Elitismus

Wiener Staatsoper. Bild: R Boed /CC BY-2.0

 

„Elitismus“ wird gemeinhin im Kulturdiskurs als Attribut von Überheblichkeit und Anmmaßung verworfen. Aber stimmt diese gängige Zuschreibung einfach so? Kann der Begriff nicht auch etwas Emanzipatorisches zum Inhalt haben?

 

Das Verhältnis zum Begriff des Elitären ist kontrovers. Es kommt darauf an, wie man ihn konnotiert. Er mag zum einen die Auslese der/des Besten im positiven Sinne anzeigen, zum anderen aber den Dünkel jener meinen, „die sich für etwas Besseres halten“, mithin aus ihrem (vermeintlichen) Bessersein hierarchsierendes Kapital schlagen. Der Umgang mit der Kategorie „Elitismus“ bedarf also der Differenzierung.

In seinem Aphorismenwerk „Minima Moralia“ bezog sich Theodor Adorno auf jene „kultivierte Banausen“, die vom Kunstwerk verlangen, „dass es ihnen etwas gebe“. Wenn es sich um ein avantgardistisches, mithin radikales Werk handelt, zögen sie sich auf die „unverschämt bescheidene Behauptung“ zurück, sie verstünden es nicht. „Man sei eben zu dumm, zu altmodisch, man könne einfach nicht mit, und je kleiner man sich macht, um so zuverlässiger partizipiert man am mächtigen Unisono der vox inhumana populi, an der richtenden Gewalt des petrifizierten Zeitgeists. Das Unverständliche, von dem niemand etwas hat, wird aus dem aufreizenden Verbrechen zur bemitleidenswerten Narretei.“

Vorwurf des Elitismus

Man hat gegen diese Sicht des modernen Kulturfeldes den Vorwurf von „Elitismus“ erhoben. Nicht nur verstünde der so argumentierende Adorno offenbar nicht, welche subkulturellen Kodes sich den genuinen Rezipienten von Massenkultur in dieser – ihrer – Kultur darböten, sondern er maße sich darüber hinaus auch an, sein Verständnis von hoher Kultur den Massen als Maßstab zu setzen, ihnen gleichsam etwas abzuverlangen, dessen sie ihrem realen Dasein nach gar nicht mächtig sein könnten, mithin aber auch gar nicht zu sein bräuchten. „Seine“ hohe Kultur sei nun mal nicht die ihre.

Theoretische Schützenhilfe erhielt diese Kritik am Elitären von postmodernen Ansätzen, die teilweise einem rigorosen Kulturrelativismus das Wort redeten, daher auch jegliche Art vertikaler Hierarchisierung abgebaut wissen wollten. Dass dabei Sprache und Anspruch dieser Kritik am Elitären selbst einen elitären Diskurs reproduzieren, somit den schieren Tatbestand hierarchischer kultureller Praxis perpetuieren, indiziert, dass man sich selbst in der Kritik des Elitären seiner Kategorie nicht entwinden kann.

Hierarchien können nur dann umgestürzt werden, wenn man vom Tatbestand der Hierarchie ausgeht. Und wenn man eine solche voraussetzt, ist es stets angeraten, sich Rechenschaft darüber abzulegen, wie es zur Hierarchie gekommen ist: Als Ergebnis von Machtkonstellation, als Resultat eines in der Tat bestehenden besseren oder gar als (religiöse) Bestrebung nach Höherem? Gefragt sei hier nach dem Begriff des Elitären, das sich solch moralisierender Kritik ausgeliefert sieht.

 

Ein solcher Begriff basiert auf der Annahme, dass alles, was sich anmaßt, über Andere oder Anderes gestellt sein zu dürfen, ein demokratisches Postulat der Gleichheit a priori unterminiere. Dabei werden das Hochgesetzte und die schiere Praxis der Hochsetzung unzulässigerweise miteinander vermengt. Denn insofern sich Anti-Elitisten dem Inhalt und dem Wert des Hochgesetzten widersetzen, geschieht dies oft (mangels Kompetenz der Urteilsfähigkeit) aus Ressentiment – nicht selten aus kulturellem Abscheu vor dem „Anderen“ als dem „Unzugänglichen“.

Widersetzt man sich aber dem Akt der Hochsetzung als solchem, so gilt dies primär der Anmaßung der Überheblichkeit, wobei man dann hierarchisierende Qualitätsunterscheidungen der abstrakten Abweisung jeglicher Hierarchisierung unterwirft. Hierbei muss nun aber zwischen der gesellschaftlichen und der kulturellen Sphäre unterschieden werden. Denn als Forderung gegenüber sozialen Hierarchien darf dies nicht nur für legitim erachtet werden, sondern nachgerade als Essenz dessen, was man sich unter einer egalitären, einer klassenlosen Gesellschaft vorzustellen hat. Anders verhält es sich hingegen bei kulturellen Hierarchien.

Soziale Hierarchien

Dies bedarf der Erläuterung: Eine wahrhaft egalitäre Gesellschaft versteht sich nicht als soziale Gleichmacherei, die das Individuum in der Abstraktion der übergreifenden Kategorie seiner Zugehörigkeit untergehen lässt. Ganz im Gegenteil meint sie die Herstellung einer gesellschaftlichen Ordnung, in der jedes Individuum sich von jedem anderen unterscheiden darf, ohne dass sein Anderssein ihm Grund zu Angst und Furcht gibt.

Was jemanden im Anderssein in Angst zu versetzen vermag, ist soziale Ausgrenzung, Verfolgung und Repression. Daher ist die grundsätzliche Legitimität des Andersseins einzig durch die Schaffung einer Gesellschaftsordnung zu denken, welche die Repression objektiv erübrigt hat. Das übergreifend Gleiche dabei ist der jedem Individuum zugesprochene Anspruch auf ein authentisches Leben nach dessen eigenen Bedürfnissen und seinen individuellen Bestrebungen, sich persönlich zu entfalten und zu verwirklichen. In der egalitären Gesellschaft werden also nicht individuelle Unterschiede verwischt, sondern Hierarchien, die das Anderssein zur Quelle repressiver Erfahrung werden lassen, strukturell aufgehoben.

Kulturelle Hierarchien

Wie aber verhält es sich mit Hierarchien und Werturteilen im Kunstbereich? Adorno zufolge kann ja das Kunstwerk nicht je eigenen Bedürfnissen ausgesetzt werden, wie obigem Zitat zu entnehmen ist. Dennoch handelt es sich bei den antielitären Attacken auf seine Position um eine demokratisch sich dünkende Kritik. Nicht nur wird die Arroganz des „von oben“ argumentierenden Kulturkritikers angeprangert, sondern die schiere Vorstellung wird in Abrede gestellt, dass es nicht nur nominelle Unterschiede, sondern in der Tat hierarchisierende Maßstäbe für Kultur- bzw. Kunstleistungen geben könne. Affirmativ wird davon ausgegangen, dass das, was Menschen in ihren Lebenswelten kulturell durchleben, als solches, eben als das je Eigene, nicht hinterfragbar sei.

Man ehrt gewissermaßen die Menschen, indem man ihr Leben – „so, wie es ist“ – respektiert. Das Leben selbst wird zwar eingehend anvisiert, jedoch eher im Sinne eines Beschauens von Exotischem. Das authentisch Spezifische erweist sich dabei als Telos einer sich empathisch gerierenden Neugierde. Nun ist freilich nicht alles Authentische in dem von Adorno so benannten „Stande der Unfreiheit“ auch erstrebenswert. Das „authentische Leben“ in einem degenerierten Slum mag für den Außenstehenden den Reiz authentischer Subkultur, eben den genuiner Armut ausstrahlen; fraglich gleichwohl, ob es auf den notleidenden Slumbewohner einen ähnlichen Reiz ausübt. Selbst jedoch, wenn dies bejaht werden sollte, sei hier die zusätzliche Frage gewagt, ob man das vom notleidenden Subjekt „angenommene“ eigene Schicksal grundsätzlich zu akzeptieren hat, nur weil es von seinem (freilich selten selbst befragten) Träger aus vermeintlich „freiem Willen“ – gleichsam „selbstbestimmt“ – ertragen wird? Die Antwort hierauf dürfte sich bei jedem emphatischen, emanzipativ ausgerichteten Gesellschaftsbild von selbst bieten.

Um aber Inhalt und Gehalt des autonomen Kunstwerks beurteilen zu können, bedarf es einer Kompetenz – des von Pierre Bourdieu sogenannten kulturellen Kapitals –, die angeeignet werden muss. Das Kunstwerk spricht nie für sich selbst, sondern muss stets über den unmittelbaren emotiven Impact hinaus dekodiert und interpretiert werden. Dies kann nur mit erlerntem Wissen geleistet werden. Die Wissensaneignung selbst ist freilich dahingehend sozial strukturiert, als Teile der Gesellschaft gar nicht erst die Erfahrung einer Lern- und Aneignungspraxis machen. Dies ist zumeist klassen- und milieubedingt, wobei (Bourdieu zufolge) die durch die Schule scheinbar gegebene formale Chancengleichheit trügt, denn wer mit den Künsten bereits vor der Schulzeit in Berührung gekommen ist, kann erwiesenermaßen mit einem Bildungsvorsprung seinen Klassenkameraden gegenüber rechnen.

Geht es also um Erziehung zur Kunst im Sinne der Aneignung von Kunstkompetenz, ist deren Ermöglichung weitgehend gesellschaftlich bestimmt. Daran ändert nichts, dass die reale Zugänglichkeit von Wissenskompetenz sich durch die Entfaltung der digitalen Technologie, mithin der Vermittlung durch soziale Medien von Grund auf verändert hat. Die Bereitschaft, sich dieser Zugänglichkeit der neuen Bildungsmöglichkeit auszusetzen und zu bedienen, ist sozial, mithin eben selbst kulturell vorgeprägt.

Kulturindustrielle Egalisierung

Obwohl man also von sozialen Hierarchien der Kunst- und Kultursphären sprechen muss, wird das Postulat der Niederwerfung von Hierarchien und der Gleichheit der Kunstsphären aufrecht erhalten, ja noch prononcierter als je zuvor artikuliert. Es handelt sich hierbei vor allem um die Auswirkung der ideologisch vorbereiteten und technologisch garantierten Demokratisierung und Liberalisierung des Kunstfeldes im Zeitalter der modernen Massengesellschaft, und zwar im Bereich der Kunstproduktion wie auch in dem des Kunstkonsums. Und insofern Adorno noch die Unterscheidung zwischen der warenförmigen Produktion der Kulturindustrie und der authentischen Kunstautonomie vornehmen zu sollen meinte, muss inzwischen konstatiert werden, dass der Siegeszug der Kulturindustrie sich in nahezu allen Lebensbereichen als dermaßen überwältigend erwiesen hat, dass der Elitismus, dessen man Adorno ob der von ihm gemachten Gegenüberstellung zieh, sich mittlerweile wie eine fahle Polemik aus einer längst untergegangenen Welt ausnimmt.

Elitismus wird nur noch als leeres Schlagwort benutzt – man weiß ja, dass das, was ehedem noch als kulturell-elitär apostrophiert wurde, im realen Stand der gegenwärtigen sozialen (und kulturellen) Verhältnisse längst ausgespielt hat. In einer Gesellschaft, in der eine Celebrity-Kultur von Popidolen, Models, Helden von reality shows, Kultfiguren der sozialen Medien und Sportheroen dominiert, allesamt fetischisierte Projektionsflächen der Bedürfnisse eines enthusiasmierten Fan-Publikums – im Profitdenken des Kapitalismus perfekt einsetz- und verwertbar –, hat „hohe Kultur“ und ihr Anspruch auf ein unhinterfragtes Elitendasein nichts mehr zu bestellen. Der schiere Anspruch, hohe Kultur zu sein, wirkt erbärmlich, wie aus der Zeit gefallen. Eine Welt von gestern perenniert im Andenken an einer verblichenen Glorie.

Von selbst versteht sich, dass eine solche Zeitdiagnose sich dem hohen Stellenwert verdankt, den sie dem breiten Publikum als „Richter“ der Kunst beimisst. Positive Rezeption oder rigorose Ablehnung der Kunstwerke werden auf den subjektiven Geschmack bzw. die leichtfertige „Ohnmacht“ des Nichtverstehens reduziert, wie von Adorno beklagt. Wenn man aber die Werkaneignung ernst nimmt und sich der Anstrengung der Beurteilung von Form, Inhalt und Gehalt des Werks unterzieht, also der Immanenz der künstlerischen Materialgestaltung, lässt sich die dezidiert qualitative Unterscheidung von künstlerischen Errungenschaften und einer damit einhergehenden hierarchisierenden Rangzuordnung kaum abweisen.

Shakespeare, Rembrandt und Beethoven, um nur drei herausregende Ikonen der Kulturgeschichte zu erwähnen, sind eben doch geniale Protagonisten ihrer Kunst und als solche bilden sie zentrale Koordinaten im (westlichen) Kanon der Kultur. Dafür lassen sich werkimmanente Kriterien wie Komplexität, Innovation, Einfallsreichtum, Fantasie und Stil sowie hochwertige Beherrschung von Handwerk und Technik auflisten. Die gehaltliche Bedeutung des Werks spielt in diesem Zusammenhang zudem eine gewichtige Rolle. Nicht von ungefähr finden sich die großen Meister ihres Bereichs im Kulturkanon.

Dagegen wird der Einwand erhoben, dass allein schon die Kanonbildung, ihrerseits elitär, nichts als Resultat einer sozial-kulturellen Machkonstellation sei. Wer sozial und ökonomisch das Sagen habe, bestimmt auch, was in der Kultur zu gelten hat. Und selbst wenn man bei der Kanonbildung auf die Kompetenz von Kritikern verweist, ist nicht selten der (freilich ressentimentgeladene) Einwand zu hören, wer diese Kritiker zu ihrem angemaßten Schiedsmonopol überhaupt berufen habe.

So einleuchtend sich solche Einwände ausnehmen mögen, muss darauf hingewiesen werden, dass es sich bei ihnen um kunstheteronome Gegenrede handelt, eher um Kunstsoziologie als um Beurteilung von Kunst als solcher, um innere Durchdringung der Kunst. Sie attackieren entweder gut marxistisch (nicht zuletzt mit Benjamin) den Konnex von sozialer Hierarchie und die ihr unterworfene Kunstsphäre oder bedienen sich des postmodernen Ansatzes (Foucault), demzufolge jede soziale und kulturelle Erscheinung im Hinblick auf die ihr zugrunde liegende (nicht nur klassenspezifische) Machtkonstellation anvisiert werden müsse, um sie überhaupt dekodieren zu können. Das kunstimmanente, geschweige denn kunstautonome Paradigma lassen sie erst gar nicht zu.

Vox inhumana populi

Statt sich auf eine Erörterung dieser heteronomen Einwendungen einzulassen, sei hier zum Abschluss auf die eingangs zitierte Textpassage von Adorno eingegangen. Adorno schreibt: „[…] je kleiner man sich macht, um so zuverlässiger partizipiert man am mächtigen Unisono der vox inhumana populi, an der richtenden Gewalt des petrifizierten Zeitgeists.“

Adorno geht dabei durchaus von einer Herrschafts- und Machtkonstellation aus. Als Kapitalismuskritiker weiß er um die Wirkmächtigkeit der Kulturindustrie, und zwar nicht nur um die profitgesteuerte Ausbeutung ihrer Konsumenten, sondern auch um die sich durch sie zunehmend verfestigende „Gewalt des petrifizierten Zeitgeists“. Es ist nun in diesem Kontext, dass er die lateinische Sentenz vox populi vox dei aufgreift, um von der vox inhumana populi zu sprechen.

Die im ursprünglichen Idiom suggerierte Heiligkeit der Sprache des Volkes erfährt bei Adorno eine bemerkenswerte Metamorphose: Volkes Stimme wird als unmenschlich apostrophiert. Aber im Gegensatz zu dem an Adorno gerichteten Vorwurf des die Masse („das Volk“) verachtenden Elitismus ist es ihm gerade darum zu tun, auf die Entmenschlichung des Menschen, auf dessen im Spätkapitalismus systematisch betriebene Entfremdung und Verdinglichung hinzuweisen.

Adorno erkennt, welch verheerende Wirkung das kapitalistische System auf den Menschen hat, und fragt sich (durchgehend in seinem Werk), wie die horrende, nicht zuletzt im Faschismus und in Auschwitz mündende verdinglichte Entfremdung des Menschen zu überwinden sei. Und insofern die Kunst für ihn eine emanzipatorische Verheißung in sich birgt, gilt ihm die Kulturindustrie als eines der gefährlichen kapitalistischen Mechanismen der Zunichtemachung ebendieses emanzipativen Versprechens.

Adorno ist bestrebt, alle Menschen an dem, was Kunst dem Menschen zu sein hätte, teilhaben zu lassen. Alle Menschen sollen Elite werden, damit Elitedenken sich objektiv erübrige. Und solange dies historisch nicht eingetreten ist, muss „Elitismus“ als ein das schlecht Bestehende Konterkarierendes erhalten werden – als regulative Idee.


Prof. Dr. Moshe Zuckermann aus Tel-Aviv, der sich seit Jahrzehnten für einen gerechten Frieden engagiert, spricht über die israelisch-palästinensische Gewaltspirale und geht auf die Fragen der Teilnehmer*innen ein Sonntag, 30.5., 19 Uhr MEZ unter diesem Link: https://us02web.zoom.us/j/3216854044 Vortrag und Diskussion sind in Englisch, da Teilnehmer auch aus anderen Ländern kommen.

Die Internationale FriedensFabrik Wanfried will Menschen aus aller Welt gewinnen, die Menschen in Israel und Palästina zu unterstützen, die sich für eine gerechte und friedliche Lösung der Konflikte zwischen Israelis und Palästinensern engagieren. Wenn du das mit aufbauen willst, schreib uns eine Email: info@internationale-friedensfabrik-wanfried.org und nimm an unserem ersten Webinar zum Thema teil.

 

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