Harmonie im Vielklang

Traditionelle chinesische Medizin.
Quelle: Pixabay

In China existieren wissenschaftliche und klassische Medizin nebeneinander. Denn tiefere Einsicht kann es nur geben, wenn es mehrere Sichten auf die Dinge gibt.

Wir arbeiten an einem Forschungsinstitut der Shandong Normal University, das sich mit psychischer Gesundheit und deren Verbesserung befasst. Vor einigen Monaten haben wir eine Zusammenarbeit mit dem universitären Krankenhaus für Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) begonnen. Bei dieser Gelegenheit trafen wir Prof. Yan, der seine bemerkenswerten diagnostischen Fähigkeiten bereits bei seinem Antrittsbesuch spontan an Lorenza demonstrierte. Er entwickelte eine neue Methode, um körperliche Zustände durch Berührung des Pulses am rechten und linken Handgelenk zu diagnostizieren.

Das war eine erstaunliche Erfahrung, denn er hatte mit 90 Prozent seiner Diagnose vollkommen recht, ohne dass sich die beiden jemals vorher gesehen hätten. Er erkannte nämlich eine leichte Herzrhythmusstörung, einen leichten Tinnitus im rechten Ohr und er konnte auch noch feststellen, welche Art von Speise am vorigen Abend für eine Entzündung in Lorenzas Magen gesorgt hatte. Gleichzeitig übersah er allerdings den zwei Monate alten Bruch ihres Ellenbogens – keine Methode ist also perfekt!

Das Qi

Auf den ersten Blick wirkt die TCM wie Hokuspokus: Nützt Bärengalle wirklich bei Augenkrankheiten? Helfen Tigerknochen echt gegen Rheuma? Warum um Himmels Willen sollte das so sein? Dennoch interessieren wir uns für die Methoden der TCM aus ganz seriösen wissenschaftlichen Gründen. Denn die TCM weist überraschend viele Parallelen mit westlichen Methoden auf, das menschliche Gehirn auf unschädliche Art und Weise zu stimulieren.

Jüngere Forschungen aus westlichen Laboren haben gezeigt, dass selbst oberflächliche Hirnstimulation relativ systematische psychologische Verbesserungen zeitigen kann, wie etwa bei der Behandlung von Depression und Angststörungen. Auch die TCM hat im Laufe ihrer Entwicklung gezeigt, dass sich unsere mentale Gesundheit durch Stimulation verbessern lässt. Genau wie die westlichen Ansätze hat die TCM dabei das Ohr als interessante Stimulationsquelle entdeckt – die Basis der Ohr-Akupunktur.

Während beide Methoden also die Haut im Bereich des menschlichen Ohres stimulieren, um unsere Psyche auf Trab zu bringen, haben sie sich völlig unabhängig voneinander entwickelt und verfolgen auch gänzlich andere Ansätze. Im Unterschied zur westlichen Herangehensweise verfolgt die TCM einen erfahrungsbasierten, ganzheitlichen Ansatz. Der geht davon aus, dass das Ohr direkt oder indirekt mit 12 Hauptmeridianen verbunden, durch die eine bestimmte Art von Energie (das sogenannte Qi [t͡ʃiː]) in den Blutgefäßen fließt. Qi und Blut sind voneinander abhängige Faktoren, die (wenn alles gut läuft) nach dem Prinzip des Yin und Yang im Gleichgewicht sind und in Harmonie miteinander auskommen.

Wissenschaftliche vs. Klassische Medizin

Der westliche allopathische Ansatz ist viel stärker wissenschaftlich geprägt und basiert auf der Einsicht von Descartes, dass die Teile unseres Gehirns durch elektrische Signale miteinander kommunizieren. Wenn dem so ist, so die Annahme, dann sollte die externe elektrische Stimulation in der Lage sein, unsere Gehirnaktivität zu beeinflussen. Da die westliche Medizin davon ausgeht, dass verschiedene Gehirnregionen verschiedene mentale Funktionen haben, hängt der Erfolg dieser Methode notwendigerweise davon ab, welche Region man stimuliert. Dass nun beide Methoden, mit derart unterschiedlichen philosophischen Hintergründen und derart unterschiedlichen Entwicklungsgeschichten zu denselben Schlussfolgerungen kommen, ist aus wissenschaftlicher Sicht natürlich sehr vielversprechend.

Aus Deutschland kommend, waren wir dennoch zunächst zurückhaltend und vorsichtig. Denn in Deutschland besteht ja eine tiefe und langanhaltende ideologische Kluft zwischen Anhängern der wissenschaftlich basierten klassischen Medizin und Befürwortern alternativer Heilungsmethoden. Nach einer Umfrage aus dem Jahre 2021 (Statista Global Consumer Survey) versuchen 42 Prozent der Deutschen, grundsätzlich auf klassische Medikamente zu verzichten. Also wesentlich mehr als Befragte aus den USA (29 Prozent) oder aus Großbritannien (26 Prozent). Rund ein Viertel der Deutschen glaubt, dass Hausmittel genauso wirksam sind wie rezeptfreie Medikamente, und 10 Prozent versuchen, auch bei schweren Erkrankungen ausschließlich homöopathische Mittel zu nutzen.

Tatsächlich sind die Auseinandersetzungen zwischen wissenschaftlicher und alternativer Medizin in Deutschland oft sehr erbittert und unversöhnlich, wie die Coronakrise des Öfteren gezeigt hat, und wird in der Regel durch gegenseitige Schmähung und Herabwürdigung geführt. Ganz anders die Chinesen, bei denen offenbar keinerlei Berührungsängste in die eine oder andere Richtung bestehen. Apotheken führen ganz selbstverständlich sowohl Medikamente der wissenschaftlich basierten Pharmaforschung als auch Produkte alternativer Heilungsmethoden. Die Bürger probieren ganz ideologiefrei aus, was bei ihnen besser wirkt, was ihnen besser gefällt, und agieren als mündiger Käufer.

So ist es auch zu erklären, dass bei aller Dominanz der TCM im allgemeinen chinesischen Gesundheitswesen die allopathischen Medikamente Ibuprofen und Paracetamol während der letzten Corona-Welle in vielen chinesischen Städten ausverkauft waren, sodass unsere entsprechenden Carepakete mit Begeisterung aufgenommen wurden.

Konfuzius sagt: Wissen soll in vielen Quellen gesucht werden

Durch diese Beobachtungen ermutigt, haben wir letztlich dann doch den Kontakt zu unseren universitären Kollegen von der TCM gesucht. Und haben ihn gefunden. Tatsächlich waren sie außerordentlich erfreut über unsere Kontaktsuche, und wir haben in kurzer Zeit so viele gemeinsame Interessen identifizieren können, dass wir dies in einem gemeinsamen Überblicksartikel in einer wissenschaftlichen Zeitung dokumentieren wollen. Zumindest diese Befürworter der TCM sind sehr interessiert am kritischen Hinterfragen der eigenen Methoden und an dem Abgleich des eigenen Wissens mit anderen Wissensbeständen.

Dahinter steckt die Vision der Entwicklung einer integrativen individualisierten Medizin, in der Methoden der TCM und westliche Theorien der Nervenregulation fruchtbar zusammengeführt werden können. Mit dem Ziel, die medizinische und psychische Heilung zu verbessern. Statt wütender, empörter Konfrontation, die wir aus Deutschland kennen, stoßen wir hier also auf breit geteilte Idee, dass die beiden unterschiedlichen medizinischen Ansätze auf harmonische Weise voneinander lernen können und sich kein Ansatz gegenüber dem anderen durchsetzen muss. Dies zum Wohle aller auch gar nicht sollte.

Wir lernen also, dass sich Ansätze, die wie Gegensätze aussehen, gar nicht ausschließen müssen. Für uns ist das ein zutiefst befremdlicher Gedanke, denn unsere gängige Logik geht ja von der wechselseitigen Ausschließlichkeit von Gegensätzen aus. Der chinesische Konfuzianismus hat im Unterschied dazu mit Gegensätzen viel weniger Probleme. Konfuzius war der Meinung, dass man Wissen aus vielen Quellen suchen und berücksichtigen sollte. Dass man sie gemeinsam analysieren und reflektieren sollte, um ein tieferes Verständnis des Themas zu erlangen. Er glaubte an die Bedeutung des kontinuierlichen, lebenslangen Lernens und der Integration von Wissen, ohne das eine gegenüber dem anderen zu bevorzugen.

Ein berühmtes chinesisches Sprichwort lautet „和而不同“ (hé ér bù tóng): „in Harmonie, aber nicht dasselbe“. Wir wünschen uns, dass sich auch Deutsche diese Überlegung zu Herzen nehmen. Dass wir vielleicht auch in Deutschland lernen, wie wichtig es ist, Gleichgewicht und Harmonie in Vielfalt und Unterschieden zu finden. Zu verstehen, dass es wirklich gut für uns alle ist, dass wir so verschieden sind. Weil wir deswegen mehr wissen und besser verstehen. Aus dieser Sicht ist auferlegte Einheitlichkeit und die Idee, es könne nur eine Lösung für ein Problem, nur eine Sicht auf die Dinge geben, der wichtigste Hemmschuh auf dem Weg zu tieferer Einsicht.

Ähnliche Beiträge:

14 Kommentare

  1. Nun regiert in China eine Kommunistische Partei, die allerdings nur Erwähnung findet, wenn es etwas zu kritisieren gibt. Das Positive geht immer auf Konfuzius zurück, auch in diesem Artikel.

    Hier allerdings sind die Kommunisten wirklich maßgeblich beteiligt. Sie ärgerten sich über die Imperialisten, die für die chinesische Medizin immer nur Verachtung übrig hatten. Allerdings ließen sie Systematik walten: die Verfahren wurden geprüft und die, die keine oder zu wenig Wirkung hatten, wurden ausgesiebt. Daher der gute Ruf der chinesischen Naturmedizin. Akupunktur gehört heute zum Handwerkszeug eines hiesigen Arztes, das ist geklärt. Hingegen die einheimischen Mittel sind nach wie vor umstritten.

    Es müsste halt auch mal Systematik walten. Dazu gab es erst einen Ansatz: die Wünschelrutengänger durften ihr Können demonstrieren. So richtig überzeugen konnten sie allerdings nicht.

    https://www.handelsblatt.com/technik/forschung-innovation/wuenschelrutengaenger-scheitern-im-test-kein-preisgeld/2415848.html

    1. Hier allerdings sind die Kommunisten wirklich maßgeblich beteiligt

      Ich habe die Geschichte so gehört, dass die Kommunisten sich nicht ärgerten, sondern China etliche Jahrzehnte ziemlich arm war und sich die TCM leichter leisten konnte.

      Zudem, sobald es um Psychisches geht, insbesondere bei der Depression, ist auch die westliche Medizin eher ratlos und hofft auf z.B. Gesprächstherapien und eher schlecht überprüfbare Wirkmechanismen wie Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer.

      Auch in der westlichen Medizin gibt es nicht endlos viele verblüffende Durchbrüche, wie der, dass Magengeschwüre und -Krebs meist vom Helicobacter Pyloris verursacht ist und mit einer Antibiotikakur sehr wirksam behandelt werden kann.

      Was andere Zipperlein angeht, merkt jeder, der „in die Jahre kommt“, dass die zunehmen und angefangen bei Diabetes, über Fuß- und Rückenschmerzen mit einfachen Verhaltensänderungen (die von Fall zu Fall auch ganz schön mühselig sind) ganz gut in Schach gehalten werden können, so lange sie noch nicht zu sehr eskaliert sind.

      1. Das ist richtig. Das zweite Ziel war natürlich, eine preiswerte, eigene Medizin zu haben, um nicht in Abhängigkeit vom Westen zu geraten.

        Die Bill und Melinda Gates Stiftung mag ihre Verdienste haben. Aber man hätte doch lieber etwas Eigenes. Was zum Beispiel in Indien sehr gut verstanden wird.

    2. > https://www.handelsblatt.com/technik/forschung-innovation/wuenschelrutengaenger-scheitern-im-test-kein-preisgeld/2415848.html

      Es liegt doch klar auf der Hand, dass Geld das Karma vertreibt. Deswegen arbeiten Heilpraktiker grundsätzlich nur auf Selbstkostenbasis.

      Übrigens wurden in Allgemeine Erklärung der Menschenrechte auf Wunsch Chinas seinerzeit (klassische) konfuzianische Prinzipien eingearbeitet. Wollen sie natürlich nichts mehr von wissen, denn was schert China heute Konfuzius (und die Menschenrechte).

      phz

      1. Ja klar, derzeit ist es üblich, in Richtung China irgendwelche Provokationen loszulassen. Im Rahmen von Kriegsvorbereitungen.

        Aber musst Du da unbedingt mitmachen?

  2. Apropos Tigerknochen in der TCM =
    https://youtu.be/HR5tNtOGM-8

    Achtung der Film ist Nicht’s für zartbesaitete Warmduscherbobo’s!
    Executive Outcomes (PMC) hat als erstes mit dem Natur/Tierschutz ein Einträgliches Geschäftsfeld in ihren Rückzugsräumen aufgebaut!

    Humanismus oder Ethik?

  3. Einen Bruch durch Fühlen des Pulses erkennen….

    Alles klar !

    Zu den getrockneten Tigerpimmeln habe ich es anschließend nicht mehr geschafft.

    Nashornhörner sind auch gesund, bloß nicht für die Nashörner. Die sterben aus, gemeinsam mit den Tigern.

  4. So ganz auf Avicenna-Niveau ist man in China aber noch nicht. Das war ein islamischer Arzt um das Jahr 1000 herum. Er hatte, der Legende nach so viele Patienten, dass er sie unmöglich alle besuchen konnte. Diese mussten sich einen Faden ums Handgelenk binden, welcher dann zu Avicennas Haus geführt wurde. Dieser konnte am Faden erkennen, wie es dem Patienten ging.

    Eines Tages erlaubte sich eine ältere Dame einen Scherz: sie band den Faden um die Pfote ihrer Katze. Darauf Avicenna: wie kann es sein, dass eine so alte Frau Fünflinge bekommt?

  5. Achgotterle, die heilige europäische Wissenschaft wird als nicht die allein seligmachende dargestellt und schon sind’se aus dem Häuschen.
    Jetzt mal unabhängig von Nashorn-Horn und Tigerpenissen, auch die europäische Wissenschaft hat immer wieder Dinge praktiziert und propagiert, die sich dann als Humbug heraus gestellt haben Es gibt halt vor allem in Asien Jahrtausende alte Erfahrungsmedizin, die erstaunliche Erfolge erzielt. Ich kann mir diese ignoranten Furor gegen eine Medizin, die den ganzen Menschen mit seiner Umwelt in Blick nimmt nur mit dem westlichen ausschließenden Konkurrenzdenken erklären und dem Glauben, dass, wenn man den Menschen wie ein Auto zerlegt hat, ihn dann halt auch wieder „gesund zusammen schrauben kann“.
    Und das konfuzianische Denken ist offenbar tief im Wesen und Denken der Chinesen und wahrscheinlich auch anderer Asiaten verankert. Das wird nicht durch ein paar Jahre Kommunismus ausgelöscht. Wir haben gute Gründe, diesem Denken und dieser Herangehensweise ebenso offen zu begegnen, wie das umgekehrt der Fall ist.
    Achja und wie war das mit dem Insulin aus Bauchspeicheldrüsen von Schweinen?!

  6. Moderne Chinesen bevorzugen die rationale Medizin auf den Standard, wie sie weltweit praktiziert wird. Die TCM wird respektiert, der Tradition zu liebe. Die Akkupunktur weißt in einigen Teilbereichen erstaunliche Wirkungen auf und ergänzt die moderne Medizin. Jeder weiß, Krebs kann man mit Akkupunktur NICHT heilen, aber die Nebenwirkungen der modernen Onkologie lindern.
    China setzte während der Coronamedizin auf wissenschaftliche Methoden und entwickelte einen eigenen, sog. Todimpfstoff, den das Land an Entwicklungsländer verschenkte. Der Westen lieferte, sehr zum Ärger der Afrikaner, seine abgelaufenen Impfstoffe nach Afrika.
    Ohne Impfzwang ist in China die Impfrate höher als in der BRD, die im Zeichen des westlichen, auch geistig-ideologischen Niedergangs, ein seltsames esoterisches Volk hervorgebracht hat. Dahingegen ist China im Aufschwung, denkt pragmatisch und rational und ist damit den Westen in vielerlei Hinsicht überlegen!
    Anders als der Westen macht China aus der TCM keine Ideologie, sondern wendet diese pragmatisch an. Wer heilt hat recht!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert