Sind Lebensmittel nun zu teuer – oder nicht etwa doch zu billig? Florian Schwinn geht dieser Frage im aktuellen Beitrag seiner wöchentlichen Kolumne »Führerschein für Einkaufswagen« nach.
Es gab mal eine Zeit, da diskutierten wir in Deutschland darüber, dass die Lebensmittel zu billig sind. Es ging um Ramschgemüse, Billigfleisch, Lebensmittelverschwendung und die Folgen der Discounterpreise für die Bauern und die Tierhaltung. Milch wurde verschenkt oder weggekippt, die Lager des Lebensmitteleinzelhandels wurden von Treckern blockiert. Das war vor dem Krieg in der Ukraine und der aktuellen Inflation. Inzwischen scheint es nur noch darum zu gehen, dass die Lebensmittel zu teuer sind. Wir lesen und hören von Verbraucherinnen, die sich das Saisongemüse nicht mehr leisten können, und von Bauern, die den Spargel wachsen lassen und die Erdbeeren unterpflügen.
Ist die Idee deshalb tot, dass für Lebensmittel reale, vielleicht sogar faire Preise bezahlt werden müssen, wenn die Bauern im Land überleben sollen? Müsste sie nicht gerade jetzt neu aufleben, wo es manchem dämmert, dass der Welthandel nicht wirklich funktioniert und Versorgungssicherheit bei der Ernährung vielleicht auch eine Frage der regionalen Produktion ist? Wie würde das also aussehen, wenn wir Lebensmittelpreise zahlen, die die Höfe überleben lassen?
Versuchsfeld Preise
Um herauszufinden, wie man für hochwertige regional produzierte Lebensmittel einen angemessenen Preis fair aushandelt, mit dem am Ende Bauern, Handel und Verbraucher leben können, habe ich einen Ausflug gemacht: nach Lübeck zu »Landwege« und nach Cismar an der Ostsee zum Hof Klostersee. Das ist ein Demeter-Betrieb mit Milchvieh und Getreideanbau, mit Käserei und Bäckerei.
Landwege ist eine kleine Bio-Supermarktkette mit fünf Märkten in Lübeck und Bad Schwartau. Dazu gehört eine der ältesten Bäckereien Deutschlands, das Freibackhaus in Lübeck. Und dazu gehört eine Großküche, die aber weniger Mittagessen produziert, als vielmehr Convenience-Produkte für den Supermarkt. Und dazu gehören dreißig Bauernhöfe wie Klostersee, in der nahen und weiteren Umgebung in einem Radius von rund hundert Kilometern um Lübeck. Oder andersherum, den Höfen gehört auch Landwege, denn das Ganze ist eine Genossenschaft.
Unter dem Gestehungspreis
Beginnen wir die Reise in Cismar. Dort sitzt Knut Ellenberg am Computer, der Manager der Kuhherde. Auf dem Bildschirm zeigt er mir eine sogenannte Vollkostenrechnung. Mehrere Demeter-Milchviehbetriebe sind verglichen worden, indem sehr genau jede Arbeitsstunde notiert wurde, jede Maschinenstunde, die nötig sind, um einen Liter Milch zu produzieren. Das Verfahren erinnert ein wenig an die »Optimierung« der Bandarbeit im vergangenen Jahrhundert, nur dass es hier nicht darum geht, Arbeiter besser ausbeuten zu können. Obwohl es dazu sicher auch missbraucht werden könnte. Dennoch geht es erst einmal darum, überhaupt zu erfahren, was ein Liter Milch den Betrieb tatsächlich kostet.
Das ist nichts, was ein Landwirt einfach so weiß. Ein Bauernhof ist ein komplexer Organismus, der den dort arbeitenden Menschen vieles gleichzeitig abverlangt. Da ist nicht für jeden Mitarbeiter jeder Handgriff jederzeit einem bestimmten Betriebsbereich zuzuordnen. Also muss man forschen, notieren, rechnen.
