Raül Romeva: „Die Unabhängigkeit ist nur ein Werkzeug für uns“

Alle politische Gefangenen über die Parteigrenzen hinweg, die gerade mal wieder Freigang haben, haben sich gemeinsam präsentiert und eine Amnestie gefordert haben. Bild: Marc Puig Perez/ERC

Der Politikwissenschaftler und ERC-Politiker Raül Romeva, der als politischer Gefangener wegen angeblichem Aufruhr zu einer langen Haftstrafe verurteilt wurde, über die Wahl in Katalonien.

 

Gegen die große Mehrheit im katalanischen Parlament hat der Oberste Gerichtshof entschieden, dass die Parlamentswahlen mitten in der dritten Welle der Coronavirus-Pandemie am Sonntag stattfinden müssen

Fast alle Parteien, die im aufgelösten katalanischen Parlament vertreten waren, hatten sich Mitte Januar auf eine Verschiebung der Wahlen auf den 30. Mai geeinigt, damit sich die Lage in der Region im spanischen Staat über die Impfkampagne verbessern kann. Allein die spanischen Sozialdemokraten, die ihren bisherigen Gesundheitsminister Salvador Illa ins Rennen schicken, hatten sich dagegengestemmt. Eine Klage sorgte dafür, dass der Oberste Gerichtshof entschied, dass die Wahlen doch wie einst geplant am Sonntag stattfinden müssen, obwohl viele Menschen Angst vor einer Ansteckung haben.

Zwei Zahlen machen die Angst in einer Region deutlich, in der sich die aggressivere britische Virus-Variante stark verbreitet. Fast 300.000 Menschen haben Briefwahl beantragt.  Das sind drei Mal so viele als beim bisherigen Rekord im Jahr 2015. Besondere Angst haben Wahlhelfer, die sich den gesamten Tag in Wahllokalen aufhalten müssen. Fast 28.000, gut ein Drittel aller bestellten Helfer, habrn einen Antrag auf Befreiung gestellt.

Erwartet wird, dass die Wahlbeteiligung deutlich unter der Rekordbeteiligung von 79% bei den letzten Wahlen im Dezember 2017 liegen wird. Das allein macht das Argument zweifelhaft, mit dem der Oberste Gerichtshof entschieden hat, das Dekret zur Wahlverlegung zu kippen. Nach Meinung der Richter sei es von „allgemeinem Interesse“, jetzt zu wählen, um das „Wahlrecht“ als „Grundrecht“ zu sichern und nicht in eine unsichere Lage zu kommen. (

Da die Entscheidung erst am 29. Januar fiel, blieb kaum Zeit, um zum Beispiel das Wahlrecht der im Ausland lebenden Katalanen zu garantieren. Nur 6% der 255.000 im zuständigen Register eingeschriebenen Personen haben es geschafft, die Wahlunterlagen zu bekommen, die zudem fristgerecht ankommen müssen. Uns liegt der Fall eines in Deutschland lebenden Katalanen vor, der als Wahlhelfer bestellt wurde, aber wegen fehlender Wahlunterlagen selbst nicht wählen darf.

Die Covid-Lage ist weiter mit einer 14-Tage-Inzidenz von 458 pro 100.000 Einwohner sehr angespannt. In einigen Regionen liegt sie sogar über 1000, wie im Vall d’Aran (1.169). Dass am Donnerstag weitere 114 Coronavirus-Tote in 24 Stunden registriert wurden, trägt nicht zur Beruhigung bei. Die Zahl liegt über dem Durchschnitt im Januar, als mehr als 2.100 Tote verzeichnet wurden. Auch der Druck auf den Hospitälern ist weiter hoch und die Zahl der Covid-Patienten auf Intensivstationen mit 668 nur knapp unter dem Höchststand der dritten Welle. Allerdings konnte Buchkomplizen bei den Präsidentschaftswahlen in Portugal feststellen, dass es trotz noch schlechterer Covid-Lage möglich ist, eine sichere Wahl durchzuführen.

Auch politisch sind es besondere Wahlen in Katalonien, da etliche Protagonisten nicht zur Wahl stehen, da sie wie unser Gesprächspartner Raül Romeva inhaftiert sind oder sich wie der ehemalige Regierungschef Carles Puigdemont im Exil aufhalten, unter dem Romeva Außenminister war. Der Chef der Republikanischen Linken (ERC) kann nicht kandidieren, da er wegen angeblichem Aufruhr zu einer Haftstrafe von 13 Jahren verurteilt wurde und ebenfalls weiter inhaftiert ist, obwohl der Europäische Gerichtshof (EuGH) geurteilt hat, dass Oriol Junqueras Immunität genießt.  Statt Junqueras schickt die Partei ihren bisherigen Vize Pere Aragonès ins Rennen.

