Hitlers Pullover

Symbolbild Pullover
Quelle: Pixabay-

Moralischer Rigorismus ist häufig gar nicht argumentativ begründet. Wir finden halt einfach was und stricken uns dann eine Geschichte drum rum.

Im großen Finale von Christian Ehrings Vorstellung während des Vellmarer „Sommer im Park“ 2022 ging es um Hitlers Pullover. Hätte Hitler einen Pullover gehabt, den Ehring bildschön und kleidsam fände, so das fiktive Szenario, könnte ihn trotzdem nichts dazu bewegen, ihn jemals zu tragen. Auch die perfekte Reinigung, die jeden möglichen Partikel von Hitlers Körper hundertprozentig entfernen könnte, würde es Ehring nicht ermöglichen, den Pullover anzuziehen.

Das Beispiel kam ausgezeichnet beim Publikum an, und Ehring beendete seine Vorstellung mit tosendem Applaus. Wir aber haben uns nur angeschaut und uns gewundert. Das müssen wir erklären.

Würden Sie Ihren Hund verspeisen?

Ob nun bewusst oder unbewusst hat Ehring in diesem lustig gemeinten Szenario eine Versuchsanordnung kopiert, die häufig in Studien über die menschliche Moral Verwendung findet. In US-amerikanischen Studien wurden Versuchspersonen zum Beispiel mit einer Beschreibung der folgenden Situation konfrontiert. Eine Familie hat einen Hund, den alle gern haben, der aber tragischerweise bei einem Unfall zu Tode kommt. Aus Liebe zu ihrem Haustier beschließt die Familie, den Hund nach allen Regeln der Kunst zu kochen und zu verspeisen, um ihn sich sozusagen gemeinsam einzuverleiben.

Den Versuchspersonen wird nun ganz ausdrücklich versichert, dass niemand anders jemals davon erfahren wird, dass das Geschehen von niemandem beobachtet werden kann, und dass keinerlei Gefühle anderer jemals verletzt werden können. Die Frage an die Versuchsperson ist nun, ob sie das an sich in Ordnung findet. Ganz unabhängig von der Frage, ob sie das jemals selbst täte. Manche Versuchspersonen finden die Idee zwar unappetitlich, billigen der Familie aber zu, dies für sich selbst zu entscheiden und zu verfahren, wie sie sich das selbst vorstellen. Die ganz große Mehrheit findet das Vorgehen aber ganz und gar inakzeptabel und würde es, wenn die Möglichkeit bestünde, von vornherein verbieten.

Forscher wie Jonathan Haidt haben daraufhin begonnen, die Versuchspersonen – oft hervorragend ausgebildete College- oder Universitäts-Studenten – nach einer Begründung für ihre Entscheidung zu fragen. Derartige Begründungen konnten die Versuchspersonen ohne Probleme liefern, aber sie waren offenkundig unsinnig. Andere könnten es sehen, sagten einige, und das könnte ihre Gefühle verletzen. Nein, nein, das können wir völlig ausschließen, entgegneten in diesen Fällen die Forscher. Woraufhin die Versuchspersonen dann irgendwas von „ja, schon, aber irgendwie ist das doch nicht in Ordnung“ stammelten, ohne irgendwelche rationalen Gründe bedenken zu können.

Ein Makel – und es ist aus

Dasselbe war der Fall, und hier kommen wir auf Hitlers Pullover zurück, wenn die Versuchspersonen angeben sollten, ob sie ein besonders tolles, wertvolles Getränk aus einem Glas trinken würden, in dem sich vorher ein besonders ekelhaftes Insekt oder anderes Tier befunden hat. Natürlich nach einer perfekten Reinigung, die alle möglichen Partikel mit hundertprozentiger Effizienz vollständig eliminiert hat. Natürlich nicht, war die Meinung der meisten.

Haidt und Kollegen vermuten, dass unsere moralischen, vielleicht aber auch ganz andere Urteile auf genau diese Art zustande kommen: wir finden halt mal was, ohne jeden vernünftigen Grund, weil uns einfach danach ist. Was uns natürlich nicht daran hindert, anschließend umfangreiche Geschichten zu erfinden, warum genau dieses Urteil das einzig vernünftige ist und warum alle anderen natürlich Unrecht haben müssen.

Bei näherer Betrachtung offenbart das Beispiel von Hitlers Pullover ein besonders abwegiges Vorurteil, dass man täglich in öffentlichen Diskursen an der Arbeit sehen kann. Wenn nämlich eine Person auch nur einen einzigen Makel hat, oder zumindest haben könnte, dann ist auf einmal alles Positive, das man mit dieser Person verbinden kann, überhaupt nichts mehr wert. Wenn sich ein Bundespräsident tatsächlich von einem Freund zum Essen einladen lässt, ohne seinen Anteil davon zu bezahlen, dann ist auf einmal alles, was er jemals getan und erreicht hat völlig irrelevant und es scheint allen klar, dass so jemand für den Präsidentenjob völlig ungeeignet sein muss.

Wieviel Prozent Christian Wulff?

Im Falle Christian Wulffs hat sich zwar herausgestellt, dass der Vorwurf nicht berechtigt war, aber gehen wir spaßeshalber kurz mal davon aus, dass er es doch gewesen sein könnte. Nun war Wulff nicht unbedingt unser Lieblingspräsident, aber offenbar haben ihn viele für hinreichend fähig gehalten – sonst wäre er ja nicht in sein Amt gewählt worden. Von den 100 Prozent seiner persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten sollte ihn also doch ein großer Teil für das Präsidentenamt qualifizieren. Sagen wir mal, es waren 60 Prozent seiner Eigenschaften. Selbst wenn man nun also die Tatsache, dass er sich ohne Gegenwehr zum Essen einladen lässt, als indikativ für eine negative persönliche Eigenschaft hält, dann scheint es doch übertrieben, ihm dafür mehr als 3 Prozent abzuziehen.

Vielleicht haben wir uns also getäuscht, und der Mann ist doch ein kleines bisschen weniger anständig, als wir dachten. Aber seit wann ist Anstand wichtig für Präsidenten? Wenn es das nicht ist, warum haben wir uns dann alles aufgeregt?

Nun ist Wulff kein besonders kontroverses Beispiel mehr, aber wie ist das mit Putin? Können wir ausschließen, dass er vielleicht im persönlichen Umgang gefühlvoll, verständnisvoll, vielleicht sogar zärtlich sein kann? Dass er gefühlvolle Gedichte schreibt und sehr kinderlieb ist. Dass er Gerhard Schröder in persönlichen Krisen als Freund zur Seite gestanden hat? Wie sicher sind wir, dass Putin zu wirklich 100 Prozent ein Arschgesicht ist?

Wenn wir das nicht sind, wie viel Prozent von Putins Leben, von seinem Verhalten im Politischen und im Privaten, macht seine Entscheidung, die Ukraine zu überfallen, eigentlich aus? Wie können wir sicher sein, dass nach Abzug dessen überhaupt nichts Liebenswertes mehr übrig bleibt? Und wenn wir es nicht sind, warum verteufeln wir dann Gerhard Schröder für seine unverbrüchliche Freundschaft? Ist es nicht schön und ehrenwert, wenn man auch in schwierigen Zeiten zu seinen Freunden hält? Sind wir nicht selber froh, dass uns andere trotz unserer negativen Eigenschaften irgendwie doch liebhaben?

Der Halo-Effekt

Dennoch schaffen wir es nicht, Dinge zu relativieren. Ganz im Gegenteil, jeder Versuch, mögliche Verfehlungen von jemandem in einen größeren Rahmen zu stellen, wird öffentlich sofort an den Pranger gestellt: man denke nur an den Vorwurf, Boris Palmer habe durch den Vergleich von Judensternen mit anderen Arten von öffentlicher Brandmarkung „den Holocaust relativiert“. Was wiederum für viele dasselbe ist, wie ihn zu legitimieren. Da geht wirklich vieles durcheinander. Eine Konstante ist aber die Annahme, dass Menschen einen unveränderlichen Wesenskern haben, der sie als gut oder böse kennzeichnet, und der sich bereits in kleinen Verfehlungen der Allgemeinheit offenbart.

Dieses Verhaltensmuster ist in der wissenschaftlichen Psychologie als Halo-Effekt bekannt. Die ursprüngliche Beobachtung zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestand darin, dass Menschen anderen, ihnen unbekannte Menschen mit positiven Eigenschaften auch andere positive Eigenschaften unterstellen, und Menschen mit negativen Eigenschaften auch andere negativen Eigenschaften. Wenn Sie also gut aussehen, dann werden sie eher für intelligent, tatkräftig und freundlich gehalten. Wenn Sie aber andere Länder überfallen, dann sind Sie natürlich wahnsinnig, asozial und hässlich. Als ob wir uns nicht vorstellen können, dass Menschen sowohl positive als auch negative Eigenschaften haben können.

Diese Idee ist für Chinesen viel weniger abwegig als für uns Westler. Nichts ist unveränderlich, alles ist im Fluss, sagt nicht nur Heraklit, sondern auch Konfuzius. Deswegen kann das eine auch das andere werden, und umgekehrt, und manchmal auch das eine das andere sein. Genau deswegen werden ja scheinbare Widersprüche in China nicht als problematisch, sondern als Weg zu einer höheren Einsicht verstanden. Tatsächlich zeigen Untersuchungen, dass dialektisch geschulte Chinesen Widersprüche zwar genauso gut erkennen wie US-Amerikaner, aber im Unterschied zu denen nicht darunter leiden. Wir beide finden das leichter zu verstehen als es aktiv zu leben, denn der Halo-Effekt fordert fast täglich seine Opfer. Aber schlauer wär es halt schon!

Bernhard Hommel im Gespräch mit Markus J. Karsten: Identitätspolitik und Irrwege zu einer gerechteren Gesellschaft. Hier zu sehen.

Ähnliche Beiträge:

17 Kommentare

  1. Wer eine marxistische Grundausbildung geniesen durfte/mußte, hat unter Umständen gelernt dialektisch zu denken, d.h. in Widersprüchen zu denken. Leider ist dieses Denken in Grautönen in der gesamten westlichen Welt, die nur 10% der Menschheit umfaßt, auf den Rückzug. Gerade die Olivgrünen und ihre kulturelle Blase denken in Kategorien eines völlig abwegigen moralischen Rigorismus. Das ist ein großes Problem.
    Da aber alles Schlechte auch sein Gutes hat, bedeutet die moralische Verkommenheit der westlichen Welt im Umkehrschluß, 90% der Menschheit können „besser denken“ als die Westler. Und auch nicht alle Westler sind schlecht, im Gegenteil. Es ist ein weiterer westlicher Widerspruch das in den US die Anhänger von Trump eher für einen Frieden mit der Ukraine zu gewinnen sind, als das Biden-Lager. Für die BRD bedeutet das, die AfD ist nicht nur eine Gefahr, sondern auch eine Chance, das Denken in friedlichen Kategorien möglich ist, denn die AfD ist als einzige Partei gegen den Ukrainekrieg. Solche Gedanken werden im Westen als völlig abwegig empfunden.

    Wer im Westen leben muß, muß auch mit den moralischen Rigorismus, der westlichen Schwarz-weiß-Malerei klarkommen, sonst wird man hier verrückt.

    Das gute wiederum ist, die größte Nation der Menschheit – China – hat gelernt dialektisch zu denken. Hier ist es gelungen die positiven Ideen des westlichen Marxismus mit den alten östlichen Weisheiten des Konfuzianismus zu verbinden. Das ist eine große Hoffnung!

  2. Netter Versuch, die Erzählung vom bösen Putin in einem unterhaltsamen und gut geschriebenen Text unterzubringen. Zumal ich Texte der Autoren sowie so meist gut finde.
    Ich denke, ich sollte das gelesene und daraus gelernte gleich anwenden. Oder es wenigstens versuchen .
    Sollte ich also Texte von Autoren, die die offenkundige Tatsache nicht erkennen , dass die Russen den einzigen Weg wählten, um das ein Jahrzehnt dauernde Gemetzel im Donbass zu beenden, noch lesen? Die nicht sehen wollen , dass sie sich gegen die tödliche Gefahr wehren , die Länder wie den Irak, Afghanistan, Lybien, Vietnam, Syrien millionen Opfer kosteten? Die sich der Tatsache verschließen, dass die Ukraine eine faschistisch dominierte Gesellschaft ist, Und ich werde nicht müde beständig zu wiederholen, dass ich da gewesen bin, es mit eigenen Augen sah und mir niemand mehr dazu etwas einreden kann. Soll ich bei anderen Themen die Meinung von Autoren ablehnen, die das alles nicht sehen können oder wollen?
    Ich weiß, dass ich es nicht sollte und wahrscheinlich auch nicht mache. Aber es fällt mir zunehmend schwerer.
    Sollen sie halt ihren Hund essen. Oder Hitlers Pullover in Senfsoße.

  3. Was ist denn das wieder für ein Stück Mist?

    “Die ganz große Mehrheit findet das Vorgehen aber ganz und gar inakzeptabel und würde es, wenn die Möglichkeit bestünde, von vornherein verbieten.”

    Die große Mehrheit? Von was? Von der US-amerikanischen “Gods-own-Country”-Bevölkerung? Wer auf einem Auge blind ist und das mit allen Regeln der Kunst zu vertuschen versucht ist deswegen noch lange nicht mehr sehend.

    Und wer zum Teufel ist Ehring, who the fuck?

    In Anlehnung an die Unterüberschrift: Aufmerksamkeitsfehlsteuerung ist häufig gar nicht argumentativ begründet. Wir finden halt einfach was Ablenkendes und stricken uns dann eine Geschichte drum rum.

    Selbst wenn der Artikel gut gemeint gewesen sein sollte: es ist und bleibt Müll (was soll das mit dem Wulff? Wer hat den gewählt, von wem soll der Zustimmung gehabt haben? …

    Es gibt wirklich sehr viel wichtigere Dinge darzustellen. ZB wie die allfällige Propaganda funktioniert, wie “Meinungspflöcke” unauffällig in unsere Köpfe eingeschlagen werden, wie wir nach Strich und Faden verarscht und Meinungs-manipuliert werden, welche Mengen von Einflussagenten, und bezahlte Influenzer überall unterwegs sind um das Solomon-Asch-Konformitätsexperiment für die allgemeine Meinungsmissbildung anzuwenden, …

    Hier werden zwar kritische Punkte gestreift (“Nazi”-Zuweisungen, moralisierende “Nudging”, “3. Reich”-Aufarbeitung, …) – aber nur um sie dann links liegen zu lassen. Sieht aus wie Salonlinken-Gebrabbel. Harmlose Aufregung für das “anspruchsvolle Publikum” – bzw sich dafür hält.

    1. Mal wieder rumpoltern ohne rechtes Maß…?! Vielleicht doch noch einmal lesen – Satz für Satz – und gründlich überdenken statt ein Textbsp für eigene Rigorosität (im Sinne des/r Autoren) zu liefern.
      Psychologisch-soziale US-Versuchsanordnungen wurden mitunter durchaus in anderen Ländern europider Kulturtraditionen wiederholt – mit sehr ähnlichem Ergebnis wie beim Original. Es gibt sogar weltweite Untersuchungen, die eine psychische 3Teilung aller menschlichen Gesellschaften ergeben haben. Die größte Gruppe bildeten dabei stets die stark emotional Gesteuerten, auch als Schwärmer bezeichenbar.
      Übrigens, Ehring ist ein bekannter Satiriker (Düsseldorfer Kom[m]ödchen, Extra3), den ich einst schätzte, der sich aber inzwischen in der UA-RF-Frage wie etliche Andere auf die (vermeintlich) sichere Seite der (ggw) Macht geschlagen hat. Nebenbei, niemand sollte darauf hoffen, auf dem Mist (anekdotisch zum 2.’Prager Fenstersturz’), den er einst produziert hatte, weich zu landen, wenn er denn doch aus dem Fenster fallen sollte, aus dem er sich zu weit hinausgelehnt hat…

      1. Nee, ich lasse mich nicht aufmerksamkeitsfehlsteuern. Ihr könnt ja gerne alles fressen, was man auch hinschmeisst.

        “Psychologisch-soziale US-Versuchsanordnungen”

        Ja, da gibt es zB das Solomon-Asch-Konformitätsexperiment. Sollte jeder kennen. Denn genau damit wird hier im Digitalen vor allem gearbeitet. Nirgendwo kann man billiger “Mehrheiten” simulieren.

        Keine Ahnung für was dieser Schwafeltext gut sein soll und was Sie und andere daran finden.

  4. Zivilisation unterscheidet sich zwischen Zivilisierten und Barbaren, die einen schöpfen aus ihrem Leben und andere sind ständig am zerstören.

  5. Was hier beschrieben wird, ist der Effekt der Massenmanipulation, der bestimmte Eigenschaften des Menschen nutzt, um ihr Denken und Fühlen in die gewünschte Richtung zu drängen.
    Das wirkt auch in den sog kritischen Medien, auch hier. Im Ergebnis ist keine Diskussion entstanden, ob die russische Aktion in der Ukraine tatsächlich ein Angriffskrieg nach Völkerrecht ist oder nicht.
    Es gibt diskutable Begründungen dafür, dass einzig Russland damit das Recht verteidigt und alle anderen Beteiligten, die nach VR entgegen ihrer Behauptung schon längst als Kriegspartei beteiligt sind, das VR brechen.

    1. Was immer unterschlagen wird, die UN-Charta enthält auch einen Passus, der die Provokation eines Anderen zu einem Angriff als Verstoß gegen das VR wertet.

  6. Wir haben Deutschland vor mehr als 14 Jahren verlassen und eines der ersten Dinge, die wir gelernt haben, war, dass es viele Wahrheiten auf dieser Welt gibt, die gleichberechtigt nebeneinander stehen. Man kommt auch nur weiter, wenn man sich der neuen Wahrheit/Kultur stellt, auch wenn sie einem zunaechst fremd oder sogar unsinnig erscheint. Mittlerweile stellen wir immer oefter fest, dass wir Deutschland nicht mehr verstehen, speziell deutsche Politiker und Medien. Es ist erschuetternd und oft beschaemend, was da an Arroganz, Selbstgerechtigkeit und Ignoranz so ueber die Landesgrenzen schwappt. Wir haben die einzige Moral dieser Welt, die einzige Weisheit, das einzig richtige wirtschaftliche Verstaendnis, und wir haben sie alle gepachtet. Wir sind der europaeische Hegemon und unser Job scheint es jetzt zu sein, die Welt zu missionieren, was in der Welt auf wenig Begeisterung stoesst. Man will nicht mit uns sprechen. Siehe Brasilien oder Suedafrikal. Unsere Aussenministerin ist der Irrtum des Jahrhunderts. Talentfrei, arrogant und lernresistent.

    Wir selbst befinden uns mittlerweile in der Situation, Deutschland immer weniger zu verstehen. Was ist aus unseren diplomatischen Faehigkeiten und der deutschen Debattenkultur geworden? Das Transitland in der Mitte, das so viele kulturelle Ueberschneidungen hat, schaltet auf stur. WIR sind wieder wer? Nein, die Frage sollte umgekehrt lauten: WER sind wir eigentlich, dass wir glauben, die Weisheit gepachtet zu haben?

    Um ehrlich zu sein: Wir muessen alle Putinversteher werden, Xi-Versteher, Erdogan- oder sogar Assad-Versteher, ob uns das gefaellt oder nicht, einfach weil wir sonst nicht weiterkommen. Verstehen bedeutet nicht Zustimmung oder sogar Verstaendnis!!! Verstehen bedeutet Nachvollziehen, wo jemand herkommt. Erst dann kann man ueberhaupt argumentativ einhaken. Wenn ich eine Kultur nicht verstehen will, brauche ich gar nicht erst anfangen. Bestes Beispiel aktuell Graf Lambsdorff, der nach Russland als Botschafter geht. Er weiss jetzt schon, dass er dort klare Kante zeigen will, spricht aber bisher noch nicht mal ein Wort russisch. Der Mann ist eine Fehlbesetzung.

    Die blutige westliche Politik des Regime-Changes, die ja rein wirtschaftlichen und imperialistischen Interessen der US Administration folgt und nicht der Heilung der Welt, Demokratiefoerderung oder der Staerkung von Frauenrechten, kann getrost als gescheitert betrachtet werden. Aber wir folgen dieser Doktrin, sehr zum Nachteil Deutschlands und Europas. Eine Neuorientierung ist dringend notwendig.

    1. Ja, verstehen heißt erstmal nur Verstehen (oder auch Verständnis¹). Nur verstehen heißt nicht gleich, dass man Zustimmt (oder damit einverstanden ist oder akzeptabel findet) oder dass man etwas vergibt. (Oder wie es im Lied “Der gute Mensch” von “Kapitulation B.o.N.n.” – aus den 90er Jahren – heißt: “weil verstehen, nicht vergeben heißt”).

      ps. Ansonsten kann ich deinen Beitrag nachvollziehen und auch in vielen Dingen zustimmen.

      ¹) Das Wort Verständnis hat wohl – wenn ich es richtig in Erinnerung habe – mehrere Bedeutungen.

  7. Der Text behandelt ein interessantes Thema, ist leider aber, wo (oder weil) dieses in den Bereich des Politischen gezogen wird, nicht besonders gelungen. Die genannten Beispiele verknüpfen sich nicht zu einem roten Faden, dem man gut folgen kann, und der Erkenntnisgewinn hält sich dadurch arg in Grenzen. Zielsicher steuert er auf das Beispiel Putin zu, den man sich entgegen der staatlich und medial verordneten Zuschreibungen doch mal nicht als Dämon, sondern als liebevollen, sogar zärtlichen Menschen vorstellen soll. Als wär nicht die eine wie die andere Art der Betrachtung auf einen Staatslenker gleichermaßen doof.

