Daniel Ellsberg

Daniel Ellsberg, 1972
Gotfryd, Bernard, photographer, gemeinfrei, via Wikimedia Commons

In den Siebzigern war er der vielleicht erste Whistleblower: Daniel Ellsberg. Vietnam hat seine Sicht auf die US-Politik verändert.

Daniel Ellsberg liegt im Sterben. Der berühmteste Whistleblower der Welt, der erst jetzt, am 7. April, 92 Jahre alt wurde, hat Schilddrüsenkrebs, finales Stadium, nur noch ein paar Monate zu leben. Chemotherapie will er nicht und er fühlt sich eigentlich nicht schlecht, sagt er, aber er wird nicht mehr lange bei uns sein.

Ellsberg wurde im Juni 1971 bekannt, als er die Pentagon Papers an die Öffentlichkeit brachte, eine geheime Langzeitstudie über den Vietnamkrieg. Den Krieg, den Amerika seit 1964 offiziell führte, nach einem angeblichen Angriff Nordvietnams auf ein US- Kriegsschiff im Golf von Tonkin, den es nie gegeben hat.

Ellsberg fotokopierte tausende Seiten

Robert McNamara, Kriegsminister von Präsident Lyndon B. Johnson, hatte die Studie in Auftrag gegeben; zuständig war Leslie Gelb, Direktor für internationale Sicherheit. Ellsberg wusste davon, weil der frühere Armeeveteran für den Think Tank RAND arbeitete, der das Pentagon beriet und an der Studie mitwirkte.

Die Papers enthüllten, dass die US-Regierung unter dem damaligen demokratischen Präsidenten Johnson die Öffentlichkeit über den Vietnamkrieg jahrelang angelogen hatte, sowohl was US-Angriffe anging, als auch Rückschläge und Verluste.

Die Studie hatte tausende von Seiten. Ellsberg fotokopierte sie heimlich und gab sie erst einigen kriegskritischen Senatoren, in der (vergeblichen) Hoffnung, dass die sie öffentlich machen würden. Dann einem Reporter der New York Times, dem inzwischen verstorbenen Neil Sheehan. Das war, bevor die Times ein Lifestyle-Blatt wurde, das seine Leser durch ihren woken Alltag an die Hand nahm.

Inzwischen war Richard Nixon Präsident, ein Republikaner, Henry Kissinger war sein Außenminister. Nixon eskalierte den Krieg und überlegte sogar, die Atombombe gegen Vietnam einzusetzen. Viele Amerikaner protestierten, vor allem junge Wehrpflichtige, die nicht eingezogen werden wollten. Im Nachgang der Bürgerrechtsbewegung tobten Straßenkämpfe, Stadtteile brannten. Unter Johnson war – begleitet von Protesten von Weißen, dem KuKluxKlan und von Polizeigewalt – der Civil Rights Act verabschiedet worden, der die Rassentrennung aufhob. In diese aufgeheizte Stimmung platzte die Veröffentlichung der Pentagon Papers.

Massenvernichtungswaffen im Irak: Ellsberg glaubte nicht daran

Obwohl sich das eigentlich gegen LBJ und McNamara richtete, tobte Nixon. Ellsberg wurde nach dem Espionage Act angeklagt, den der Kongress 1917 verabschiedet hatte, um deutschstämmige Weltkriegsgegner zu internieren. Ihm drohten über hundert Jahre Haft. Das Verfahren wurde eingestellt, als herauskam, dass die Nixon-Regierung bei seinem Psychotherapeuten hatte einbrechen lassen, um seine Krankenakte zu stehlen. Nixon versuchte auch, die Veröffentlichung der Pentagon Papers per Gericht zu verbieten, wurde aber von Supreme Court gestoppt.

Ich habe Ellsberg vor fast zwanzig Jahren kennengelernt. Damals lebte und lehrte er Berkeley, Kalifornien, und hatte einige Auftritte in New York City, die sich gegen den Irakkrieg richteten. Es war im Jahr nach dem Einmarsch der USA. Die große Mehrheit der Amerikaner war damals noch für den Krieg und glaubte an die irakischen Massenvernichtungswaffen. Nicht aber Ellsberg.

Wir trafen uns in einem Café nahe dem Washington Square Park und unterhielten uns lange. Ich weiß noch, dass er unglaublich blaue Augen hatte und für seine damals mehr als 70 Jahre noch jung aussah. Ellsberg war schon damals gegen den Krieg. Eine der Lehren, die er aus Vietnam gezogen habe, war, dass mehr Bomben gegen die Zivilbevölkerung nicht den Sieg brächten. “Wir haben auf Vietnam viermal so viele Bomben geworfen wie während des gesamten Zweiten Weltkriegs”, sagte er.

Seiner Sache war er sich sicher, während die Times damals noch Geschichten von Judith Miller über Massenvernichtungswaffen druckte, die das Pentagon ihr in die Feder diktiert hatte. Ja, die Zeit der Pentagon Papers ist lange her.

Unterstützung anderer Whistleblower

Nachdem wir über aktuellen Krieg gesprochen hatten, sagt Ellsberg noch: Etwas, was ihn beeindruckt habe, sei die Geschichte von Claus Graf Schenk von Stauffenberg, der Hitler-Attentäter, der gescheitert war. “Ich habe mich lange gefragt, was er falsch gemacht hat”, sagte er. “Ich denke heute, er hätte bei dem Koffer bei der Bombe bleiben sollen, und sich selber mit all den Nazis in die Luft sprengen sollen.”

Ellsberg hat sich auch nach dem Irakkrieg nie einseifen lassen. Er hat alle Whistleblower unterstützt, Chelsea Manning, Ed Snowden, Julian Assange. Oft wurde er bei Protesten verhaftet, wegen Civil Disobedience, zivilem Ungehorsam. Das war ihm egal, er ließ sich nie einschüchtern oder zum Schweigen bringen. Obwohl er heute todkrank ist, warnt er noch immer vor der Eskalation des Kriegs in der Ukraine.

Ja, das sei ein tragischer, krimineller Angriff mit hunderttausenden von Opfern. Aber das dürfe nicht in einen nuklearen Krieg der NATO gegen Russland eskalieren. Von einem Scharmützel in 1918 abgesehen, hätten die USA und Russland einander nie direkt bekämpft. Es habe immer nur Stellvertreterkriege gegeben; Korea, Vietnam, Kuba, Afghanistan, wo Amerika sich habe zurückziehen können. Nun sei es anders. Um eine Niederlage der USA abzuwenden, würden die Generäle alles riskieren.

Ellsberg ist ein bisschen wie ein Fossil in der heutigen woken Zeitungslandschaft, ähnlich wie Seymour Hersh, der nur sechs Jahre jünger ist und der das My Lay- Massaker enthüllt hatte. Beide übrigens kommen aus intellektuellen jüdischen Familien in Chicago, aus einer Tradition der unbeirrten Suche nach der Wahrheit.

Als LBJ den Krieg beenden wollte

Inzwischen erinnert sich kaum einer mehr in den USA an Vietnam, und nicht einmal mehr an den Irak. Die Geschichte wurde bereits in den Jahren danach umgeschrieben. Und einem eventuellen Widerstand wurde frühzeitig der Boden entzogen. Bereits als George Bush Sr. in den Irak einmarschierte, um Kuwait zu befreien – eine Diktatur –, gab es in den USA keine Wehrpflicht mehr und damit keine jungen Männer, die protestiert hätten. Obama hat dann die Kriegsführung auf Drohnen umgestellt. Und nun laufen die Kriege auf Autopilot, oder aber, bloß Ausländer kämpfen.

Inzwischen ist Joe Biden der post-Trump-Präsident, und die brave amerikanische demokratentreue Linke hat LBJ vergessen und betrachtet die letzten der alten kriegskritischen Garde mit Misstrauen. Keine Atempause, Geschichte wird gemacht.

Erst Jahre nach dem verlorenen Vietnamkrieg, drei Millionen Tote später – Leslie Gelb war inzwischen Kolumnist bei der New York Times – kam heraus, dass Johnson bereits mit der Regierung in Hanoi verhandelt hatte, um den Krieg zu beenden. Aber Nixon und Kissinger war es in Geheimverhandlungen mit südvietnamesischen Diplomaten gelungen, dies zu sabotieren. sie wollten, dass Johnson die Wahl verlor.

Letztlich trat Johnson nicht mehr an, und Nixon siegte gegen dessen Vize Hubert Humphrey. 1973 starb LBJ und zwei Jahre später war der Vietnamkrieg vorbei, aber nur für die Amerikaner. Für die meisten Amerikaner, nicht aber für Daniel Ellsberg.

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6 Kommentare

  1. Gern gelesen. Bin in einem Alter, in dem ich Vietnam, und natürlich Irak 1+2 bewusst mitbekommen habe. Dank an Ellsberg und seine Nachfolger.

  2. Wie schwierig war es in den 1970ern der “Wahrheit” ans Licht zu verhelfen, heute schaffen das offensichtlich nur noch “altgediente” erfahrene, unbeirrbare Journalisten – die es im Wertewesten kaum mehr gibt. Tragödien, wie die um Julian Assange, verhindern womöglich, daß es mehr Investigativ-Journalismus gibt, der dringend nötig wäre. Danke für diesen guten Artikel, ich hab diese grausame Zeit selbst miterlebt und bin äußerst irritiert, wie schnell die Zeit – Geschichte um 90 Jahre zurückgedreht werden kann…

  3. Auch ich wurde im Vietnamkrieg sozialisiert. Die amerikanischen Bestialitäten, das Verbrennen von Menschen mit Napalm, die Bombardements, all das hat mein Verhältnis zu dem Amis nachhaltig geprägt. Die Autorin erwähnt die Tonking-Lüge, die wir in der DDR alle kannten und von der heute die wenigsten noch etwas wissen.
    Auf der anderen Seite war ich fasziniert und begeistert vom amerikanischen Widerstand gegen den Krieg. Von den Jungs , die Einberufungen verbrannten. Ali, der seinen Leuten erklärte, dass ihn kein Viet Cong je Nigger genannt hat. King, Davis….
    Und die Musik, die den Soundtrack zur unruhigen Zeit lieferte und den Soundtrack meines Lebens, war und ist anglo-amerikanisch.

    Nichts davon ist geblieben, Die Ami – Bonzen haben sehr richtig erkannt, dass sie den Krieg zu Hause verloren haben. Damit ist nichts gegen die Tapferkeit der Vietnamesen oder die Klugheit von General Giap gesagt. Aber ob ein paar zehntausend amerikanische Unterschichtler, überproportional viele davon schwarz, mehr oder weniger dabei drauf gehen war ihnen sehr egal. Und der Verbrauch an Material war gewünschtes Geschäft. Das hätten sie noch ewig weiter gemacht, wenn sie nicht so eine “schlechte Presse” bekommen hätten. Auch Dank Menschen sein Ellsberg und Hersh. Die Bonzen haben hart daran gearbeitet, dass ihnen sowas nie wieder passieren wird. Erfolgreich, das muss der Neid ihnen lassen. Und diese lächerliche Inszenierung von 911 haben sie tatsächlich als das zwingend zu Glaubende durchgesetzt.

    Ich bin nicht religiös und entsprechend nicht wirklich bibelfest. Aber als der HERR sich entschloss Sodomm zu vernichten, ließ er sich darauf ein, es zu verschonen, wenn sich auch nur zehn “Gerechte” in ihr fänden. Ich glaube, er ließ sich in der Diskussion bis auf einen Gerechten runterhandeln, der vor Ort aber auch nicht zu finden war, was zur Auslöschung der Stadt führte.
    Würde der HERR die Auslöschung der USA erwägen, könnte man Menschen wie Hersh oder Ellsberg anführen, um ihn umzustimmen. Aber die werden bald gehen und es ist nicht unmöglich, dass Bolton, die authentische Reinkarnation Heydrichs, Präsident wird.

    Aber lassen wir diese albernen Vergleiche. Ich schreibe es zum wiederholten Male. Das beste am großen Krieg, in den die Amis uns führen, ist, dass sie diesmal zusammen mit uns zur Hölle fahren. Es siegen nicht die Ellsbergs sondern die Bushs oder Boltons. Sie werden sich zu Tode siegen.

    Danke für die Hommage.

  4. Es ist nicht offtopisch, an dieser
    Stelle auf Julian Assange zu verweisen.
    Er wird gerade in einer 6 Quadratmeter großen Zelle, in Isohaft zu Tode gefoltert.

    Ich habe noch die geisteskranken Anmerkungen des Hubschrauberpiloten im Ohr, als er den Tod eines Reuters-Journalisten und seiner Begleiter im Irak quittierte. Er hat sie mit der Bordkanone niedergemäht, obwohl er genau wusste, dass er eine Kamera und keine Waffe in ihren Händen identifiziert hat.

    Mordlust konnte nie deutlicher dokumentiert werden.

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