Über die Wahlen, die Hoffnungen der ERC und die Einschätzungen zur aktuellen Situation und den vergangenen drei Jahren, seit dem Unabhängigkeitsreferendum und der Unabhängigkeitserklärung sprachen wir mit dem 1971 in Madrid geborene Politikwissenschaftler Raül Romeva. Er war mit weiteren acht Anführern der Bewegung im Oktober 2019 zu langen Haftstrafen wegen angeblichem Aufruhr verurteilt worden  und ist seit mehr als drei Jahren inhaftiert.

„Es werden die Interessen des spanischen Staats über die der Bürger gestellt“

Am Sonntag muss in Katalonien ein neues Parlament gewählt werden. Ist es möglich, in der schweren Pandemie zu wählen, wie der Oberste Gerichtshof bestimmt hat?

Raül Romeva: Technisch gesehen sind diese Wahlen sicher, da etliche Sicherheitsmaßnahmen ergriffen wurden. Aber es geht nicht allein um die Wahl, sondern um den Wahlprozess, die Debatten, Versammlungen und Treffen waren nur eingeschränkt möglich. Wahrscheinlich ist, dass viele Menschen aus Angst nicht wählen gehen, obwohl die Wahlen sicher sind. Es ist eine Frage der Legitimität und keine technische Frage. Deshalb hatte die große Mehrheit der Parteien entschieden, die Wahlen auf Ende Mai zu verschieben. Aber das hat das Gericht abgelehnt.

Welche Bedeutung haben diese Wahlen?

Raül Romeva: Sie haben eine große Bedeutung. Schon im Dezember 2017 bekamen wir mit der Zwangsverwaltung über den Paragraphen 155 gerichtlich eine Wahl aufgezwungen, nachdem die gesamte Regierung abgesetzt worden war, der auch ich angehört habe. Trotz dieser Vorgänge konnten wir die Parlamentsmehrheit der Parteien verteidigen, die für die Unabhängigkeit eintreten. Ganz ähnliche Vorgänge haben wir in den letzten drei Jahren auch gesehen, die Regierung unter Quim Torra wurde abgesetzt, Menschen wurden verurteilt und mit Amtsverbot belegt. Erneut wurde durch ein Gericht entschieden, dass wir wählen sollen. Genau deshalb ist es wichtig, am Sonntag zu wählen, um zu zeigen, dass wir die Wahlurnen nicht scheuen und dass das keine Art und Weise ist, wie eine Demokratie funktioniert. Es werden die Interessen des spanischen Staats über die der Bürger gestellt.

Welche Ergebnisse erwarten Sie? Ihre ERC strebt an, stärkste Kraft zu werden.

Raül Romeva: Wir arbeiten seit langem daran, stärkste Kraft zu werden. Wir erwarten, dass das auch eintritt. Bei spanischen Parlaments- und Kommunalwahlen wurden wir schon stärkste Kraft. Jetzt erwarten wir, auch die katalanischen Parlamentswahlen zu gewinnen. Allerdings, liegen die Umfragen nicht immer richtig, weder hier noch an anderen Orten.

Wenn die ERC nicht gewinnt, also die Wähler nicht mittragen, dass ihre Partei die sozialdemokratische spanische Regierung unter Pedro Sánchez in Madrid unterstützt?

Raül Romeva: Dann müssen wir weiter daran arbeiten, um das zu erreichen. Es ist jetzt aber wichtig, dass die Menschen entscheiden können, auf welcher politischen Linie es hier weitergehen soll. Es liegen die Projekte der verschiedenen Parteien auf dem Tisch und darüber müssen die Leute abstimmen. Das Projekt, das mehr Stimmen erhält, hat mehr Legitimität. Das ist Demokratie. Wir hoffen, glauben und erwarten, dass es unseres sein wird.

Wäre ein inhaltlicher Schwenk der ERC nötig, wenn die Partei Gemeinsam für Katalonien (JxCat) von Carles Puigdemont gewinnt, für die Laura Borràs kandidiert, die sich im Madrider Parlament klar gegen die Sánchez Regierung stellt?

Raül Romeva: Das weiß ich nicht. Ich ziehe das auch nicht in Erwägung, weil ich davon ausgehe, dass die ERC gewinnt. Unsere Politik war richtig. Das zeigt sich auch darin, dass wir politische Räume besetzen und konsolidieren konnten. Wenn aber eine andere Formation gewinnt, müssen wir schauen, wie groß die Differenz ist, was passiert ist, darüber reden und ein politisches Projekt formulieren und zu Übereinkünften kommen. Das ist Politik.

Raül Romeva. Bild: Marc Puig Perez/ECR

Für Amnestie und Selbstbestimmungsrecht

Welche Regierung halten Sie für möglich?

Raül Romeva: Wünschenswert ist für mich eine Regierung, die von der ERC geführt wird, an der sich alle beteiligen, die zwei Grundsätze verteidigen: Amnestie und Selbstbestimmungsrecht. Das umfasst natürlich JxCat, aber auch die CUP und En Comu Podem (eine Koalition unter Beteiligung von Podemos, Anm. des Autors). Es wäre gut, wenn sich diese soziale Realität in eine institutionelle Realität verwandeln würde.

Doch die antikapitalistische Koalition CUP hat das schon abgelehnt. Halten Sie es für möglich, dass JxCat sich an einer Regierung mit der En Comu Podem  beteiligt, die in Spanien mitregiert?

Raül Romeva: Jede Partei macht im Wahlkampf Vorschläge und legt seine Prioritäten fest. Wir werden unsere Hand allen gegenüber ausstrecken, die die derzeitige Situation überwinden und vorankommen wollen.

„Wir brauchen einen eigenen Staat“

Hat die ERC das Ziel der Unabhängigkeit aufgegeben, wie ihr einige vorwerfen?

Raül Romeva: Bei uns in der Partei höre ich das von niemandem. Niemand sagt, dass wir keine Unabhängigkeit brauchen. Das Gegenteil ist der Fall. Angesichts dessen, was wir erlitten, was die Mächte im spanischen Staat angerichtet haben, ist die Unabhängigkeit so notwendig wie nie zuvor. Wir brauchen einen eigenen Staat und dessen Werkzeuge, um die Probleme der Menschen zu lösen. Das ist weiter unsere Linie. Heute sind die, die einst Zweifel an dem Projekt einer unabhängigen Republik Katalonien hatten, auch davon überzeugt.

Wie erleben Sie die Spaltung unter den Parteien, die für die Unabhängigkeit eintreten?

Raül Romeva: Eine Spaltung in Bezug auf das Ziel der Unabhängigkeit sehe ich nicht. Es gibt natürlich eine kontroverse Debatte darüber, wie dieses Ziel erreicht werden soll, wie wir weiter in Richtung Unabhängigkeit schreiten können. Das ist normal und legitim. Diese Wahlen dienen der Klärung, ob der eine oder der andere Weg eingeschlagen wird.

Aber es gibt den Konsens, dass wir eine eigene Republik brauchen und ich hoffe, dass dies von mehr als 50 Prozent der Wähler nun unterstützt wird. Konsens ist auch, dass der Weg über Verhandlungen geht und wir unsere Ziele über demokratische und friedliche Wege erreichen müssen. Da gibt es keine Debatten oder Diskrepanzen. In diesen drei zentralen Punkten herrschen ein Konsens und eine große strategische Einheit, was für mich sehr bedeutsam ist. Debatten gibt es über die Führerschaft, Zeitrahmen und Rhythmus im Vorgehen.

„Ich bin ein politischer Gefangener“

Kürzlich gab es internationales Aufsehen, als der russische Außenminister Lawrow den EU-Außenbeauftragten Borrell auf Sie und andere politische Gefangene in Spanien hinwies, die nur wegen der Durchführung eines Referendums inhaftiert sind, als Borrell die Freiheit von Nawalny forderte.  Sind Sie ein politischer Gefangener oder ein gefangener Politiker, wie die spanische Außenministerin daraufhin den Russen erklärte?

Raül Romeva: Ich bin ein politischer Gefangener. Das habe ich auch vor Gericht vertreten. Ich bin es aus einem einfachen Grund: Nichts von dem, was ich getan habe, ist strafbar. Wir sitzen nicht für unsere Taten im Gefängnis, sondern für unsere Ziele. Ein Referendum durchzuführen, ist kein Grund für eine Inhaftierung, da das auch in Spanien keine Straftat ist, wie man im Strafgesetzbuch nachlesen kann. Wirft man jemanden dafür ins Gefängnis, ist er ein politischer Gefangener.

Ich kenne zudem auch kein Land, das die Existenz politischer Gefangener zugibt. Die internationale Gemeinschaft sollte verstehen, dass mit unserer Inhaftierung nichts gelöst ist. Über die Symbolik hinaus, dass einige im Gefängnis sitzen, müsste die sich mit der Realität beschäftigen. Der Prozess, der seit vielen Jahren in Gang ist, wird weitergehen. Und Spanien muss verstehen, dass es mehr als zwei Millionen Menschen nicht zum Schweigen bringen oder einer Gehirnwäsche unterziehen kann. Man wird sich letztlich an einen Verhandlungstisch setzen müssen, wozu wir immer bereit sind.

Wie haben Sie die letzten drei Jahre erlebt, in denen sie im Gefängnis saßen? Ab und zu haben Sie tagsüber Freigang, wie jetzt gerade wieder einmal.

Raül Romeva: Mit Geduld und Entschlossenheit. Wenn mich das Gefängnis von etwas überzeugt hat, dann davon, dass es absolut notwendig war, das zu tun, was wir getan haben. Es ist wahr, dass es nicht ausreichend war. Das gebe ich zu. Aber darüber wurde allen klargemacht, in welchem Staat wir leben. Wenn der Menschen ins Gefängnis steckt, weil Anführer von zivilgesellschaftlichen Organisationen oder Politiker in einer demokratischen Form die Unabhängigkeit fordern, ist das für jeden Demokraten untragbar.

Wird man Ihnen den Freigang wieder streichen, wie es schon zuvor passiert ist?

Raül Romeva: Davon bin ich völlig überzeugt. Mich erstaunt eher, dass das noch nicht passiert ist. Mit Sicherheit soll das Wahlverhalten darüber nicht beeinflusst werden. Es soll verhindert werden, dass wir Politik machen. Wir sind schon zu Amtsverbot verurteilt worden, aber wir sollen ganz zum Schweigen gebracht werden. Das halte ich in einem Rechtsstaat oder einer Demokratie, noch dazu in einer europäischen Demokratie, für sehr schlimm. Wir greifen das weshalb überall an, wo wir können.

„Wir werden immer auf Verhandlungen setzen“

Doch hinter dem Vorgehen steckt meist das Ministerium für Staatsanwaltschaft. Die ist aber von der Regierung abhängig, wie auch Regierungschef Sánchez erklärt hat. Wie kann die ERC eine Regierung stützen, die viel verspricht und wenig hält. Vor einem Jahr hatte Sánchez auch versprochen, über die Konfliktlösung zu verhandeln, was aber nicht geschieht. Glauben Sie, dass es jemals zu Verhandlungen kommt?

Raül Romeva: Wir haben immer gesagt, dass es zunächst einen Dialog und dann Verhandlungen geben muss. Das gilt für alle Konflikte. Ich habe sie mein gesamtes Leben lang internationale Konflikte untersucht. Auch bei den gewalttätigsten, härtesten und kompliziertesten setzte man sich irgendwann an einen Tisch. Das geschah mit Gerry Adams in Nordirland oder mit Nelson Mandela in Südafrika. Wieso sollte das hier mit dem spanischen Staat unmöglich sein. Warum ist es so schwer für Spanien, zu begreifen, dass der Verhandlungstisch der Ort ist, um ein komplexes Problem zu lösen.

Wir werden immer auf Verhandlungen setzen und dort auftreten, wo ein Dialog stattfinden kann. Doch wird der Staat auch am Tisch sitzen? Klar ist, dass es nun etwas mehr Dialog mit der Sánchez-Regierung als vor einigen Jahren mit der von Mariano Rajoy gibt. Etwas hat sich bewegt. Wenig! Es gibt nun aber Kommunikationskanäle.

Wir glauben, dass ein Raum geschaffen werden muss, in dem beide Seiten ihre Vorschläge auf den Tisch legen. Es ist klar, dass der Konflikt nicht in wenigen Tagen gelöst wird. Aber wir müssen irgendwann damit beginnen. Bisher sitzen nur wir am Tisch, da die spanische Regierung immer wieder Ausflüchte anführt, um nicht zu beginnen. Wir haben auch schon auf den Tisch gelegt, über was wir reden wollen: Amnestie und Selbstbestimmung. Wenn ihnen das nicht gefällt, sollten sie erklären, über was sie reden wollen.

Die von Ihnen angesprochenen Dialogkanäle gibt es natürlich auch, weil die Minderheitsregierung unter Sánchez ihre Stimmen in Madrid zum Regieren braucht. Ist das nicht eine sehr angenehme Position für Sánchez? Seine Regierung bekam die Unterstützung der ERC vor einem Jahr für die Regierungsbildung und kürzlich auch für den Haushalt, während sie bisher praktisch keines der Versprechen umsetzen musste.

Raül Romeva: Hierzu möchte ich einen wichtigen Punkt anfügen. Wir als ERC glauben, dass Politik in den Diensten der Menschen stehen muss. Wir haben nicht eine Regierung unterstützt, sondern die Menschen. Wir haben Maßnahmen beschlossen, die wir für notwendig halten, um die Situation der Menschen zu verbessern. Das muss man nun mit dieser Regierung tun. Wir sind aber vor allem Republikaner. Die Unabhängigkeit ist für uns nur ein Werkzeug, um damit zu arbeiten, zu helfen und um zu verhindern, dass die extreme Rechte die Institutionen kontrolliert. Die Unabhängigkeit ist für uns kein Ziel an sich. Wir sind nur umstandsbedingt Unabhängigkeitskämpfer. Permanent sind wir Republikaner mit dem sozialen und politischen Inhalt, der hinter dem Begriff steht. Darin sollten wir alle unsere Energien reinstecken.

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