Das Grab des Poeten

Schloss Gripsholm
Pudelek, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Eine Reise zum Schloss Gripsholm hat Autorin Eva Schweitzer über Kurt Tucholsky nachdenken lassen. Er hätte heute viel, was er in der Luft zerreißen könnte.

Schloss Gripsholm, auf einer Insel vor Mariefred gelegen, im Mälarsee, ist eine stattliche Trutzburg. Meterdicke rote Mauern, dicke runde Türme, preußische Kuppeln, starke Tore, eiserne Kanonen. Das Schloss, 1537 von Gustav Vasa erbaut –alle schwedischen Könige heißen Gustav – entstand auf den Mauern einer noch älteren Burg, von 1380. Heute ist es ein Museum für schwedische Geschichte.

Ein Museum wie eine Zeitreise; unten die breiten, düsteren Mauern, Holzpritschen und mittelalterliche Waffen, darüber klobige Möbel und rohe Kamine, dann royale Pracht; Kronleuchter, Himmelbetten, goldene Spiegel, porzellangekachelte Öfen und eine unendliche Sammlung von Portraits europäischer Potentaten.

Schwedisches Gryffindor

Zumeist Potentaten aus Schweden, aber auch Friedrich der Große, oder, wie wir ihn in Bayern nannten, Friedrich II. Auch ein Bild von Marie Theresia von Österreich sowie der “Madcap King”, ein schwedischer Königssohn namens Gustav, der früh starb. Auch Königin Sylvia, die aus Heidelberg stammt, verheiratet mit Carl Gustaf, dem heutigen. In einem anderen Mauergewölbe Portraits berühmter bürgerlicher Schweden; Ingmar Bergmann, Astrid Lindgren, Benny Anderson, Ingvard Kamprad. Dessen Bild kam fertig zusammengeschraubt (ich entschuldige mich für den Witz).

Schweden, das Land von Pippi Langstrumpf, ABBA und Ikea, das Land des flächendeckenden Internets, der pünktlichen Züge, der zuverlässigen ÖPNV-Apps, der hohen Akzeptanz von Kreditkarten und der freundlichen Menschen, das Land, wo schon Kinder Englisch sprechen und New Yorker sich beim Anblick der Preise auf den Speisekarten heimisch fühlen; Schweden hat aus Schloss Gripsholm, das königliche Schloss der Goten, eine bürgerliche Touristenattraktion gemacht.

Grips bedeutet Greif, das legendäre beflügelte Sagentier, nach dem sich die Ahnen von Bo Johnson genannt haben. Bo war der Erbauer des Schlosses. Und “Holm” heißt Insel. Also eine Art schwedisches Gryffindor. Das Schloss scheint viel zu groß zu sein für das kleine Mariefred, groß genug, dass die Kuppeln zwischen den stattlichen Bäumen des Friedhofs von Mariefred zu erkennen sind, zumindest ein bisschen, im Winter. Hier, mit entferntem Blick auf das Schloss, liegt Kurt Tucholsky begraben.

Ein einfaches Grab, eigentlich; eine steinerne Platte mit vier metallenen Ringen, an denen man den Stein hochheben könnte, wenn man wollte (und dürfte). Es liegt halb versteckt unter einer riesigen Eiche, ist aber leicht zu finden, weil Google Maps es markiert hat, außerdem hat die Friedhofsverwaltung ein Hinweisschild angebracht.

Glückliche Reise?

Es ist nicht gerade einsam. Alle paar Minuten kommen deutsche Besucher vorbei und legen Blumen ab, oder Steine, nach jüdischem Brauch. Ein bisschen merkwürdig, denn der Verblichene hat sich nicht nur von allem Deutschen deutlich distanziert, sondern auch vom Judentum – noch Jahre nach dem Krieg war Tucholsky in Israel verboten – aber was sollen wir sonst auf das Grab legen, eine Schale Reis vielleicht?

“Kurt Tucholsky. 1890 – 1935” steht auf dem Stein, und der Spruch, “Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis.” Damit endet Goethes Faust, der zweite Teil. Der Spruch passt eigentlich nicht so ganz zu Tucholskys Gesamtwerk. Hätte man mir die Grabgestaltung überlassen, dann hätte ich “So long and thanks for all the fish” draufgesetzt. Hätte ihm das gefallen?

1923 – das ist erstaunliche hundert Jahre her – hat Tucholsky die Beerdigung seines Alter Ego Ignatz Wrobel beschrieben, die von halb Berlin gefeiert wurde: “Wir, die wir nacheinander und unbeirrbar an Kaiser und Vaterland, an Sozialistengesetz und Lex Heinze, an Kriegsanleihe und Ruhrabwehrkampf geglaubt haben – siehe, wir stehen da und grüßen dich! Ich spreche für alle und rufe ich dir ins Grab nach, Ignaz Wrobel: Glückliche Reise –!« Auf Wrobels (fiktiven) Grabstein stand: Hier ruht ein goldenes Herz und eine eiserne Schnauze!”

In Mariefred lag lange Jahre gar kein Stein. 1935 hat Tucholsky sich mit einer Überdosis Tabletten umgebracht. Es gibt eine Theorie, wonach es eine versehentliche Überdosis war. War es das? Gefunden hat ihn Gertrude Meyer, seine Sekretärin und Geliebte, sie ließ ihn ins Krankenhaus von Göteborg bringen, wo er starb.

Tucholsky lebte nämlich gar nicht in Mariefred, sondern in Hindås, einem Dorf nahe Göteborg, am westlichen Rand von Schweden. Mariefred hingegen liegt kurz vor Stockholm, weit im Osten, viele hundert Kilometer weit, oder, mit der pünktlichen schwedischen Bahn, 2,5 Stunden. Er wohnte in einem blaugestrichenen schwedischen Haus am See. Daran erinnern sich noch ältere Bewohner von Hindås, aber vermutlich eher deshalb, weil ab und zu deutsche Touristen danach fragen.

Witwenstreitigkeiten

Hindås ist noch kleiner und beschaulicher als Mariefred. Wer erst in Berlin, dann in Paris durch die Clubs und Theater von Premiere zu Vernissage gezogen ist, muss sich hier zu Tode gelangweilt haben. Wenn er wenigstens ein iPhone gehabt hätte!

Gertrude Meyer aber hat ihn nicht in Hindås, sondern in Mariefred beerdigen lassen. Nicht nur lebte sie in Stockholm; um das Schloss Gripsholm spielt auch Tucholskys zweiter, gleichnamiger Roman, der übrigens, das fiel mir erst auf, nachdem ich das Buch vor der Reise noch einmal durchlas, ein ziemlicher Aufguss des ersten Romans ist, Rheinsberg. Ein Begräbnis in einer fiktiven Heimat.

Der Grabstein kam erst später. 1935 wäre es zu gefährlich gewesen, das Grab zu kennzeichnen. Tucholsky war Staatsfeind Nummer 1 der Nazis, und es gab genug schwedische Nazis, die das Grab verwüstet hätten. Meyer veranlasste eine stille Beerdigung, so still, dass sie weder Tucholsky Schwester Ellen benachrichtigte, die mit ihrem Mann Conrad Milo in Den Haag lebte, noch seine Ex-Frau Mary Gerold.

Tucholsky hatte Mary zu seiner Alleinerbin gemacht und ihr einen Brief hinterlassen, wo er sie um Verzeihung für alles bat, was er ihr angetan hatte und in dem stand, “Hat einen Goldklumpen in der Hand gehabt und sich nach Rechenpfennigen gebückt.” Das liest man als Geliebte natürlich nicht so gerne, insbesondere dann nicht, wenn man sich schon für die dritte Frau Tucholsky gehalten hat.

Erst nach 1950, als Tucholsky nicht mehr verboten war und Deutsche wieder reisen durften, besuchte Mary das Grab in Schweden. Sie lieferte sich mit Gertrude Meyer einen jahrelangen Witwenkrieg um alles, um die Grabplatte, die Blumen auf dem Grab, die Inschrift, die Pflege und wem das Grab überhaupt gehört. Anwälte wurden eingeschaltet, auch aus New York. Der Zwist endete damit, dass beide Witwen das Grab dem Land Berlin schenkten. Hätte der Verblichene das komisch gefunden?

Frankreich nie verziehen

Dass Tucholsky seine letzten Jahre in Schweden verbracht hat, das Land, das sein Visum nur um immer wieder vier Wochen verlängerte, war nicht geplant. Er war ein großer Liebhaber von Frankreich und sprach gut Französisch. Lange war er Korrespondent der Weltbühne und des Tageblatts in Paris gewesen, sein Traumjob.

Als die Nazis an Macht kamen, verboten sie die Weltbühne sofort. Daraufhin entzog ihm die französische Regierung das Pressevisum. Er hatte ja keinen Job mehr. Das hat er nie verziehen, nach alledem, schrieb er an seinen Bruder Fritz, was er für Frankreich getan habe. Nie mehr setzte er einen Fuß in das Land.

Für Frankreich, auch für Schweden allerdings ist Tucholsky Teil einer Vergangenheit, die mit ihnen nichts zu tun hat. Im Gift Shop vom Schloss Gripsholm wird nicht einmal sein Roman verkauft, der mit dem Bild des Schlosses darauf, obwohl die deutschen Touristen dort noch zahlreicher sind als die Geister der toten schwedischen Könige und ihrer Mätressen, die zwischen den Mauern spuken.

Dass Tucholsky in Deutschland noch so bekannt ist, noch oft zitiert wird, liegt natürlich an seiner modernen, poignanten, unterhaltenden Schreibe, aber mehr noch an Mary, dem Goldklumpen, die keine Mühe scheute, Klinken zu putzen und Türen einzurennen, um ihn zu rehabilitieren. Und natürlich an Ernst Rowohlt, Chef seines alten Verlags, der ihn schon 1946 wieder ins Programm aufnahm.

Tucholsky hätte an den Woken seine Freude gehabt

Viele linke Deutsche haben Tucholsky nach seinem Tod, oder eigentlich, in den fünfziger, sechziger Jahren fast in den Heiligenstand erhoben. Sakrosankt. Wer ihn kritisiert, outet sich noch heute als rechts. Dabei ist seine Stärke seine spitze Feder, keineswegs Linientreue. Er hatte durchaus bürgerliche Züge; er zählte zur “Caviar Gauche”, wie die Franzosen das nennen. Sein Hauptfeind war die SPD und je schrecklicher die Politik wurde, desto mehr wurde er Totalverweigerer.

Viele deutsche Linke, die Tucholsky verehren, finden seine Unbeirrbarkeit, mit der er “die da oben” kritisierte, heute nicht mehr angemessen. Wo der gemeinsame Feind doch rechts steht. “Nein” zum Zeitgeist sagen, auch wenn der aus der woken Richtung weht? Darf man das überhaupt, mit dem Beifall von der falschen Seite und so?

Aber ich bin sicher, über die woke Linke hätte er sich unendlich lustig gemacht, über die zerstrittene linke Linke, welche die Interessen der Arbeiter aus der Sicht verloren hat, auch. Den Scholzomaten hätte er in die Luft zerrissen. Was hätte er wohl über Annalena Baerbock gedacht? Ja, diese Witze schreiben sich von selber.

Tucholsky in Amerika bekannt zu machen ist nicht einfach. Das muss ich ihm noch erzählen, bevor ich das Grab verlasse. Amerikaner sträuben sich gegen alles Fremde, und die Schlachten einer fernen Vergangenheit interessieren sie nicht sonderlich.

Ins Maul des Wales

Es ist trotzdem nett, ein Email von Amazon.com zu bekommen, wo “Kurt” dafür gedankt wird, dass er die Metadata für sein Buch aktualisiert hat. Ich habe auch einmal eines seiner Gedichte für einen Poesie-Wettbewerb eingereicht. Wir haben nicht gewonnen, aber die Veranstalter haben uns versichert, wir hätten Talent, und wir sollten es weiterhin versuchen mit dem Dichten. Das hätte ihn amüsiert, oder?

Das Krankenhaus, in dem Tucholsky starb – er hatte das Bewusstsein nicht wiedererlangt – liegt nahe dem Naturkundemuseum. Hier ist ein echter Blauwal ausgestellt, ausgehöhlt, mit einem Holzgestell stabilisiert, neben seinem eigenen Skelett. Wir haben in New York auch einen Wal, aber unserer ist bloß aus Fiberglas.

Vor mehr als hundert Jahren wurde der junge Wal an einen schwedischen Strand gespült. Noch lebend und nach Luft schnappend, vermutlich wie Tucholsky. Die Fischer stachen ihm die Augen aus, damit er nicht sehen konnte, was sie ihm antaten und zerlegten ihn, lebendig, nach und nach, bis er in seinem eigenen Blut starb. Der Museumsdirektor erwarb das, was von der Leiche übrig war und ließ es präparieren.

Lange Zeit konnten Besucher in das Maul des Wals klettern und in seinem Bauch auf einem Holzbänkchen sitzen, aber das wurde verboten, nachdem es sich ein Pärchen zu gemütlich gemacht hatte. Nun ist das große Maul geschlossen.

Es ist schwer zu sagen, wessen Tod einen trauriger macht.

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8 Kommentare

  1. Ein Mensch ist immer ein Mensch seiner Zeit. Nur mit Verständnis für die jeweilige Zeit kann man ihn betrachten, mit einer anderen Prägung hätte dies aber auch den Menschen verändert. Ein 1990 geborener Tucholsky wäre nie der Schriftsteller geworden den man heute kennt, der wäre ja in ein ganz anderes Zeitgeschehen, in ganz andere Lebensumstände hineingeboren und hätte sich entsprechend anders entwickelt. Alles andere würde ja behaupten um einen Menschen zu entschlüsseln brauche es nur Genetik und nicht die Kenntnis über dessen Prägung.

  2. Dann wäre da noch “Lottchen”, bürgerlich Lisa Matthias. Als Jüdin emigrierte auch sie 1933 nach Schweden, wo sie einen Verlag für Übersetzungen aufbaute.
    Für Tucholsky verließ sie ihren zweiten Mann Leo Matthias, der damals für Tucholskys Weltbühne schrieb.

    Leo Matthias verdanken wir auch eine Reihe überaus spannender Bücher, zunächst seine Reiseberichte, als da wären: Griff in den Orient (1931), Ausflug nach Mexiko (1926), Genie und Wahnsinn in Russland (1921) oder China auf eigenen Wegen (1956).

    Ein wichtiges zeithistorisches Dokument auch der Bericht über sein Exil in Lateinamerika während der NS-Herrschaft “Es hing an einem Faden” (1970).

    Albrecht Müller von den Nachdenkseiten empfahl mal auf einer Veranstaltung sein Buch:
    Die Kehrseite der USA. Reinbek b. Hamburg, Rowohlt 1963,
    das bis heute aktuell ist.

    Auch damals hatten Kritiker, wie Tucholsky und Matthias es schwer, wurden geächtet und verfolgt, dennoch waren sie in ihrem Schreibstil und ihrer Analyse oft viel schärfer als das heute der Fall ist. Man sollte diesen alten Autoren heute wieder mehr Beachtung schenken, auch wenn man manche ihrer Formulierungen heute mit gutem Grund nicht mehr übernehmen würde.

  3. >> hätte er sich unendlich lustig gemacht … über die zerstrittene linke Linke, welche die Interessen der Arbeiter aus der Sicht verloren hat <<

    Tucholsky HEUTE
    würde es schaffen, wieder eine Satire-Sendung um 20:15 Uhr in der ARD durchzusetzen
    und alles aufmischen

  4. Diese Skandinavier, ob Schweden, Dänemark, Norwegen oder Finnland stecken in ihrem eigenen Mist fest.
    Schaue ich mir die nördliche Polarschmelze an, geben diese Nationen ihren ‘neutralen’ Kurs
    auf, um in einem niedergehenden Bündnis aufzugehen.
    Das Europa von gestern, geht seinen gestrigen Weg fort und wird Millionen von Menschen in den Abgrund schicken. Nicht wegen Russland, sondern wegen ihrer eigenen verlogenen Politik, um ihre Königreiche zu erhalten.
    Das Ende wird dazu führen, mit Schmach am Boden zu liegen.

  5. Es ist zwar für den Rest des Artikels etwas Off-Topic, aber nicht alle schwedischen Könige hießen Gustav und zwar auch dann nicht, wenn man dieses nur auf die Zeiträume einschränkt, in denen Schweden nicht in Personal-Union vom dänischen Königshaus aus regiert wurde (siehe u.a. Kalmarer Union) oder nur Zeiträume nach dem 30 jährigem Krieg betrachtet (allerdings hatten die schwedischen Könige, welche ab Anfang des 20ten Jahrhunderts gekrönt wurden, nun alle einen Vornamen Gustav). Bei den dänischen Königen gibt es dagegen eine inzwischen sehr lange Tradition, dass die Könige entweder den Vornamen Frederik oder Christian haben¹, wobei es auch da vor Einführung der Tradition Ausnahmen gab.

    ps. Dieser Leserkommentar ist natürlich Klugscheißerei.

    ¹) Es gibt da zwar auch dort eine Tradition für die Vornamensvergabe bei weiblichen Thronfolgern (sorry ich meinte natürlich Thronfolgernde), aber die kam dann doch bisher eher seltener zum tragen. (Eine Tradition des Vornamens bei “divers” gibt es da bisher wohl nicht, aber dann bestand und besteht momentan auch keine Notwendigkeit sich damit auseinanderzusetzen).

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