Sommerliche Umarmungen und nicht nur

Sonnenuntergang über Wiese.
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Adrian Kasnitz´ neuer Gedichtband „Ich hatte im Sommer eine Umarmung“ (Parasitenpresse, Köln 2023) zeigt einmal mehr, dass wir nicht nur soziologische, philosophische oder literarische Essays lesen sollen, um unsere Gegenwart und Vergangenheit besser zu verstehen.

Wir brauchen auch Gedichte, da sie in ihrer dichterischen Spontanität und Neutralität unsere Welt der Lebenden und Toten oft viel emotionaler und „griffiger“ als andere Genres beschreiben können.   

Der Parasit und sein verlegerisches Werk

Autoren unter sich: Artur Becker, Adrian Kasnitz und die Kathrin Niemela.
Autoren unter sich: Artur Becker, Adrian Kasnitz und die Kathrin Niemela.

Die Parasitenpresse, den Kölner Lyrikverlag, gibt es schon seit mehr als 20 Jahren, und das ist bewundernswert, denn kleine Verlage haben meistens ein kurzes Leben, und sie müssen sich zudem oft mit ähnlichen Problemen herumschlagen wie ihre großen Brüder und Schwestern. Hinzu kommt noch die Tatsache, dass man mit Lyrik keine potenziellen Bestseller schreibt und publiziert, also hat es ein solcher Verlag doppelt schwer, zumal der Roman immer viel mehr Raum, Zuneigung und Entfaltungsmöglichkeiten auf dem Buchmarkt, bei den Veranstaltern und in den Leserkreisen bekommt als das Gedicht. Den Deutschen Buchpreis auf der Frankfurter Buchmesse müsste es normalerweise auch für einen Lyrikband geben, wie das zum Beispiel der Fall in Polen ist: Der Nike-Literaturpreis, der wichtigste dieses Landes, gilt für Romane, Gedichtbände und Essays.

Deshalb ist es bewundernswert, dass die Parasitenpresse bisher alle Turbulenzen überleben und stets mit neuen Titeln vor allem von jungen Autoren, aber auch mit internationalen, ins Deutsche übersetzten Lyrikbänden überraschen konnte. All das ist hauptsächlich dem Hauptparasiten, dem Lyriker, Herausgeber, Verleger und Übersetzer Adrian Kasnitz zu verdanken, der unermüdlich mit seinen eigenen Gedichten wie auch mit denen seiner Autoren nicht nur im deutschsprachigen Raum unterwegs ist – von Lesung zu Lesung, von Begegnung zu Begegnung, und sein feinmaschiges Netzwerk besteht ja obendrein aus alten, erprobten und immer wieder neuen Partnerschaften, die aber alle um ein Thema kreisen: die Lyrik.

Bedenkt man, wie bescheiden der Anfang der Parasitenpresse war, muss man heute schon laut sagen: Chapeau Herr Kasnitz! Lyrische Hefte wurden mehr und mehr durch Lyrikbände ersetzt, und mittlerweile veröffentlicht die Parasitenpresse sogar Prosa und Romane und jede Menge Autorinnen und Autoren aus dem Ausland, die sich schon seit Langem in ihren Heimaten einer Anerkennung durch den Leser und die Kritik erfreuen.

Adrian Kasnitz sieht jung aus, er hat immer ein schelmisches und zugleich freundliches Lächeln zu bieten, und er fördert junge Talente. Aber in Wahrheit ist er nicht mehr der Jüngste ‒ 2024 wird er fünfzig, und mittlerweile mehr als 20 Bücher gehen auf sein Konto.

50 Jahre alt zu werden, ist für einen Dichter kein Untergang, sondern seine Rettung, denn nach mehr als zwanzig Büchern muss man schon wissen, was man tut

Das Gute an seinem Alter ist ja die enorme Erfahrung. Er hat eben nicht nur Lyrikbände vorgelegt, sondern auch Prosaarbeiten, Romane, Reiseessays und Erzählungen, meist autofiktional gefärbt und immer zwischen den Welten schwebend, ist er doch in Europa ständig unterwegs, wobei die Stadt Köln, Griechenland, Spanien, Polen und in gewisser Hinsicht Lateinamerika, vor allem Chile, eine große Rolle in seinem Leben spielen, privat und beruflich.

Und seit Jahren schon veröffentlicht Kasnitz konsequent sein Kalendarium, eine Art lyrisches Tagebuch, das Langzeitprojekt wächst und wächst, und es liest sich auch wie eine tägliche Momentbeichte aus der mal filigranen, mal grobschlächtigen Großstadt Köln, aber auch von unterwegs.

Seinen letzten regulären Gedichtband, den Titel „Glückliche Niederlagen“, hat er 2016 im Kölner Verlag Sprungturm publiziert. Nach sieben Jahren war es also die höchste Zeit, etwas Neues zu präsentieren. Und diesmal entschied sich Kasnitz für eine Publikation in seinem eigenen Verlag, obwohl der Sprungturm, 2012 von dem Fotografen und Filmemacher Boris Becker gegründet, Kasnitz verständlicherweise das Gefühl, zu Hause zu sein, vermitteln konnte, ist er doch ein großer Bewunderer der Dichtung von Jürgen Becker, des Kölner Dichters und Georg-Büchner-Preisträgers (und des Vaters von Boris).

Kasnitz´ neuer Gedichtband ist wie eine Umarmung in Zeiten der Apokalypse

Kasnitz´ neuer Gedichtband „Im Sommer hatte ich eine Umarmung“ zählt 87 Seiten und ist für seine Verhältnisse etwas umfangreicher geworden als sonst, denn seine Kalendariumbändchen haben uns an eine gewisse Kürze und Stringenz gewöhnt. Aber in dieser „regulären“ bzw. kontinuierlichen, an Vergangenes anknüpfenden Lyriksammlung ist zum Glück alles anders: Sicherlich hat der Autor noch mehr Gedichte zur Auswahl gehabt, in sieben Jahren kann schon ein opulentes Werk entstehen, aber Kasnitz gehört eher zu den Lyrikern der leiseren und bescheideneren Töne und Stimmen. Er ist kein Moralist, und seine Gedichte sind sprachlich alle sehr präzise und sparsam gebaut, wodurch selbst eine Beschreibung der Birnbäume auf dem Lande im polnischen Ermland zu einem kleinen Gemälde, Porträt der noch intakten Natur, wird, als sähe man sich die Miniaturwelten des Rokokos an.

Rhythmisch und malerisch haben diese Gedichte viel zu bieten, die Sprache ist, wie gesagt, sparsam, aber ästhetisch wohlüberlegt, was ihnen insbesondere dann zugutekommt, wenn sich Kasnitz´ Gedichte bekannter sozialer politischer oder globaler Themen annehmen, da durch die Schönheit der Sprache und der formalen Konstruktion unser Intellekt nicht nur positiv, sondern auch kritisch stimuliert wird. Kasnitz´ Gedichte erscheinen dann einem wie sehr genaue und oft schmerzhafte Einblicke in die menschlichen Tragödien, obgleich sie etwas beschreiben, was uns auf den ersten Blick „normal“, bekannt vorkommt, nach dem Motto: So ist das Leben.

Das erste Gedicht ist immer das Wichtigste – zumindest programmatisch

Schon das erste Gedicht eröffnet diesen Reigen der Blicke in verschiedene Welten, Schicksale und Momente, die für einen Lyriker niemals vergehen bzw. verloren gehen dürfen. In „Chefs“ sagt das lyrische Ich:

„Mein Vater arbeitete in vielen Fabriken

dieser Stadt. Nie blieb er lange und immer

hielt man ihn für einen Idioten. Auch

wenn er immer sehr genau die Arbeit tat.

(…) Er arbeitete für Busch-Jaeger,

für Phoenix, für Vossloh, für Wilesco und

fahren wir einmal gemeinsam durch die Stadt

zeigt er mir immer die Orte: »Hier und hier

und hier habe ich gearbeitet.« Nie sagte er:

geschuftet, nie sagte er: malocht. Arbeit war

immer ein notwendiges Übel, nie Bestimmung

nie ein Ausdruck der Identität. So geht es uns

auch heute noch. Wir gehören nirgendwo hin

zu niemand. Wir sind einfach nur Leute

einfache Leute, die nicht Chef sein wollen

die keine Chefs dulden können.“

Ein trauriges Gedicht, es erinnert auch an Czesław Miłosz´ Arbeiter- und Solidarność-Gedicht, das sich gegen die stalinistischen Machthaber und ihren Missbrauch der Macht richtete und Miłosz´ moralische Konflikte mit dem Stalinismus und seiner eigenen Rolle in diesem mörderischen System thematisierte: „Der du dem kleinen Mann auf der Straße Böses angetan hast“ („Który skrzywdziłeś“) von 1950.

Und so geht es dann im ganzen Gedichtband weiter, dem Bösen werden Namen gegeben und die Zähne gezogen. Hinter der Figur des blutrünstigen Königs Ubu aus einem absurden Theaterstück des französischen Schriftstellers, Dichters und Dramatikers Alfred Jarry (1873 – 1907) kann sich auch ein Putin verstecken, heißt es doch in dem Gedicht „Père Ubu“:

„C’est merdre, wenn Père Ubu geht, geht man besser

zur Seite, jetzt geht er hinter die Karpaten, (…)

(…) isst Père Ubu, isst man lieber

woanders, schlägt er nach den Köpfen

duckt man sich besser schnell“

Sorge des Dichters um den Weltenbrand

Brennendes Brasilien im Gedicht „Amazonas Würgevogel“, wo die Wälder der menschlichen Gier und einem gestrigen Denken zum Opfer fallen, kann aber auch schon zu uns kommen, nach Europa ‒ so klein ist die Welt durch die Umweltprobleme, die Klimaänderungen und die Globalisierung geworden, wobei es ja darum geht, dass es auf unserem Planeten keine sicheren Inseln, kein Asyl, mehr gibt. Und es geht ja darum, dass sich auch nichts ändert, da sich die menschliche Natur nur schwer ändern lässt, wenn Manipulation und Instrumentalisierung des Leviathans im Spiel sind:

„Immer sind solche Typen Tyrannen von Gott oder

anderen höheren Mächten gesegnet.“

An dieses „ökologisch-antifaschistische“ Gedicht schließt sich eines der schönsten in diesem Band an, das verträumte und zugleich leichtfüßige: „Mein:Herz:Hagen, die toten Wälder“. Kasnitz lässt uns in diesem Text mit der Natur, die zerstörerisch sein kann, selbst aber genauso zerbrechlich ist wie das menschliche Dasein, eins werden:

„Hagen, Lichtung, Licht im Wald

die lichten Bäume, die abknickenden Zweige

wo sich unsere Wege trennen, du leicht

ich abschüssig geh, an unseren Händen

klebt Harz, Rinde, Schmiere, du hörst es pochen (…)“

Poeten sind immer wieder auf Reisen

und auf der Suche nach „dem ewigen Moment“

Lyriker sind Reisende, die zwar als Fremde irgendwohin kommen und sich dort einnisten, oft nur für wenige Augenblicke, aber sie haben eine begnadete Beobachtungsgabe im Kontext der Zeit und des Raumes, und so reisen wir mit Kasnitz nach Charkiw, Israel, Polen, wo in den Gärten der Großeltern und Vorfahren glückliche Birnbäume wachsen, „Gruszy“ (aus dem Poln. „grusza“ für die Birne).

Wir reisen nach Gent in Belgien, um Gerhard Richter und sein Werk zu treffen, und wir reisen nach Frankfurt am Main, Wien, Prag, Madrid und London, wo Kasnitz wie im Fieber und in einer Art Meditation Augenblicke des Innehaltens sammelt ‒ plötzlich bleibt alles stehen, der ewige Moment, wie es Miłosz schreiben würde, tritt ein. Aber jeder muss ihn für sich selbst finden, diesen Augenblick der Kontemplation, für sich ganz allein das Geheimnis des Ewigen und Unbegreiflichen, weil nicht Fassbaren, ergründen. Denn schließlich, wie es in einem Gedicht aus Istanbul (wenn auch vielleicht nur in einem Traum) heißt:

„Jeder hat eigene Interessen in einem Traum.

Ich will schreiben und du willst, dass ich bei dir bin.

Ich will Raki trinken und du willst die Griechen

finden, die sich irgendwo verstecken. Ich will

ganz bis zu den Byzantinern, den Römern

hinabsteigen. (…)

Jeder hat ein eigenes Fortbewegungsmittel in einem

Traum. Jeder hat einen eigenen Traum in einem Traum.“

Die Begegnung mit Brexit in London ist allerdings wie eine Ohrfeige für Europa. Gelangweilte Polen, die ihre Zelte abbrechen, trinken noch das letzte Bier. Doch wenigstens bleiben den Polen noch ihre Wälder … Und was soll danach passieren? Zurück in die Natur? Oder warum wollten ach die so bösen Fremden nach dem Brexit in England nicht mehr bleiben und leben, zumindest viele von ihnen? Fragen über Fragen, die sich jeder Leser selbst stellen kann, liest er Kasnitz´ neues lyrisches Werk mit offeneren Augen als die meisten es tun.

Kurz gesagt, es lohnt sich Kasnitz´ Lyrik kritisch zu lesen …

Es lohnt sich jedenfalls, diesen Gedichtband auf allen Ebenen kritisch zu lesen und in die Welt der Kasnitzschen Verwunderung über das so instabile, praktisch stets kurz vor einem Kollaps stehende Theater der menschlichen Tragödien und Komödien einzutauchen. In der permanenten Krise ist die nächste gleich um die Ecke …, genauso wie die Lösung derer …

Aber am besten gefällt Kasnitz dort, wo er ironisch und subversiv ist ‒ vor allem auch gegenüber seiner eigenen Haltung, der eines lyrischen Beobachters. Im Gedicht „In der hintersten Reihe sitzend“ schreibt er:

„(…) Ich denke an Todesarten

in Büchern, an Verwicklungen

und wie verwickelt ich bin

in der hintersten Reihe, halb wach.“

Dichter haben natürlich das Recht, auch in der vordersten Reihe zu sitzen, wenn sie gut sind, aber Kasnitz sitzt gerne hinten und das tut seiner Lyrik gut! Halb wach dort hinten wirkt er jedoch in seinen Gedichten hellwach.

 

PS: Wer den Lyriker, Verleger und Herausgeber persönlich kennenlernen will, hat dazu die Gelegenheit auf der Leipziger Buchmesse, wo die Parasiten auch 2023 breitbeinig auftreten werden.  

Hotel Lindley, Frankfurt am Main, 14.03.2023

 

Bibliografie:

Adrian Kasnitz: „Im Sommer hatte ich eine Umarmung“, Gedichte, Parasitenpresse, Köln 2023, Paperback, 90 Seiten, 14 Euro.

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2 Kommentare

  1. Jetzt habe ich meine eigene Ignoranz erlebt!
    Es existiert doch mehr als nur das tägliche geplaudere….
    Das ist tatsächlich Kultur und gehört gefördert. Ohne Geister des sein, wird es keine Vision geben, die für die zukünftigen von Nöten ist, ich bedanke mich bei euch, zu meiner neuen Selbsterkenntnis.

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