Imperialistische Pflegepolitik

Pflegeprotest, 2019
Werdersen, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Immer mehr Pflegekräfte verlassen hierzulande ihren Beruf – dafür holt man Pflegekräfte aus anderen Ländern. Dem Abgang zuzusehen und Nachschub ins Land holen: Das ist absurd.

Der Pflegenotstand hat nach allgemeiner Meinung zwei gewichtige Gründe. Der erste Grund ist die relative und absolute Zunahme von immer älter werdenden Menschen in unserer Gesellschaft. Der Bedarf an Pflegeheimen, Pflegeplätzen und Pflegekräften nimmt damit kontinuierlich zu. Letzteres ist zugleich der zweite Grund für diesen Notstand: Es gibt einen eklatanten Mangel an qualifizierten Pflegekräften. Im August 2019 meldet die Deutsche Presseagentur: In der Alten- und Krankenpflege arbeiten rund 1,6 Millionen Menschen, fast 40 000 Stellen sind unbesetzt.

Mehr als Beifall war bis jetzt kaum

Sucht man nach den Ursachen, so ergibt sich ein buntes Bild. Die Ausbildung kostet Geld. Es gibt nicht genug Pflegeschulen und Ausbildungsplätze. Die Bezahlung ist nicht attraktiv. Karrierechancen sind kaum erkennbar. Die Arbeitszeiten sind familienfeindlich. Anders als etwa in der Schweiz oder in Schweden fehlt es an gesellschaftlicher Anerkennung, Wertschätzung und Respekt. Mehr als Beifall war bis jetzt kaum. Was also tun? Man geht auf Reisen, arme Länder bevorzugt – je ärmer, desto besser!

Juli 2019 (Spiegel): Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hofft bei seiner Reise in den Kosovo auf bis zu 1000 Pflegekräfte pro Jahr. August 2019 (Ärztezeitung): Die parlamentarische Staatssekretärin im Gesundheitsministerium Sabine Weiss reist auf die Philippinen: Wie Pflegekräfte mit Sprachkursen und erleichterten Anerkennungen ihrer Testate auf die Pflegetätigkeit in Deutschland vorbereitet werden können. September 2019 (Bundesministerium für Gesundheit): In Mexiko lädt Minister Spahn fünfzehn Pflegeausbilder zu einer Seminarreise nach Deutschland ein.

Sie sollen nach ihrer Rückkehr für die Arbeit in Deutschland werben. Juli 2020 (Talent Orange): „Erste Pflegefachkräfte aus Namibia in Deutschland gelandet.“ September 2021 (Anders Consulting): „Im Rahmen unserer Dienstleistungen im Bereich Pflegekräfte vermitteln wir jetzt auch Fachkräfte aus Kenia.“ Mai 2022 (buten un binnen): Warum Pflegekräfte in Jordanien auf einen Job in Bremerhaven hoffen. Februar 2023 (Mig Magazin): Entwicklungsministerin Svenja Schulze und Arbeitsminister Hubertus Heil wollen Pflegekräfte in Ghana anwerben: „Wir müssen alle Register im In- und Ausland ziehen, um qualifizierte Fachkräfte zu gewinnen.“

Juni 2023 (Bundesministerium für Arbeit und Soziales): Bundesarbeitsminister Heil besucht Pflege-Studenten einer katholischen Universität in Brasilien. Juni 2023 (Deutsche Welle): Deutsche Charmeoffensive für Pflegekräfte – Auf Werbetour in Lateinamerika – Arbeitsminister Heil und Außenministerin Baerbock sind deshalb nach Brasilien geflogen. Juli 2023 (Westdeutsche Allgemeine Zeitung): Zuwanderung statt Notstand? Die Hürden für ausländische Pflegekräfte liegen hoch. Annie Koyoue aus Kamerun hat sie gemeistert.

Imperialistisches Gehabe

Dezember 2023 (Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit): Deutschland arbeitet mit Ländern in Asien zusammen, derzeit mit den Philippinen, Indonesien, Indien und Vietnam. Januar 2024 (Ärztezeitung): Sachsens Sozialministerin Köpping wirbt in Brasilien für die Arbeit als Pflegekraft in Sachsen. Februar 2024 (Tagesschau): Entwicklungsministerin Schulze ist in Nigeria, um die Fachkräfteeinwanderung aus dem Land zu fördern. April 2024 (Ärztezeitung): „Ruanda und Rheinland-Pfalz kooperieren bei Pflege“. Ministerpräsidentin Malu Dreyer reist durch das Land, Ziel ist „Fachkräftegewinnung“. April 2024 (NDR-Fernsehen): In Albanien lernen junge Menschen Krankenpflege auf Deutsch. In der Hoffnung auf eine bessere Zukunft verlassen sie ihre Heimat.

Der langen Liste hinzugefügt werden könnten noch Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Rumänien, Ungarn und Tunesien. Alle diese Länder verlieren ihre jungen Leute, die teilweise schon fertig ausgebildet, aber arbeitslos sind. Damit rechtfertigen die Abwerber ihre ach so gute Tat. Hierzulande werden so die Beschäftigungslöcher gestopft. Die WHO schlägt längst Alarm und listet inzwischen schon 57 Länder auf, in denen ein so großer Mangel an Gesundheits- und Pflegepersonal besteht, dass es sich verbietet, dort auf Werbetour zu gehen.

Es ist nicht nur ein imperialistisches Gehabe, sondern geradezu absurd, einerseits dem hiesigen und anhaltenden zehntausendfachen Exodus der Pflegekräfte zuzuschauen und andererseits gleichzeitig neue Kräfte aus immer weiter entfernten Ländern hierher zu locken. Man müsste stattdessen alles tun, um die ausreichend vorhandenen, aber aus dem Beruf geflüchteten Fachkräfte zurückzuholen: mit ordentlicher Bezahlung, verträglicher Work-Life-Balance, mit Karrierechancen und angemessener ehrlicher Wertschätzung.

Dieser Artikel erschien erstmals in der FR.

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7 Kommentare

  1. @Dr. Bernd Hontschik
    Leider die Wahrheit, nichts als die Wahrheit und die bittere Wahrheit. Auch wenn mir Zeitenwende als Hinweis zu vage bleibt. Auch Ihr Ausblick, aus dem Feld der Pflege von Kranken und Alten ausgewanderte zur Rückkehr zu bewegen, liegt nahe. Erscheint mir freilich zu einbahnstraßig und pragmatistisch. Oder anders gesagt: diese postpopper´sche Politik auf Grundlage des Profitprinzip hat doch zur von Ihnen kritisierten Lage geführt. Die aktuell im selben menschenverachtenden Pfad nun diese “imperialistische Pflegepolitik” hervorbringt.
    Und ja: was immer noch Gesundheitssystem genannt wird mit diesem SPD-Clown L. als Bundesgesundheitsminister an der Spitze wäre begrifflich treffender als Krankheitssystem und Bundeskrankheitsminister zu bezeichnen.

  2. Das Einsammeln preiswerter Arbeitskräfte aus der Ukraine wird mit der 2022 aktivierten Massenzustrom-Richtlinie 2001/55/EG geregelt. Darüber werden ukrainische Einwanderer direkt in die europäischen Sozialsysteme aufgenommen und stehen umgehend auf dem Arbeitsmarkt interessierten Unternehmern und anderen Arbeitgebern zur Verfügung.
    Alle regierungsoffiziellen Verlautbarungen von einer Unterstützung des Wiederaufbaus der Ukraine nach dem Krieg erweisen sich so als hohle Phrasen. Während hunderttausende Ukrainer an der Front für den Wertewesten verbluten oder als Krüppel zurückkommen, werden Deserteure und Kriegsflüchtlinge zum Nutzen der Wirtschaft als preiswerte Arbeitskräfte in den westeuropäischen Arbeitsmarkt integriert. Der Wiederaufbau der Ukraine ist eine Schimäre.

