Der alltägliche Kollektivismus

Panorama von Jinan.
Song Hongxiao, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Wie zeigt sich der chinesische Kollektivismus im Alltag? Lorenza Colzato und Bernhard Hommel zeigen zwei Beispiele auf – und stellen klar: Kollektivismus steckt in uns allen. Nicht nur in den Chinesen.

Die chinesische Gesellschaft ist eine kollektivistische, das sagen die Chinesen selbst und alle anderen sagen das auch. Auch objektivere Daten zeigen das deutlich: auf der bekannten Hofstede-Skala für Individualismus (also dem Gegenteil von Kollektivismus) erhalten die USA 91 von 100 Punkten, Deutschland immerhin 67, aber China lediglich 20 Punkte. Viel kollektivistischer geht es also nicht.

Aber was heißt das im Alltag, wie fühlt sich das an? Der Begriff des Kollektivismus wird vornehmlich in soziologischen Diskursen verwendet, doch welche Bedeutung hat er für das psychologische Verständnis der Chinesen?

Nur auf den ersten Blick chaotisch

Diese Frage hat uns umgetrieben. Durchaus schon bevor wir nach China gezogen sind, als wir  mithilfe von Experimenten die psychologischen Auswirkungen von individualistischen und kollektivistischen Religionen verglichen haben. Wie sich aber der kollektivistische Alltag konkret anfühlt, haben wir erst durch zwei Beobachtungen in China nachvollziehen können. Die erste bezieht sich auf den Verkehr. Wir leben in Jinan, der Hauptstadt der Provinz Shandong. Shandong hat mit über 100 Millionen deutlich mehr Einwohner als Deutschland – und in Jinan wohnen ungefähr 10 Prozent davon. Der Verkehr, so kann man sich leicht vorstellen, ist also beträchtlich. Autos sind nicht ganz so populär wie in Deutschland (sehr wohl aber öfter als dort elektrifiziert!), sodass Elektroscooter einen unübersehbaren Anteil am Verkehr haben. Die wesentlichen Verkehrswege beschränken sich interessanterweise auf Straßen für Autos und Wege für Scooter, und die paar vereinzelten Fahrräder, während Bürgersteige offenbar in der gesamten Stadt nicht vorgesehen sind.

Auf Basis dieser Voraussetzungen entwickelt sich oft eine Verkehrsdynamik, die auf den ersten Blick chaotisch scheint: Fußgänger laufen teils auf der Straße, teils auf den Fahrrad- und Scooterwegen und teils in den Hauseingängen; Scooter fahren oft in die eine, gelegentlich aber auch in die Gegenrichtung; und Autos wechseln oft und überraschend die Spur, fädeln unvermittelt ein, kreuzen Radwege, ohne den Verkehrsfluss abzuwarten, und vieles mehr. Unfälle kommen vor, sind aber angesichts der Verkehrsdichte keineswegs auffällig häufig.

Verkehr als Organismus

Der zweite Blick, aus einer Art geistigen Vogelperspektive, offenbart jedoch ein anderes Bild. Tatsächlich funktioniert der Verkehr wie ein Organismus, gesteuert von einer Art Schwarm-Intelligenz. Der zweite Blick zeigt auch, wie sich die individuellen Verhaltensweisen von denen unterscheiden, die wir aus Deutschland gewöhnt sind. So haben wir in all den Monaten niemanden erlebt, der sich über das Verhalten anderer mokiert, der protestiert, geschimpft und andere auf ihre Regelverstöße hingewiesen hätte.

Es wird viel gehupt, das ist wahr. Aber das ist kein „Wie kannst du Depp mir die Vorfahrt nehmen!“-Gehupe, sondern ein „Vorsicht, ich fahre gerade in die Gegenrichtung, fahr bitte nicht in mich rein!“-Gehupe. Und es trifft auf Fahrer, die ungewohnte Verkehrssituationen und Regelübertretungen systematisch erwarten und die gewohnt sind, flexibel mit ihnen umzugehen. Weil sie wissen, dass man sich anders in dieser Stadt nicht fortbewegen kann. Weil sie verstehen, dass sich die viel zu engen Straßen durch die altertümlicheren Teile der Stadt oft nur auf der falschen Fahrbahnseite passieren lassen, dass Anlieferungen oft nur durch Blockierung gleich mehrerer Verkehrswege möglich sind. Und weil sie unentwegt alle anderen auf ihrem visuellen Radar haben. Die, die sie sehen, und die die da noch kommen könnten.

Dies alles verlangt beeindruckende Leistungen am Steuer, und tatsächlich erleben wir fast täglich, was es bedeutet, auf den Millimeter genau zu fahren. Wenn das nicht reicht, kommt oft unerwartete Hilfe: Als wir mithilfe einer Kollegin versucht haben, uns unserem täglichen Coronatest in einem Krankenhaus zu unterziehen, hatten wir uns in einem Moment sprichwörtlich festgefahren. Am Ende ihrer Kräfte verließ die Kollegin das Auto, worauf wie selbstverständlich ein fremder Fahrer einstieg, um das Auto geschickt aus der Gefahrenzone zu fahren. Ohne vorherige Abklärung der Versicherungsverhältnis und möglichen Schadensansprüche. Das, so glauben wir, ist Kollektivismus im Alltag.

Liebe Kollegen

Die andere Beobachtung bezieht sich auf unser Forschungsteam und dessen administrativen Unterstützer. Als Ausländer und vor allem als Nicht-Chinesisch-Sprechende sind wir oft im Alltag aufgeschmissen, jedenfalls wenn er mit Behörden zu tun hat. Praktisch alle Formulare sind nur in Chinesisch erhältlich, und kaum jemand spricht Englisch. Ohne Begleiter und vorbereitende Helfer sind also Behördengänge, die Anmietung einer Wohnung und selbst der Erwerb einer Telefonnummer nicht möglich. Die Universität, an der wir arbeiten, beschäftigt dementsprechend mehrsprachige Angestellte, die uns bei all diesen Angelegenheiten helfen.

Neben diesen offiziellen Angeboten, die man von einer Universität mit internationalen Ambitionen erwarten kann, gibt es aber viel mehr. Kollegen haben ohne Gegenleistung ihr Wochenende geopfert, um uns aus der Quarantäne in Shanghai abzuholen. Hotelrechnungen für uns beglichen und uns (zinslos) Geld von ihrem persönlichen Konto für Einkäufe vorgestreckt, als wir über einen Monat auf unser erstes Gehalt warten mussten. (Westliche Kreditkarten werden hier kaum akzeptiert und der grenzüberschreitende Transfer von Geldbeträgen ist nur nach aufwendiger Prüfung durch das Steuerbüro gestattet.)

In Zeiten der verschärften Coronamaßnahmen haben sie spontan (und ja: auf ihre eigenen Kosten) Lebensmittelpakete für uns im Hotel abgegeben. Und sogar ein Bundesliga-Abonnement bei einem chinesischen Fernsehsender für uns organisiert. Selbst unsere Chinesisch-Lehrerin arbeitet mit uns zweimal die Woche ohne jedes Entgelt, einfach weil sie die Erfahrung, mit derart hoffnungslosen Fällen umzugehen, interessant und lehrreich findet.

Unser zunehmendes Erstaunen über so viel Hilfe, Unterstützung und Liebenswürdigkeit fand seinen Kulminationspunkt während eines der vielen Abendessen, die nahe und entferntere Kollegen für uns organisiert haben. Bei vielen dieser Abendessen war viel Schnaps im Spiel, und viele Toasts, die einen willkommenen Anlass für dessen Genuss abgaben. In vielen dieser Toasts wurden wir willkommen geheißen, aber zwei davon haben uns besonders beeindruckt und tatsächlich überrascht: Kollegen stellten fest, dass es für sie kaum etwas Wichtigeres und Befriedigenderes gäbe, als unsere Wünsche zu erfüllen.

Der Kollektivismus steckt in uns

Mit einem deutschen Hintergrund kommen einem Sätze dieser Art überraschend, vielleicht befremdlich, oder sogar übertrieben vor – aber wir haben bei aller Höflichkeit und aller Berücksichtigung unseres privilegierten Status‘ keinen Anlass zu der Annahme, dass sie nicht authentisch waren. Würden Deutsche so über andere denken und so mit ihnen fühlen? Im Alltag können wir uns das einfach nicht vorstellen. Dafür sind wir zu viel mit uns selbst beschäftigt, sorgen uns viel zu sehr um die möglichen persönlichen, geldwerten oder juristischen Konsequenzen unserer Handlungen, sind wir viel zu neidisch, viel zu empört über die Unzulänglichkeiten und Fehler der anderen.

Und doch steckt es in uns. Denn viele von uns sind es ja gewöhnt, viel für das erste Kollektiv zu tun, das wir kennengelernt haben: unsere Familie. Dies ist vielleicht noch offensichtlicher für die Italienerin in unserem Autorenteam als für den Deutschen, und es gilt vielleicht noch mehr für italienische Familien im Allgemeinen als für deutsche. Aber die Grundidee, dass man manche Dinge auch mal für andere tun könnte und vielleicht sollte, haben viele von uns dort kennengelernt. Und genau das hatten unsere chinesischen Kollegen im Sinn: wir sind jetzt Teil ihrer Familie. Merkwürdig und neu für uns Mitteleuropäer ist also nicht so sehr diese Grundidee, die wir ja eigentlich kennen, sondern die sehr ausufernde Definition von dem, was Familie sein könnte, in der chinesischen Kultur.

Aber selbst wir Mitteleuropäer, und vielleicht sogar diejenigen, die aus einer Kleinfamilie oder weniger familiären Kontexten stammen, sind mit expansiveren Definitionen von Familie vertraut. Denn für jeden Fußballfan ist es ja ganz selbstverständlich, dass er nahezu alles für seinen Verein tun würde. Wenn er den Stürmer der eigenen Mannschaft besser machen könnte, würde er das tun. Ganz selbstlos, und ohne Hintergedanken. Wenn uns also etwas an etwas liegt, das größer ist als wir, dann haben wir mit der Selbstlosigkeit, mit dem Gönnen, mit dem Ertragen des Erfolgs von anderen gar kein Problem. Wir haben dann keine Vorbehalte, juristische Bedenken oder Angst vor dem Ungewissen, sondern Vertrauen in uns und in unser Team. Er steckt also in uns, der Kollektivismus, in allen von uns, nur machen wir halt so selten etwas daraus.

Ähnliche Beiträge:

11 Kommentare

    1. Ihren Beitrag hier verstehe ich nicht ganz. Weder im Kontext zum Kommentar, noch sonst. Der Name der Dame passt zwar gut ins Narrativ der deutschen „bunten“ Gesellschaft. Sie wurde aber in Deutschland geboren und sicher auch hier sozialisiert. Ansonsten ist über sie jedes Wort zuviel, denn so wie sie auftritt ist sie sich wohl gegen entsprechendes Entgelt für nichts zu schade. Ist im deutschen Medien-Mainstream und den zugehörigen Sofa-, Bio-, Klimaretter- und SUV-Gutmenschen doch bestens aufgehoben.

    2. Die Eltern von Frau Dr. Leiendecker, geborene Nguyen-Kim, stammen aus Vietnam, nicht aus China. Aber diese Schlitzaugen kann sowieso kein anständiger Mensch auseinanderhalten, gelle?

      Sollte der im Link angezeigte Tod des Clemens Arvay durch den „Hetzmob“ nachweisbar sein, wäre eine Anzeige vielleicht eine gute Idee. Oder ist so etwas nicht individualistisch genug?

  1. Interessante Betrachtungsweise. Ja, das mit dem Verkehr hat mich auch immer wieder überrascht und funktioniert nur, weil nicht jeder meint, der schnellere und stärkere sein zu müssen. Für mich der Beweis, dass vieles auch mit Vernunft und Rücksichtnahme statt strikter Regeln möglich ist. Und von wegen Dauerüberwachung. Die Autofahrer müssten ständig Bußgelder bezahlen – nach deutschen Maßstäben. Ich bin auch im Alltag, auf Flug- und Bahnhöfen, im Supermarkt, auf der Straße, insbesondere auch bei der Polizei, einfach überall, nur auf hilfsbereite und nette Menschen gestoßen. Die Sprachbarriere war dabei oft eine lustige Randerscheinung und meistens mit der Übersetzungs-App zu lösen. Etwas überrascht hat mich die Aussage zum Geld. Ich habe selbst in der tiefsten Provinz nie ein Problem gehabt, einen Geldautomaten zu finden, um mit der deutschen Kreditkarte Geld abzuheben. Ich bin schon gespannt, was die Autoren erzählen, wenn sie etwas länger vor Ort sind.

  2. Vielleicht funktioniert hier vieles nicht so spontan, aber zumindest wenn ich um Hilfe bitte, habe ich immer freundliche Helfer gefunden. Z.B. ein Fahrrad die U-Bahn-Treppe hoch zu tragen oder auch, wenn ich mal wieder gestürzt bin, weil mir ein Auto in den Weg fuhr. Sofort waren helfende Menschen da.
    Nichtsdestotrotz, ich freue mich auf weitere Berichte.

  3. Als eine echte einheimische „Jinan Ren(Jinanerin)“, bin ich sehr bewegt. Ich habe nie von diesem Aspekt aus meine Heimat betrachtet. Es passt zu einem alten chinesischen Sprichwort: The outsider sees the most of the game. Vielen Dank für so ein interessantes Blog!

  4. Leider hatte ich nie die Gelegenheit, nach China reisen zu koennen, irgendwas kam immer dazwischen, auch war die Reise nicht ganz billig.
    Als 14-jaehrige fielen mir die Buecher von Pearl S. Buck in die Haende, der Buecherclub meiner Schwester lieferte und lieferte und, wenn auch verboten, las ich die Buecher und entwickelte eine heimliche kleine Sehnsucht nach China trotz Kulturrevolution, die in vollem Gange war aber mich interessierte das Leben und…. das laendliche China hat die Buck wohl gut beschrieben.
    Computer und Internet waren unbekannt, also blieb nur das Nachschlagen in den Enzyklopaedien.
    Irgendwann war dann China nicht mehr Mittelpunkt, sondern Vietnam, Krieg und Unterdrueckung.
    Nach der Oeffnung Chinas und dem rasanten Aufstieg zur Nr. 1 ist die chinesische kulturelle Gesellschaft fest im Kollektivismus verankert, in der Kindheit wird der Grundstein gelegt, waehrend hier im Westen immer mehr private Sicherheitsdienste die Schulhoefe bewachen muessen.

    1. Hallo,
      wenn Du chinesisches Landleben erträumen möchtest, könnte Dir diese chinesische Fernsehserie (mit englischen Untertiteln) gefallen:
      https://www.youtube.com/watch?v=Uj__X2BRhyo
      Wunderschön langsam erzählt, ohne Mord und Totschlag, mit Superdarstellern bis in die kleinsten Nebenrollen, die Kinder sind umwerfend gut genauso wie die Omis.
      Aussteiger auf chinesisch. Bis Folge 30 unbedingt sehenswert, danach dümpelt es etwas.

      1. na ja ertraeumen jetzt gerade nicht mehr, das war vor 60 Jahren aufregend, jetzt denke ich gibt es in China die gleichen Serien wie hier…..Landleben hin Landleben her….werde trotzdem mal reingucken, danke fuer den Link.

  5. Ich weiss nicht, ob „Kollektivismus“ der richtige Begriff ist. Danke für den Artikel erst einmal, ich freue mich immer, etwas aus China zu hören. Eigentlich wollte ich 2020 wieder nach China, aber .. na ihr wisst schon. Ein Schlüsselwort ist Guanxi 关系, mit „Beziehungen“ sehr schlecht und unvollkommen beschrieben.

    Es geht darum, Menschen im engeren und auch weiteren Bekanntenkreis Hilfe zu geben, Gefälligkeiten zu erweisen, auch Geschenke, und in einem weiteren Netzwerk solche selbst zu erweisen, wo die Gelegenheit und Notwendigkeit besteht. Dadurch entwickeln sich komplexe Netzwerke, über Menschengruppen, Städte, Regionen hinweg.

    Vieles davon ist für Aussenstehende, vor allem Laowai, nicht einfach zu durchschauen, aber nach meiner Erfahrung sind die Chinesen da ziemlich tolerant. Ich habe auch oft nicht gemerkt, wenn ich in Fettnäpfchen getreten bin. War aber nie schlimm.

    Man sollte sich aber im Klaren sein, dass die Leute, die einem geholfen haben, eventuell irgendwann mit einem Anliegen kommen, oder Verwandte oder Freunde von ihnen. Da sollte man tun, was man kann, solange es im Rahmen der Gesetze bleibt und einen nicht überfordert. Ich hatte ein paarmal die Gelegenheit, z.B. bei Visaanträgen in westliche Länder zu helfen und habe mich darüber eher gefreut. Auch chinesische Freunde bewirten und begleiten, wenn sie sich mal nach Deutschland verirren.

    Aber es stimmt schon, die Lebensweise ist anders, auch wenn an der Oberfläche die Konsumgesellschaft so ähnlich ist. Diese Netzwerke sind einerseits hilfreich, die innergesellschaftlichen Beziehungen konfliktfreier ablaufen zu lassen, sie beinhalten natürlich auch ein Korruptionsrisiko. Die Grenzen sind fliessend und müssen stets neu ausgehandelt werden. Da ich jahrelang nicht in China war, belasse ich es dabei.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert