Besuch im Psychotop

Landschaftsgestalterin: Galloway-Kuh im halboffenen Weideland. Eine nordische Savanne und ein Hotspot der Biodiversität. So kann Landwirtschaft auch aussehen. | Foto: Florian Schwinn

Das Psychotop ist die Landschaft, in der wir uns wohlfühlen. Wenn die dann auch noch landwirtschaftlich genutzt ist und die Tiere sich darin auch wohlfühlen, und wenn die Nutztiere dann auch noch dafür sorgen, eine unserer größten Krise zu bekämpfen, dann ist das eine Reise wert.

Ganz entgegen allen Krisengejammers machen wir heute einen Ausflug und schauen uns an, wie eine der Krisen bekämpft wird. Und zwar die Biodiversitätskrise. Es geht in eine absolute Wohlfühlgegend. Nein, das ist kein Spa, nichts mit Wellness, auch kein Traumziel für Urlauber. Es ist was mit Landwirtschaft, na klar. Wir besuchen also eine Landschaft, in der auch Lebensmittel produziert werden. Aber es geht nicht um die gelbe Poesie eines blühenden Rapsfeldes oder die im Wind wellenden Ähren der Gerste. Es geht um eine Landschaft und auch Landwirtschaft, die uns offenbar viel tiefer im Gemüt liegt. Um eine Landschaft außerdem, wie es sie in Deutschland nur noch sehr selten gibt.

Idealbild Natur

Wenn das Bundesamt für Naturschutz alle zwei Jahre in repräsentativen Studien die Menschen in Deutschland zu ihrem Naturbewusstsein befragt, wird als erste Assoziation auf die Frage »Was ist Natur?« Landschaft beschrieben.

Und wenn man nun die Landschaft modellieren müsste, die den meisten von uns zu dem Begriff Natur spontan einfällt, dann wäre das eine Lichtung mit Tieren. Waldrand, Weide – und Kühe. Ja, Kühe, nicht Rehe, nicht Hirsche, nichts was flüchtet; auch nichts potenziell Gefährliches, keine Wildschweine, kein Fuchs, kein Wolf. Eine kleine Herde grasender Kühe auf einer Weide am Wald. Das anzuschauen scheint nicht nur für mich etwas Beruhigendes zu haben.

So hat mir die damalige Präsidentin des Bundesamtes für Naturschutz das Naturbild der Deutschen schon vor Jahren bei einem Interview ausgemalt. Daran habe ich mich erinnert, als ich jetzt diese Landschaft besucht habe, die ganz viel davon hat, in der man kilometerweit zwischen Bäumen und Büschen über Weiden laufen kann.

Stiftungsland Schäferhaus
Biologe und Landwirt Gerd Kämmer mit Spaziergängerinnen beim Kräutererklären. Die Weidelandschaft steht Wanderern offen, die sich an die Wege halten. Die Straße ist der alte Panzerweg der Bundeswehr im ehemaligen Übungsgelände. | Foto: Florian Schwinn

Es ist eine offene Weidelandschaft, mehrere hundert Hektar groß. Kleine Wäldchen, Baumgruppen, Büsche, dazwischen Grasland mit Wildblumen und Kräutern, einzelne große Bäume viele kleine, und Sträucher. Am Wegrand blüht der Thymian, über der Weide singt die Feldlerche. Dazwischen grasen Galloways, laufen ihre Kälber. Gegen Abend hört man die Frösche. Mit etwas Glück sieht man einen Neuntöter, oder den kapitalen Rothirsch Sven, der öfter die Kühe besuchen kommt.

Ein befreundeter Zoologe, der sich viel in Afrika aufhielt, hat mir einmal erklärt, sein »Psychotop« – also die Landschaft, in der er sich zuhause und aufgehoben fühlt –, das sei die Savanne. Diese Landschaft hier ist eine Savanne in Norddeutschland und sie könnte mein »Psychotop« sein.

Den Deutschen wird ja nachgesagt, sie seien Liebhaber des Waldes. Wenn man sie aber – wie gerade beschrieben – nach ihrem Idealbild von   Natur fragt, dann kommt immer so etwas heraus, wie es hier zu erleben ist: eine offene Weidelandschaft. Vielleicht liegt das daran, dass unsere frühesten Vorfahren hier in Mitteleuropa eben keine dichten, dunklen Wälder vorfanden, sondern solche nordischen Savannen. So wie die Vorfahren unserer Vorfahren in Afrika. Vielleicht passt diese Landschaft deshalb als Psychotop für uns.

Savanne des Nordens

Ende der 1990er Jahre hat die Bundeswehr ihren Standortübungsplatz bei Flensburg aufgegeben. Verkauft an die Stiftung Naturschutz Schleswig-Holstein. Die hat das Gelände 1999 an die heutige Genossenschaft Bunde Wischen verpachtet, die das Ganze mit Hilfe von vielen robusten Rindern und einigen Wildpferden zu einer halboffenen Weidelandschaft umfunktioniert hat. 420 Hektar groß ist das Gebiet, durchschnitten von einer Straße und dem kleinen Flensburger Flughafen. Der dreihundert Hektar große Nordteil ist eines der größten zusammenhängenden Weidegebiete Deutschlands.

Auf der ehemaligen Panzerstraße kann man das Gebiet umrunden. Derzeit muss man dabei auf seine Füße achten, um einerseits den Kuhfladen auszuweichen, die von Käfern und Fliegen besiedelt sind, und andererseits die Bauten der Sandbienen zu schonen, die dort gerade ihre Brut einbuddeln. Die alte Nutzung ist also durchaus noch sichtbar, dennoch ist hier ein Gebiet entstanden, das für Gerd Kämmer, den Vorstand der Genossenschaft, einer natürlichen mitteleuropäischen Landschaft sehr nah kommt.

Suchbild mit Sandbiene. Auf der ehemaligen Panzerstraße graben die solitären Wildbienen die Löcher für ihre Brut. Diese hier sucht noch nach dem geeigneten Platz. | Foto: Florian Schwinn

Gerd Kämmer ist da ganz der Auffassung des niederländische Biologen Frans Vera, der die sogenannte Megaherbivorenhypothese mit entwickelt und in seinem Buch »Grazing Ecology and Forest History« dargelegt hat. Die Hypothese besagt, dass große Pflanzenfresser, die Megaherbivoren, die Landschaft in weiten Teilen Europas offengehalten haben. Dass nicht alles mit dichten, dunklen Wäldern bestanden war, bevor wir Menschen hier einzogen. Dass unsere Vorfahren in weiten Gebieten auch hier ähnlich offene Weidelandschaften vorfanden wie in Afrika. Dann wäre eine Weidelandschaft mit Baumbestand und beweideten Wäldern eine der ursprünglichen Naturlandschaften. Jedenfalls ist es die mit der höchsten Biodiversität und den meisten Rote-Liste-Arten.

Viele Paläobotaniker sagen, dass das mit den großen Weidetieren, den Wisents und Auerochsen, die die Landschaft offengehalten hätten, nicht stimmen könne. In den Pollen und Samen von damals, die man heute noch finden und analysieren kann, finden sich nämlich kaum Spuren von Gräsern und Büschen. Frans Vera und seine Kollegen haben Pollenanalysen in heutigen halboffenen Weidelandschaften durchgeführt, und auch darin kaum Gräser und Büsche gefunden, obwohl die dort standen, wo die Proben genommen wurden. Gegenthese widerlegt: Wo große Weidetiere grasen, kommen viele Gräser gar nicht zur Blüte, und Sträucher, die von Insekten bestäubt werden, lassen ihre Pollen nicht fliegen.

Gerd Kämmer nennt die Landschaft, die seine Rinder geschaffen haben, dann auch gerne mal Savanne. Sie sieht auch so aus. Weil die Rinder im Winter auch an den Bäumen fressen, sehen manche von den Hutebäumen aus wie kleine Schirmakazien.

Naturschutz Landwirtschaft
So etwa beschreiben die meisten Deutschen ihr Idealbild von Natur. Hier kann man darin herumlaufen: Stiftungsland Schäferhaus bei Flensburg. Der Zaunpfahl im Vordergrund ist übrigens nicht wirklich ernst gemeint. Hier sind eher die menschlichen Wanderer ausgezäunt. | Foto: Florian Schwinn

Bunde Wischen, ehemals als Verein gegründet, um als bunte Vision mit drei Rindern den Versuch zu starten, eine fünf Hektar große Orchideenwiese zu pflegen, ist heute eine gemeinnützige Genossenschaft. Die beschäftigt achtzehn Menschen und bewirtschaftet insgesamt 1800 Hektar solcher offenen Weidelandschaften wie das Stiftungsland Schäferhaus. Über tausend Rinder der britischen Robustrassen Galloway, Highlander und White Park und knapp hundert Konik-Wildpferde pflegen die Gebiete.

Weil sie sich dabei auch vermehren, schlachtet Bunde Wischen im Schnitt vier Rinder in der Woche. Wobei der Begriff Schlachten hier nicht ganz passt, weil nicht die Metzger die Tiere töten. Keines wird zum Schlachthof gefahren. Die Tiere werden auf der Weide geschossen. »Die haben den Schuss nicht gehört«, sagt Gerd Kämmer, »die Kugel ist schneller als der Schall. Wenn der bei dem Tier ankommt, ist das schon tot. Einen stressfreieren Tod kann es aus meiner Sicht für ein Tier nicht geben!« Vor allem müssen die Rinder nicht am Ende eines Lebens in großer Freiheit in einem Hänger zum Schlachthaus gefahren werden.

Es entstehen also Lebensmittel für Menschen bei dieser Art der Landschaftspflege zum Zwecke des Naturschutzes und der Rettung der Biodiversität. Das Fleisch verkauft Bunde Wischen ausschließlich regional. Es wird nichts verschickt und nichts über weitere Strecken transportiert. Und es gibt auch keine Einbrüche beim Absatz, wie das von anderen Biobetrieben derzeit beklagt wird. Bunde Wischen wäre kein gutes Beispiel gewesen für den Blog zum »Ende des Bio-Booms«.

In der Pandemie gab es zweistellige Zuwachsraten bei der Direktvermarktung und den regionalen Märkten. Das hat den Wegfall der Gastronomie und den Ausfall der vielen Feste ausgeglichen. Und auch der Ukraine-Krieg macht dem Bioland-Betrieb Bunde Wischen noch kein Problem. Wer kein Futter zukaufen muss, ist derzeit fein raus. Für Zahlenfans: 700.000 Euro Jahresumsatz macht Bunde Wischen mit dem Fleisch und den Wurstwaren der Biorinder. »Das ist ganz ordentlich für einen Betrieb mit vierzehn vollen Stellen«, sagt Gerd Kämmer.

Wer jetzt angeregt wurde, und wie ich, einen Ausflug in eine der halboffenen Weidelandschaften machen will, die es auch anderswo in Deutschland gibt, sollte unbedingt eine der aktuellen Bestimmungs-Apps auf dem Handy haben. Mit der kann man jetzt im Sommer mit Entdeckungen von Pflanzen und Tieren glänzen, die andere nur von der Roten Liste der bedrohten Arten kennen, wenn überhaupt. Das Grillfleisch fürs Wochenende gibt’s dann im Hofladen …

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2 Kommentare

  1. Die Kunst des Lebens ist leicht zu lehren – man darf nur nicht zu viel begehren.

    Erstrebenswert ist es seine Energiereserven gelegentlich am Spülsaum eines Gewässers aufzutanken, denn dort sind die Naturelemente Luft, Wasser und Erde vereint, und sie strömen so einen magischen Zauber auf einen aus.

  2. Auch wenn meine eigene Vorstellung von Natur etwas anders aussieht und somit mein ureigenes Psychotop sich anders gestaltete, so empfinde ich die mit der oben beschriebenen Landschaft verbundene Landwirtschaft als großartig, nachahmenswert, eigentlich als die einzig Akzeptable. Und wenn neben „echten“ Naturlandschaften auch Kulturlandschaften solch begrüßenswerte und unabdingbare Auswirkungen auf die Biodiversität zeitigen, dann ist das beeindruckend. Und sicher auch einen Ausflug wert………..

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