Am Ende kam für Hof Klostersee eine ernüchternde Rechnung heraus: Der Gestehungspreis für einen Liter Milch lag im untersuchten Jahr bei einem Euro. Die Molkerei zahlte in diesem Jahr für den Liter Milch 52 Cent. Gut, es war eines der trockenen, schwierigen Jahre. Besonders schwierig in den Niederungen an der Ostsee, wo es Jahrzehnte lang ausreichend geregnet hatte. Weshalb niemand wusste, wie mit der Trockenheit umgehen. Lehrjahre des Klimawandels.
Dennoch ist die nüchterne Botschaft der Rechnung: Das kann sich kein Betrieb auf Dauer leisten. »Das muss sich ändern und das wird sich ändern«, sagt Knut Ellenberg: »Wir haben unseren Fokus zu wenig auf die Milchleistung gelegt.« Im Vordergrund standen beim Hof Klostersee in den vergangenen Jahren dagegen die Gesundheit und die Aufzucht der Tiere. Was im Umkehrschluss heißt: Ein Hof der sich sehr auf das Tierwohl konzentriert, produziert zu teuer für die derzeitigen Preise, selbst im Biobereich.
Direktvermarktung hilft
Hof Klostersee ist ein Vorzeigebetrieb, wenn es um das Tierwohl geht. Wobei, als die sogenannte »muttergebundene Kälberaufzucht« dort eingeführt wurde, gab es das Wort Tierwohl noch gar nicht. Vor über zehn Jahren hätte wohl kaum jemand mit dem Begriff etwas anfangen können. Damals aber beschlossen die Familien, die Klostersee betreiben, neu zu bauen – einen für damalige Verhältnisse überdimensionierten Kuhstall mit Kindergarten für Kälber und ihre Mütter.
Die Kuhherde ist der Nukleus des Betriebs. Sie sorgt dafür, dass das Grünland der Umgebung in Lebensmittel umsetzbar ist, sie sorgt für Milch und Joghurt, Quark und Käse, sie produziert den Dung, mit dem alles fruchtbar gehalten wird. Wenn es der Herde gut geht, geht es dem Hof gut, wäre die Philosophie in Kurzfassung. Was nur stimmt, wenn man die Kreislaufwirtschaft der Landwirtschaft anschaut; was – wie gerade gelernt – nicht stimmt, wenn man die Preise anschaut.
Dennoch wurde zuerst einmal eine muttergebundene Kälberaufzucht aufgebaut in Klostersee. Das ist ein seltsamer Fachbegriff für die schlichte Tatsache, dass die Kälber bei ihren Müttern saufen dürfen. So etwas geht gar nicht in normalen, konventionellen Milchviehbetrieben. Dort werden die Kälber schnell von der Mutter getrennt und saufen dann am Nuckeleimer, notfalls gewässertes Milchpulver, je nach Milchpreis. Deshalb braucht es diesen Fachbegriff, der etwas Normales beschreibt, das aus der Normalität der Milchproduktion eliminiert wurde.
Auf Hof Klostersee wurde in den letzten zehn Jahren die muttergebundene Kälberaufzucht optimiert. Jetzt bekommen die Kälber vier Monate Milch, zwei davon von der eigenen Mutter. Das kostet, das verbraucht Milch, das eigentliche Produkt der Kühe, aber das produziert auch gesunde Tiere. Und – nochmal aber – das kostet noch mehr, wenn man die Kälber dann auch noch ganz aufziehen will, statt sie abzugeben zum Kälbermäster, der sie genau so hält, wie man das den Tieren nicht zumuten möchte.
Nur wie das finanzieren? Knut Ellenberg sagt: »Unsere Lebensader ist der Hofladen.« Nur durch die Direktvermarktung kann sich der Hof am Markt halten. Und diese Direktvermarktung erlebte während der Pandemie ein heftiges Auf und Ab, und erlebt jetzt gerade einen Einbruch, weil dank Ukraine-Krieg und Inflation alles teurer wird und die Menschen sparen.
Was hilft, ist die eigene Wertschöpfungskette: Der Hof betreibt eine Käserei und hat eine gut gehende Bäckerei. Das würde aber nicht ausreichen, um das Projekt »Aufzucht« zu finanzieren.
Schwarze Null
Vor einigen Jahren haben die Bäuerinnen und Bauern von Klostersee es dann beschlossen: »Alle Tiere, die hier geboren werden, sollen auch das schöne Leben haben, das wir ihnen bieten können. Wir geben keine Kälber mehr ab!« An diesem Projekt, das ohne den angeschlossenen, eigenen Einzelhandel niemals realisierbar gewesen wäre, lässt sich sehr schön aufzeigen, was Tierwohl bedeutet und was es kostet. Jenseits vom Milchpreis.
Das zweite Standbein des Hofs an der Ostsee ist »Landwege«, die Produktions- und Handelsgenossenschaft in Lübeck mit fünf Bioläden und Bäckerei. Dort tauchten dann, als das Projekt »Jungrind« gestartet war, Flyer auf, die verkündeten: »Bei der Milch geht’s auch um die Wurst! Milch und Fleisch gehören zusammen, denn ohne Kälber gibt’s keine Milch.«
Basics für Verbraucherinnen und Verbraucher, die sich bis dato vielleicht keine Gedanken darüber gemacht hatten, dass ein Kalb geboren werden muss, damit eine Kuh Milch gibt. Start einer Kampagne. Jungrind nennt Landwege die Nachkommen der Milchkühe, wenn sie mit acht bis zehn Monaten geschlachtet werden.
Das ist der Preis für die Aufzucht der Kälber auf dem Klosterhof: Sie werden nicht weggegeben in irgendwelche Dunkelställe zu irgendwelchen konventionellen Mästern, die daraus in kurzer Zeit das geschmacklose weiße Zeug produzieren, das wir als Kalbfleisch angeboten bekommen, oder in nur von Panade zusammengehaltene Wiener Schnitzel einbacken. Sie haben ein Leben auf Weiden und Stroh. Aber sie sterben recht früh, denn Knut Ellenberg sagt es ehrlich: »Wir können die Tiere nicht alle zwei oder zweieinhalb Jahre lang ernähren. Dazu gibt es weder die Weiden, noch die Ställe, noch das Futter.«
Und was ist nun der Preis, den Hof Klostersee für die Jungrinder bekommt. »Landwege zahlt zehn Euro pro Kilo Schlachtgewicht. Das ist vier Euro mehr als üblich, aber ein Euro unter dem, was wir brauchen, um damit etwas zu verdienen.« Will sagen: Die Arbeit ist bezahlt, das war’s. Ein »auskömmliches Einkommen« ist etwas anderes.
Ethische Verpflichtung
Es ist weder eine Win-Win-, noch eine Lost-Lost-Rechnung. Es ist ein Nullsummenspiel. Denn auch der Händler Landwege kommt zwar ohne rote Zahlen, aber auch ohne Gewinn aus diesem Deal. Was natürlich nicht für jede Rechnung gelten darf, sonst gibt es bald kein Geld mehr, das investiert werden könnte.
Macht nichts, sagt Geschäftsführerin Tina Andres: »Es ist eine ethische Verpflichtung, die Jungrinder aufwachsen zu lassen und am Ende zu vermarkten.« Denn es gehe genau um das Problem, dass die Landwirtschaft auch mit dem Kükentöten habe. Dort geht es um die Brüder der Legehennen, hier um die Brüder der Milchkühe, deren Aufzucht sich nicht lohnt, weil sie zu wenig Fleisch ansetzen. Man müsse es dennoch tun – und langfristig dann dafür sorgen, dass wir von solch einseitiger Zucht auf weibliche Merkmale, wie Milch und Eier, und einseitiger Nutztierhaltung wegkommen. Zukunftsaufgabe.
Einstweilen schmeißt Landwege seine Großküche an, um die Jungrinder zu vermarkten, die es in zwischen von drei Mitgliedsbetrieben gibt. Das Motto heißt: From Nose to Tail! Das ganze Tier soll verwertet werden. Kein Lebensmittelabfall, nichts wegwerfen. Deshalb gibt es im Biosupermarkt in Lübeck jetzt Königsberger Klopse vom Jungrind, Boeuf Stroganoff und Rouladen im Glas, und am Ende dann Rinderbrühe und Rinderfonds.
Die Küche ist eine besondere Erfindung von Landwege. Sie macht es überhaupt erst möglich, den angeschlossenen Mitgliedshöfen ganze Tiere abzunehmen und diese zu verwerten. Sie bietet den Kundinnen und Kunden Convenience-Produkte und Konserven aus handwerklicher Herstellung, und dem Betrieb eine tiefere Wertschöpfungskette. »Für die Tiere und die Höfe ist es auch eine Wertschätzungskette«, sagt Tina Andres.
Preisfindung
Und wie ermittelt Landwege nun die Preise, die die Mitgliedshöfe für ihre Produkte brauchen. „Ganz einfach“, sagt Geschäftsführer Klaus Lorenzen: »Wir fragen: Was brauchst du?« Dabei stellt sich zwar immer wieder heraus, dass die Bauern das nicht so genau wissen. Das aber lässt sich ja mit den Vollkostenrechnungen beheben. Und dann steht da ein Preis für die Möhre, die Kartoffel, das Fleisch. Und den versucht Landwege dann, am Markt zu realisieren – in diesem Fall, im eigenen Biomarkt.
Zum fairen Handel gehört bei Landwege auch die gemeinsame Anbauplanung. Da wird das jeweils nächste Jahr budgetiert: Wer baut was an und bekommt dafür wieviel? Weil die Genossenschaft für alle Mitglieder alle Bilanzen offenlegt und auch die Bioläden genau auflisten, was sie verkaufen, können die Bauern planen. Dabei entstehen bisweilen auch neue Produktideen. So kam ein Bauer schon vor Jahren auf die Idee, es mit Süßkartoffeln zu probieren, weil die Bioläden da jährlich fünf Tonnen verkauften. Ein anderer versuchte es mit Ingwer, weil auch da eine erhebliche Menge über die Ladentische ging. Jetzt gibt es regionalen Ingwer und regionale Süßkartoffeln in Norddeutschland.
Bei Landwege funktioniert die direkte Verbindung von Produktion und Handel. Die sonst übliche Trennung ist aufgehoben. Aber sind das am Ende dann wirklich faire Preise, die dabei herauskommen?
»Nein«, sagt Tina Andres, »die Preise sind weit entfernt von allem, was fair und gerecht wäre.« Gerade hat die Regionalwert AG fünfzehn der dreißig Landwege-Mitgliedsbetriebe bewertet und festgestellt, dass sie jedes Jahr mehr als anderthalb Millionen Euro an gesellschaftlichem Mehrwert in Sachen Nachhaltigkeit, Klimaschutz, Biodiversität und Sozialleistungen schaffen, während die Ausgleichszahlungen der Europäischen Union davon weniger als ein Drittel abdecken.
Nur als Merksatz: Auch die Subventionen der EU kommen aus unseren Taschen. Bezahlen müssen wir die Lebensmittel so oder so. Und die Umweltschäden auch, die bei ihrer Produktion verursacht werden. Mir persönlich wäre es lieber, ich würde nicht Steuern für Subventionen zahlen, sondern reale Preise für Lebensmittel. Das würde vieles klären.
Mehr zum Thema im Podcast.