Das Abrechnungssystem des Gesundheitswesen degradiert den Patienten zu Abrechnungsfällen und macht Ärzte zu Buchhaltern. Thomas Strohscheider über die Transformation des Gesundheitswesens zur Gesundheitsindustrie. Ein Buchauszug.
Sprache ist oft verräterisch. Sie kann Denkmuster und Kernbotschaften offenbaren. Sie kann sich auch zu einer Fachsprache entwickeln, die nur noch von Insidern verstanden wird und auch werden soll. Und sie kann dazu dienen, sich abzugrenzen von Laien, von Unwissenden, von vermeintlich naiven Ewig-Gestrigen oder um eine Sache wichtig und groß erscheinen zu lassen. Beispiel Computerbranche: Wer die Fachbegriffe und den Insider-Jargon nicht beherrscht, ist »out«, hat keine Berechtigung mitzudiskutieren, wird nicht ernst genommen. Anglizismen spielen eine wichtige Rolle. Der Paradigmenwechsel im Krankenhauswesen ist ein Paradebeispiel dafür. Die Umwandlung von Kliniken in Wirtschaftsunternehmen spiegelt sich in der Sprache wider.
Der Patient als »Case«
Als ich mir mal wieder einen »spannenden« Vortrag einer an der Klinik beschäftigten »Case Managerin« (Fallbetreuerin) anhören musste, der nur so von solchen Anglizismen strotzte, erlaubte ich mir, meine Frage in Englisch zu stellen. Zunächst allgemeine Belustigung und Verwunderung. Auf meine Erklärung, dass man bei so vielen Anleihen aus dem Englischen doch gleich besser ganz zur englischen Sprache wechseln sollte, gab es große Verärgerung. Mir wurde deutlich gemacht, wie »ahnungslos« ich doch eigentlich sei. Dabei war es mehr ein inneres Aufbegehren gegen das Unbehagen, in erster Linie nicht mehr meiner Profession als Arzt zu dienen, sondern Patienten als »Case«, als einen Fall betrachten zu müssen. Im genannten Vortrag ging es um die effektive Patientensteuerung von stationär behandelten Patienten, um sogenannte clinical pathways, übersetzt: Behandlungspfade. Nicht eine in diesem Zusammenhang durchaus sinnvolle und dem Patientenwohl dienliche medizinische Untersuchungsabfolge und Behandlungs-Algorithmen waren das Thema, sondern die möglichst effektive Steuerung und wirtschaftliche Abbildung zur Erzielung eines maximalen Erlöses bei unseren »Fällen«.
Zwischen 1999 und 2002 fand im deutschen Gesundheitswesen eine fundamentale Neuausrichtung statt. Von dem bis dato zur Finanzierung der Kliniken praktizierten System über sogenannte Tagessätze, bei dem jeder Tag der Liegezeit über einen Pauschalbetrag, den sogenannten Tagessatz, berechnet wurde, wechselte man zum sogenannten Fallpauschalen-System. Dieses System wurde ursprünglich in Australien erdacht. Deshalb übernahm man auch die englische Bezeichnung »DRG-System« (Diagnosis Related Groups) in den Fachjargon. Verkürzt zusammengefasst: Die Klinik erhält für die Behandlung einer bestimmten Erkrankung einen Pauschalbetrag, der alle Behandlungskosten, Operationen und Therapien abdeckt. Die DRG-Codierung richtet sich in der Regel nach der Hauptdiagnose. Dass die Finanzierung über sogenannte Tagessätze, also einen ausgehandelten Festbetrag für jeden Krankenhaustag, Schwächen hatte und Änderungen notwendig waren, wird kaum jemand im Gesundheitswesen ernsthaft bestreiten
Ampel-System für Patienten
Wie Bernd Hontschik, Chirurg und Autor, in seinem Buch »Erkranken schadet Ihrer Gesundheit« schreibt, »ist das fundamental Fatale an dem neuen Bezahlsystem die ökonomische Verknüpfung zwischen der medizinischen Tätigkeit und der Diagnose mit der Höhe der Bezahlung«. Dass Australien sich längst wieder teilweise von diesem System verabschiedet beziehungsweise es deutlich modifiziert und verändert hat, will man in unseren Landen nicht so gerne hören. Deutschland hat es mit seinem ureigenen Anspruch auf Perfektion weiterentwickelt. 2020 gab es in dem Fallpauschalen-Katalog knapp 1 300 DRGs. Das funktioniert, vereinfacht gesagt, so: Die aus einem Fall erzielbaren Vergütungen richten sich im Wesentlichen nach einer Grundpauschale. Für eine bestimmte Erkrankung ist die stationäre Verweildauer vorgegeben – eine Mindest- und eine Höchstverweildauer.
Der Patient darf also nicht zu früh, sollte aber auch nicht zu spät entlassen werden. Am besten in der sogenannten mittleren Verweildauer. Für das Entlassmanagement sind in letzter Konsequenz vor allem Chefärzte und Abteilungsleiter verantwortlich. Manche Kliniken leisten sich hierfür sogar Entlassungsmanager, die das steuern sollen. Als Kontrollmechanismen hat man verschiedene Steuerungsinstrumente geschaffen. Zum Beispiel ein sogenanntes Ampel-System, das den Status der Patienten im Hinblick auf die Liegezeiten angibt. Grün bedeutet, alles ist noch in Ordnung. Gelb ist der Hinweis auf eine baldige Überschreitung der Liegezeit. Rot bedeutet, dass der Patient eigentlich schon längst hätte entlassen werden müssen. Einmal im Monat findet in vielen Kliniken eine sogenannte Leitungskonferenz statt.
Die Chefärzte und Abteilungsleiter sitzen dann der geballten Macht der Geschäftsführung und Vertretern des kaufmännischen Bereichs gegenüber. Dabei geht es im Wesentlichen um wirtschaftliche Themen. Medizinisches ist eher ein kleiner Themenbereich. In aufwendigen Tabellen wird vorgeführt, wer sich mit seiner Abteilung im grünen oder roten Bereich bewegt, welche Erlöse eine Abteilung erzielt, wie weit man sich von den Erlöserwartungen entfernt hat und so weiter. Versuche von Abteilungsleitern, negative Zahlen zu erklären oder zu rechtfertigen, beispielsweise aufgrund von Ausfällen erkrankter Mitarbeiter oder durch Engpässe bei den OP-Kapazitäten wegen fehlenden OP-Personals, finden dabei wenig Gehör.
Über Stellenbesetzungen oder Personalerweiterungen braucht man erst gar nicht zu diskutieren
Ein Chefarztkollege nannte diese Treffen einmal einen »Generaleinlauf«. Wie auf der Schulbank sitzend und auf die Zeugnisvergabe wartend, wird dann mit mehr oder weniger verblümten Worten dazu aufgefordert, dass man nach dem Sommerloch doch noch einmal »richtig Gas geben muss«. Auch bei der monatlichen Einzelbesprechung des Chefarztes mit der Geschäftsführung, dem sogenannten Jour fixe, dominieren Wirtschaftsthemen. Hier wird der Druck nochmals erhöht. Über Stellenbesetzungen oder Personalerweiterungen braucht man erst gar nicht zu diskutieren. Denn, so wird uns regelmäßig signalisiert, dazu müsste man zunächst in Vorleistung gehen. Die Latte wird aber in der Regel so hoch gelegt, dass man sie meist nicht überspringen kann. Und wehe, man gehört gerade zu den sogenannten Minderleistern und hat die Planziele verfehlt. Dann stehen durchaus Sanktionen im Raum, die bis hin zur Nichtbesetzung einer Planstelle bei Ausscheiden eines Mitarbeiters oder sogar zu Androhung einer Abteilungsschließung gehen.
Ein wichtiges Steuerungsinstrument und die Zahl schlechthin für die ökonomische Bewertung einer Abteilung ist der sogenannte Case Mix Index. Ein Abteilungsleiter sollte diese magische Zahl selbst nachts im Traum herbeten können. Sie gibt die Fallschwere der behandelten Patienten in seiner Abteilung an. Dabei kann ein Patient nicht krank genug sein, damit man das Maximum des potenziellen Fallerlöses herausholen kann. Aber bitte möglichst nur auf dem Papier! Denn schließlich soll er ja zeitgerecht die Klinik wieder verlassen. Das System funktioniert so, dass jedes Jahr zwischen Krankenkassenverbänden, Vertretern von Kliniken und Gesetzgebern sogenannte Basisfallwerte vereinbart werden. Dieser Basisfallwert, der derzeit etwa bei 3 500 Euro liegt, ist die Grundpauschale und wird dann multipliziert mit einem Index, der für jede Erkrankung vorgegeben wird.
Bei leichteren Erkrankungen liegt der Index beispielsweise bei 0,4 oder 0,7, bei schweren Erkrankungen und je nach Wertigkeit von Begleiterkrankungen kann er auf Werte über drei und mehr ansteigen. Also sollte man möglichst die Begleiterkrankungen dokumentieren, die den Schweregrad und damit den Index in die Höhe treiben. Der Durchschnittswert aus der Summe aller in der Abteilung behandelter Patienten bildet den sogenannten Case Mix Index. Diese Zahl multipliziert mit dem Basisfallwert und der Patientenzahl ergibt den Gesamterlös einer Abteilung. Relevante Begleiterkrankungen können dabei den Schweregrad deutlich steigern.
Erlösrelevante Erkrankungen
Was auf der einen Seite sinnvoll erscheint, weil ein multimorbider Patient einen deutlich höheren Aufwand und Ressourcenverbrauch bedeutet, ist durch den ständigen Abrechnungskampf zwischen Krankenkassen und Controllern der Kliniken pervertiert worden: Um einen optimalen Fallerlös zu erzielen, gilt es, alle Optionen auszuschöpfen, um den Patienten möglichst krank erscheinen zu lassen. Welche Erkrankung am Ende erfasst und behandelt werden soll, entscheidet sich daran, ob sie »erlösrelevant« ist, nicht aber »patientenrelevant«. Man nimmt tunlichst die Erkrankung, die den höchsten Erlös einbringt. Begleiterkrankungen, die vielleicht für den Patienten wichtig sind, werden eher ignoriert, wenn es dafür kein Geld gibt! Mit Blick auf die Erlössituation einer Abteilung kann es zum Beispiel passieren, dass die Geschäftsführung einer Klinik bemängelt, dass man zu viele »leichte Fälle« behandelt und die schweren Fälle mit hohen Erlössummen fehlen.
Operiert eine Gefäßchirurgie beispielsweise zu viele Patienten mit Krampfadern, was meist ambulant oder mit nur kurzer stationärer Liegezeit in der Klinik geschieht, dann drückt dies den Case Mix Index nach unten. Selbst wenn am anderen Ende der Behandlungsskala auch schwer erkrankte Patienten mit einem »hohen« Case Mix stehen, ist der Durchschnitt aus kaufmännischer Sicht zu niedrig. Der Geschäftsführer fordert mehr oder weniger direkt dazu auf, den Bereich der Krampfaderchirurgie möglichst auf niedrigem Niveau zu halten, selbst wenn viele Patienten mit dem Ergebnis ihrer Behandlung sehr zufrieden sind. Das Argument, dass viele der zufriedenen Patienten dadurch zusätzlich einen positiven Eindruck von der Klinik gewinnen und sich gegebenenfalls auch für die anstehenden Hüftoperationen wieder in diese Klinik begeben und somit also eine langfristige Klinikbindung stattfindet, überzeugt nicht.
Jede Abteilung wird einzeln bewertet, das Gesamtbild der Klinik spielt hierbei kaum eine Rolle. Das hat zur Folge, dass man Abteilungen, die aus Sicht der Geschäftsführung weniger oder überhaupt nicht gewinnbringend sind, am liebsten ganz schließen möchte. Der Einspruch, dass solche Schließungen die grundsätzliche Sicherheit von Patienten innerhalb der Klinik gefährden, wird als nicht relevant erachtet. Kommt es beispielsweise bei einer orthopädischen Operation zu einer schweren Gefäßblutung, kann es für den Patienten lebensrettend sein, wenn ein Spezialist sofort zur Verfügung steht. Gleiches trifft zu, wenn »Herzprobleme«, neurologische Zwischenfälle oder gastroenterologische Probleme auftreten und dann sofort ein Kardiologe, Neurologe oder Gastroenterologe zu Verfügung stehen sollte. Fehlen aber solche Kernabteilungen, erhöht sich im Komplikationsfall das Risiko für den Patienten.
Es scheint, als ob dieses Risiko als Kollateralschaden bewusst in Kauf genommen oder verharmlost wird. Jedenfalls vermeidet man tunlichst, dies dem Patienten zum Beispiel auf einer Klinik-Homepage transparent zu machen. Die Frage des Klinikmanagements ist: »Was erlöst ein Fall und was bringt uns der Patient ein?« Die Frage: »Was müssen und sollten wir als Klinik zur sicheren Versorgung unseren Patienten vorhalten und anbieten?«, spielt, wenn überhaupt, eine nachgeordnete Rolle.
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