      1. Kann sein, dass ich den Autor nicht verstanden habe.
        Da steht jedenfalls: “Dennoch schaffen wir es nicht, Dinge zu relativieren.” Als wäre das die Krux an der Sache, denn natürlich kann jeder von uns Dinge relativieren und alle tun es auch ständig wie es ihnen in den Kram passt. Der Erste sagt: “Putin ist ein Monster, weil sein Krieg Kinder umbringt.”; der nächste kommt mit “Aber andere führen auch Kriege, die Kinder umbringen, und die bezeichnest Du nicht als Monster.”; und ein Dritter kennt Putin auch als fürsorglichen Familienvater und besteht darauf, dass man doch auch diese Seite seiner Person einbeziehen müsse.” An solchen Relativierungen herrscht nun wirklich kein Mangel, also kann das wohl auch nicht das Problem sein.
        Das Thema “Empfindung schlägt Rationalität” wurde meiner Auffassung nach insofern verfehlt oder besser: verwandelt, weil zunächst Beispiele gewählt wurden, die nicht die menschliche Moral, sondern die menschliche Psychologie betreffen.
        Warum – ich verändere das Beispiel etwas, weil der Genuss von Insekten inzwischen en vogue ist – würde kaum jemand selbst nach perfekter Reinigung aus einem Glas trinken wollen, in welchen sich zuvor Kot befunden hat. Das ist keine Frage der Moral (Das mancht MAN nicht!), sonderen eine des persönlichen Empfindens (Das mache ICH nicht!). Relativiere ich den Umstand, dass zuvor Kot im Glas war, wenn ich darauf verweise, dass dass Glas nun perfekt gereinigt ist? Ich meine nein, weil ich lediglich aufzeige, dass das Glas in einen neuen, akzeptablen Zustand übergegeangen ist, ohne dass ich den alten, inakzeptablen Zustand damit beschönige.
        Die weiteren Beispiele führen dann aber ins (Polit-)Moralische und in schließlich in diese unsinnige Relativiererei in Bezug auf Putins “menschliche” Seite.

  8. Es bestätigt meine Meinung über das hiesige Kommentariat, dass keiner der sieben Kommentare irgendwas mit dem Artikel zu hat.

    Tipp: Colzato und Hommel wollen zeigen, dass Pan Narrans zum moralischen Rigorismus neigt. Dazu, aus einer unsympathischen Eigenschaft zu schließen, dass die betreffende Person NUR unsympathische Eigenschaften hat und dass Pan Narrans nicht mal versucht, diesen offensichtlichen Fehlschluss irgendwie rational zu begründen sondern stattdessen mit Begründungen daher kommt, die, Zitat: „offenkundig unsinnig“ sind.

    Pro-Tipp: Wenn man seinem Gegner jeglichen sympathischen Charakterzug abspricht, ihn als Nazi verteufelt oder als Ork entmenschlicht, muss der Gegner davon ausgehen, dass ein friedlicher Ausgleich nicht möglich ist. Der Gegner muss also zum Selbstschutz mit aller Härte reagieren (ich betone: _RE_agieren) – die Verteufelung bzw. Entmenschlichung ist also eine selbsterfüllende Prophezeiung.
    Unterstellt man dem Gegner aber „nur“ widersprechende Interessen ohne gleich die ganz große Moralkeule auszupacken, bleibt die Möglichkeit eines rationalen Interessenausgleichs grundsätzlich offen.

  9. Hui, da rüttelt aber jemand gewaltig an Der Grundlage unserer abendländischen “Zivilisation”, dem guten alten Schwarzweißdenken. Ja, woher kommt es denn wohl?

  10. “Die ganz große Mehrheit findet das Vorgehen aber ganz und gar inakzeptabel und würde es, wenn die Möglichkeit bestünde, von vornherein verbieten.

    Forscher wie Jonathan Haidt haben daraufhin begonnen, die Versuchspersonen – oft hervorragend ausgebildete College- oder Universitäts-Studenten – nach einer Begründung für ihre Entscheidung zu fragen. Derartige Begründungen konnten die Versuchspersonen ohne Probleme liefern, aber sie waren offenkundig unsinnig.”

    Heute Morgen las ich einen Artikel über “Besserungsanstalten” für “moralisch fragwürdige” Frauen und Mädchen im Spanien der 1970er Jahre, wo, wie in den hiesigen “Erziehungsheimen”, jegliche Abweichung vom begrenzten Vorstellungsvermögen der Mehrheit mit körperlichen und seelischen Misshandlungen zu “kurieren” versucht wurde.

    Kleiner Reminder, welche Blüten diese Geisteshaltung so treiben kann.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert