Die Gedanken sind frei?

Heine stellt fest: „Weise erdenken die neuen Gedanken, und Narren verbreiten sie.“ So ist es. Es erhebt sich freilich die Frage, wo man die Aufzählung der Narren ansetzt. Bei den alttestamentarischen Propheten? Bei den christlichen Evangelisten? Bei den sogenannten deutschen Volksaufklärern? Bei diversen Marxologen, die Marxens Lehre bis zur Unkenntlichkeit zerdeuteten? Vielleicht bei Millionen von Lehrern in den modernen Schulen oder bei den unzähligen Professoren hinter den Universitätskathedern? Vielleicht sollte man überhaupt von den größten „Verbreitern“ aller Zeiten reden, jenen, die keine sich ihnen durch moderne Massenmedien bietende Option auslassen, um jeden – alten wie neuen – Gedanken zu vereinnahmen und ihn, wo immer, unter möglichst vielen Menschen als effektiv vermarktbare Ware zu verbreiten? Wenn die neuen Gedanken in der Tat an alle gerichtet sind, werden sie sich dem, was der demokratischen Dialektik notwendig innewohnt, nicht entziehen können: Das erklärte Postulat, die neuen Gedanken allen zugänglich zu machen, erfordert eine derartige Simplifizierung dieser Gedanken, dass nur Narren sich bereit erklären dürften, sich die Last ihrer vermittelnden Verbreitung aufzubürden.

Das Problem liegt freilich auch bei denen, an die die Gedanken gerichtet sind. Es gibt eben nicht nur Weise, die neue Gedanken erdenken, und Narren, die sie verbreiten. Es gibt ja auch jene, die sie aufnehmen – das Publikum. Nietzsche sagt über sie: „Die schlechtesten Leser sind die, welche wie plündernde Soldaten verfahren: sie nehmen sich einiges, was sie brauchen können, heraus, beschmutzen und verwirren das übrige und lästern auf das Ganze“. Nietzsche differenziert da offenbar zwischen guten und schlechten Lesern. Aber gilt sein Diktum letztlich nicht für den Leser schlechthin? Wer könnte schon von sich behaupten, das Ganze beherrscht zu haben? Sich nicht, was er brauchte, genommen und dabei die Ordnung alles übrigen verwirrt zu haben? Der Akt des Lesens birgt stets ein Element von Plünderung in sich.

Und es gibt ja auch die Türsteher. Über die schreibt Heine: „Kritiker – wie Lakaien vor der Saaltüre bei einem Hofball, sie können schlecht gekleidete und unberechtigte Leute abweisen und gute einlassen, aber sie selbst, die Türsteher, dürfen nicht hinein.“ Die Zeiten haben sich allerdings geändert; Heines Aussage stimmt mit der Realität nicht mehr ganz überein. Nicht nur hat der bekannteste Kritiker der deutschen Literatur in der Nachkriegszeit mit seinen Memoiren ein spannendes, gutgeschriebenes Buch verfasst, welches zum Bestseller avancierte und seinem betagten Autor großen Ruhm bescherte – es will zuweilen scheinen, als lesen die meisten Menschen nicht mehr die Bücher der Schriftsteller selbst, sondern begnügen sich mit der Lektüre ihrer Besprechungen. Dies ist freilich nicht unbedingt dem Werk der Türsteher zuzuschreiben: Der Hofball ist einfach nicht mehr das, was er mal war – die eigentliche „Party“ findet außerhalb des Palastes statt, angemessene Kleidung ist nicht mehr verlangt, und alle sehen sich mittlerweile dazu berechtigt, „hineinzudürfen“.

Dazu wiederum stellt Nietzsche fest: „Zuletzt ist es aber gleichgültig, ob der Herde eine Meinung befohlen oder fünf Meinungen gestattet sind. – Wer von den fünf öffentlichen Meinungen abweicht und bei Seite tritt, hat immer die ganze Herde gegen sich.“ Man kann natürlich behaupten, dass fünf öffentliche Meinungen immer einer monolithischen vorzuziehen seien, und doch hat Nietzsche recht: In kritischen Momenten, in denen eine abweichende, den allgemeinen Konsens überschreitende Stimme erklingt, erweist sich die Exklusion des Abweichenden stets als Mechanismus einer freiwillig-obödienten Normalisierung. Das Problem besteht darin, dass sich eine wirklich einheitliche Meinung selten nur gegen eine abweichende, deren Verwerfung in der Tat erforderlich wäre, herausbildet. Zumeist bildet sich die einheitliche Meinung gegen einen Denkindividualismus, der die „Empfindung der Bevölkerung“, die nationalen Mythen und die eingefleischten Meinungen und Ansichten, die zum mentalen Lebenselixier des „kleinen Mannes“ und der „großen Herren“ in einem geronnen sind, verletzt.

