichung des Buches mehr als willkommen werden lässt. Als Gesandter Generalanwalt der Britischen Rheinarmee gehörte Lord Russell zu den Hauptrechtsberatern während der Kriegsverbrechertribunale nach dem Zweiten Weltkrieg. Nun erfährt man aber aus den biographischen Notizen zu seiner Person, dass er wegen der Veröffentlichung seines Buches im Jahre 1954 von seinem Regierungsposten zurücktrat bzw. zurücktreten musste.

Der „offizielle“ Grund dafür war die Anschuldigung, Lord Russell habe seine Position missbraucht, um persönlichen Profit aus den von ihm untersuchten Kriegsverbrechen zu schlagen. Als aber der „Daily Express“ Auszüge aus dem Buch veröffentlichte, schimmerte ein anderer möglicher Grund durch. Die Auszüge wurden nämlich unter der Überschrift „Das Buch, das sie verbieten wollten“ publiziert. Warum sollte man die Veröffentlichung eines Buches mit dem Untertitel „Kurze Geschichte der Nazikriegsverbrechen“ in Großbritannien verbieten wollen?

Einen Hinweis auf die Beantwortung dieser Frage erhält man aus einer weiteren biographischen Notiz zu Lord Russell und seinem Werk: „Das Buch wurde 2008 in den USA neu aufgelegt und mit einem Vorwort von Alistair Horne versehen. Dieser war 1954 Auslandskorrespondent des ‚Daily Telegraph‘ in Deutschland und hatte die ursprüngliche Veröffentlichung scharf kritisiert, weil sie einem Antigermanismus Vorschub leistete, der die internationale politische Wiedereingliederung Adenauers Bundesrepublik Deutschland behindern konnte und Angst vor dem Aufbau deutscher Streitkräfte im international kontrollierten Rahmen der NATO schürte. In der neuen Ausgabe verschiebt Horne den Fokus der Rezension weg von der Einmaligkeit deutscher Übel auf die Dimension des Bösen, zu dem der Mensch überhaupt fähig ist.“

Um dies vertieft zu erörtern, kann man von der Frage ausgehen, wie es dazu kam, dass das Land der Täter, welches Auschwitz verbrochen hatte, und das Land der Opfer, das sich als Zufluchtsstätte aller verfolgten Juden der Welt verstand, ganze sieben Jahre nach der Befreiung von Auschwitz zum kontroversen Tauschvertrag der sogenannten „Wiedergutmachungsabkommen“ von 1952 gelangten. Mit Moral hatte dies nur in einem zynischen ideologischen Sinne etwas zu tun. Denn was auf der Tagesordnung stand, war die im Rahmen des ausgebrochenen Kalten Krieges zu befestigende Neuordnung der Welt und die mit dieser neuen Weltteilung einhergehende Ortsbestimmung Deutschlands, welches es freilich alsbald zweifach geben sollte.

Einzig aus diesem geopolitischen Zusammenhang ist zu erklären, dass nicht Henry Morgenthaus Vision, Deutschland zum Agrarland degenerieren zu lassen, sondern George C. Marshalls Plan, dem westlich besetzten Deutschland wirtschaftlich wieder zum Aufschwung zu verhelfen, Gehör und Aufnahme fand. Die westdeutsche Republik sollte als Bastion des Westens gegen den expandierenden Kommunismus errichtet und gestärkt werden.

Mit dieser Funktionalisierung Deutschlands im Kontext der Konsolidierung des globalen Blocksystems ging allerdings einher, dass das jüngst erst als Naziregime zusammengebrochene Deutschland wieder als geläutertes in die „Völkergemeinschaft“ aufgenommen werden musste, was – abgesehen von diversen „Entnazifizierungs“maßnahmen und anderen äußeren Purifizierungspraktiken – nicht zuletzt auch mit dem staatsoffiziellen Willen zur „Wiedergutmachung“ des an den Juden Verbrochenen demonstriert werden sollte. Der gerade zu jenem Zeitpunkt gegründete Judenstaat bot sich dafür wie von selbst an. Abgesehen von den privaten „Entschädigungen“, konnte an ihm das Verlorene abbezahlt werden.

Und Israel? Wie reagierte das Land, das aus der Shoah entstanden war? Nun, Israel konnte das Geld nur zu gut gebrauchen. Eine bald schon einsetzende Masseneinwanderung (vor allem aus den orientalischen Ländern), die Notwendigkeit, schnellstmöglich eine Infrastruktur für das zivile Leben zu schaffen, nicht minder aber auch der Bedrohung durch die feindlichen arabischen Nachbarländer mit der Bildung einer schlagkräftigen Armee zu begegnen, steigerten Israels objektiv vorgegebene Abhängigkeit von massivem Kapitalimport zur akuten Krise, die ihre katastrophale Wirkung auch auf die schiere Existenzfähigkeit des Landes haben mochte.

Es ist, so besehen, nachvollziehbar, dass Ben-Gurion pure Zweckrationalität walten ließ und sich weder von den emphatischen Demonstrationen gegen die Abkommen aufseiten der rechten Revisionisten der israelischen Politlandschaft, Begins Cherut-Partei, noch von den lautstarken Protesten der sozialistischen Zionisten und antizionistischen Kommunisten beirren ließ. Die Finanzierung des zionistischen Staatsprojekts musste für ihn, dem Gründer und führenden Staatsmann Israels jener Jahre und pragmatischen Führer einer aktivistischen politischen Tradition, den absoluten Vorrang vor jedweder moralischen Erwägung wahren. Um seine Politik durchzusetzen und seine Gegner abzuwehren, war er sogar bereit, die alte BRD als ein „anderes Deutschland“ zu apostrophieren.

Nur verständlich also, dass man sich beidseitig auf den Handel einließ: Deutschland zahlte, und Israel ließ sich bezahlen. In der spezifischen Konstellation jener Tage war besagte Instrumentalisierung von Vergangenem für ein Gegenwärtiges, das sich dem jüngst Geschehenen zu entschlagen suchte, realpolitisch vielleicht eine unumgehbare Notwendigkeit. Und es ist in diesem geopolitischen Kontext der Nachkriegszeit, dass man den Versuch, Lord Russells Buch zu verhindern, begreifen muss.

„Antigermanismus“?

Denn dass sich Alistair Horne 1954 gegen einen „Antigermanismus“ verwahren zu sollen meinte, hatte ja nichts mit einer wie immer zu denkenden Deutschlandliebe zu tun. Was sollte es schon an Deutschland, an Westdeutschland zumal, ein Jahrzehnt nach Auschwitz zu lieben geben? Nein, es ging um Realpolitik bzw. um Realpolitik in der infolge des Zweiten Weltkriegs entstandenen geopolitischen Situation.

Die Angst vor dem Kommunismus, mithin die Bedrohung, die für den Westen vom sich im Zuge des Kalten Krieges zunehmend konsolidierenden Blocksystems ausging, war es, die es opportun erscheinen ließ, ein notwendiges, bahnbrechendes Buch wie „Geißel der Menschheit“ verbieten zu wollen. Da man Deutschland für die Neuaufstellung des neuen globalen Machtverhältnisses brauchte, durften keine (wie immer verständlichen) antideutschen Ressentiments zugelassen werden. Lord Russells Buch „Geißel der Menschheit“ konnte man da nicht gebrauchen.

Und darin ist der zweite wesentliche Grund für die Angemessenheit einer neuerlichen Veröffentlichung dieses Buches zu sehen. Denn nicht nur handelt es sich um ein epochales Werk, das sehr frühzeitig leistete, was zum Paradigma der Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit gerinnen sollte. Darüber hinaus lehrt uns der Kontext seiner Entstehung, mithin der realpolitisch motivierte Versuch seiner (freilich erfolglos gebliebenen) Unterdrückung, auch etwas über das Problem der ideologischen Instrumentalisierung von Geschichte und die durch machtlogische, heteronome Interessen herausgeforderte Wahrhaftigkeit. Die Neuauflage von Lord Russells „Geißel der Menschheit“ darf, so besehen, auch für eine geschichts- und ideologiekritische Bestrebung erachtet werden.

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