Letztens haben wir es jedoch mit einer neuen Erscheinung zu tun, die man bis vor kurzem nicht für möglich gehalten hätte. Ein mächtiger Narr, Oberhaupt einer großen Weltmacht, erdenkt sich Idiotien über Idiotien aus, die von den gängigen (von Weisen erdachten) Meinungen abweichen, und siehe da – er hat große Teile der Herde nicht gegen, sondern ganz im Gegenteil gefestigt hinter sich. Die Herdenmitglieder müssen nicht einmal mehr plündern – das, was sie brauchen, wird ihnen twittergerecht zum unmittelbaren Konsum vorgelegt, alles, was es zu beschmutzen und zu verwirren galt, hat bereits der idiotische Narr an der Weltspitze besorgt. Die freiwillig-obödiente Normalisierung hat sich ohnehin schon von vornherein eingestellt: Der Narr durfte behaupten, in der Öffentlichkeit jemanden erschießen zu können, ohne dass ihm die Herde deshalb die Treue versagen würde. Er sollte recht behalten – und zwar so sehr, dass selbst, als er entthront wurde und sich unwillig zeigte, seinen Thronplatz zu räumen, seine Herde ihm die Loyalität wahrte, für ihn auf die Straßen ging, seine „Meinungen“ immer heftiger und emphatischer skandierend. Die türstehenden Kritiker erwiesen sich dabei als machtlos: Die Kriterien für den Einlass in den Ballsaal wurden derart durcheinandergewirbelt, dass nichts mehr zur allgemeingültigen Norm des Umgangs miteinander erhoben werden konnte. Die „Welt von gestern“ wurde erlegt und mithilfe einer grassierenden Pandemie-Panik, welcher sich der große Narr freilich entgegenstellen zu sollen meinte, zu Grabe getragen.

Es erhebt sich gleichwohl die Frage, ob der Narr dies Unfassbare „einfach so“, quasi aus dem Nichts kommend, bewirken konnte. War es nicht eher so, dass er – bei aller Infantilität, bei allem Narzissmus und anderer psychischer Defizite, trotz seiner Vulgarität und offensichtlicher Ungebildetheit – gar nicht so sehr Narr war, sondern ganz im Gegenteil ein höchst gewiefter Manipulator, der sehr früh erkannt hat, was Faschisten schon immer besser verstanden haben, als ihre liberalen Gegner: Dass man dem Gedröhn des Stammtisches abhorchen muss, was man den Menschen als „neue erdachte Gedanken“ vorsetzt; nicht etwa, um als Weiser zu erscheinen (Weise sind ja gerade jene, die man zu überwinden trachtet, gegebenenfalls gar liquidieren muss), ja, nicht mal als Führer, sondern als „Bruder“, als jemand der zu ihnen gehört und sie als solcher „versteht“. Dass sie dabei den Massen der Erniedrigten und Beleidigten, mithin den unterprivilegierten Sozialschichten angehören, er hingegen ein skrupelloser turbokapitalistischer Milliardär ist, der sich einen Dreck um ihr reales Dasein schert, spielt keine Rolle: Er will ja nichts, als „die ganze Herde“ hinter sich wissen; und sie wollen ihn lediglich als Projektionsfläche für ihre Hass- und Rachegefühle gegenüber dem Establishment, von dem sie sich verraten wähnen, für sich wahren. Schwer vorzustellen, dass sie sich eine reale Verbesserung ihrer Lebensbedingungen von ihm erhoffen. Entsprechend lassen sie sich mit hohlen patriotischen Parolen abspeisen und verfallen dem Zauber einer polemischen Rhetorik, die sich damit begnügen kann, ihr tiefsitzendes Ressentiment populistisch zu reproduzieren.

Die Gedanken sind frei, heißt es im Volkslied. Stimmt es? Sind sie es wirklich? Nun, die der Weisen vielleicht. Aber die der Narren, die der Herde sind es nur insofern, als sie sich bewusst sind, es nicht zu sein. Aber wann sind sie sich schon dessen bewusst? Es will scheinen, als sei die einzige wirkliche Freiheit der Gedanken die, unfrei sein zu wollen, in der anbefohlenen Herdenmeinung aufzugehen.

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