  3. Die Pflegepolitik geht nicht um Pflege, sondern darum mehr aus einem System zu quetschen.
    Eine deutsche Bekannte, beschrieb mir ihren Alltag im Krankenhaus, sie ist Zeitarbeiterin, kommt dadurch in ihrer Region in diverse Arbeitsstätten.
    Als Zeitarbeit leistende, erbringt sie spielend 10 Tage durcharbeiten mit zusätzlichen Überstunden. Ihre Kollegen kommen häufig aus dem Ausland, besitzen eine ausländische Qualifikation und ein wenig deutsch und das im Pflegebereich!
    Die armen Patienten lamentieren über dies und das, aber die meisten verstehen nicht einmal was dem Patienten fehlt und gehen manchmal zur deutschen hin, um nachzufragen…
    Der Patient im Krankenhaus oder zur Pflege wird voll abgerechnet und wenn dieser Glück hat, kommt er gesund nach Hause oder wurde entsprechend gesund gepflegt.
    Der Beruf Krankenpfleger benötigt eine gute Ausbildung und Sprachkenntnisse, da dieser Beruf in der medizinischen Versorgung angesiedelt ist. Ärzte benötigen das grosse Latinum, um Arzt zu werden und der Krankenpfleger muss zumindest innerhalb der deutschen Sprache fähig sein, sich dem Arzt gegenüber so zu artikulieren falls etwas nicht ganz verstanden wurde.
    Das ganze Gesundheitswesen gehört unter staatliche Kontrolle, das jeder Mediziner seinen beruflich ethischen Eid unabhängig verfolgen kann.

  4. Nicht zu vergessen die Zwangsimpfung von Spahns Nachfolger Klabauterbach, aufgrund derer viele Pflegekräfte 2022 den Dienst quittiert haben!
    Und jetzt stellt sich dieser Scharlatan hin, und begründet das Einschrumpfen des deutschen Kliniksektors (“Wir haben zuviele Krankenhäuser”) ernsthaft mit dem fehlenden Personal!

    Da fehlen einem die Worte!
    Zumindest du druckfähigen….

  5. Ein paar Fragen.
    Gibt es auch eine Link zu der angesprochenen WHO-Liste?
    Was muss ich mir im Zusammenhang mit der versuchten Anwerbung von Arbeitskräften unter “imperialistisches Gehabe” vorstellen?
    Was verstehe ich unter “hiesigen und anhaltenden zehntausendfachen Exodus der Pflegekräfte”? Sterben die alle, oder hören sie auf zu arbeiten?

  6. “Es ist nicht nur ein imperialistisches Gehabe, sondern geradezu absurd, einerseits dem hiesigen und anhaltenden zehntausendfachen Exodus der Pflegekräfte zuzuschauen und andererseits gleichzeitig neue Kräfte aus immer weiter entfernten Ländern hierher zu locken. Man müsste stattdessen alles tun, um die ausreichend vorhandenen, aber aus dem Beruf geflüchteten Fachkräfte zurückzuholen: mit ordentlicher Bezahlung, verträglicher Work-Life-Balance, mit Karrierechancen und angemessener ehrlicher Wertschätzung.”

    Als erstes sollte man mal festhalten, dass all diese Entscheidungen von Leuten getroffen worden sind, die in freien, geheimen und demokratischen Wahlen von dem Volk ins Amt gewählt worden sind, das all dies betrifft.
    Wenn sich beim Denken dieser Tatsache bewusst bleibt, so sieht das alles schon gleich sehr viel anders aus. Noch gibt es eine Mittelklasse, die sich wie die Oberklasse eine anständige Pflege für alte Familienmitglieder leisten kann.
    warum sollten diejenigen die die Entscheidungen treffen sich um die Masse kümmern? Steuergelder tonnenwiese in so ein System stecken? Man kann doch privatisieren, dann klappt das schon. Es trift ja dienigen die, wie gesagt, das Merkel und Scholz Gesindel gewählt haben.

    Daran ist nichts “absurd”, wie Simon anscheinend meint. Und “Man müsste stattdessen alles tun… ” ist ein echter Lacher. Denken sie doch, bevor sie sowas schreiben mal drüber nach wer dieser “man” ist, und warum der auf die Idee verfallen könnte, gutes Geld für ihre echt lustigen Ideen auszugeben, wenn man für dieselbe Kohle auch Waffen bei Rheinmetall kaufen kann, was die Aktien und damit die einem zustehenden Dividende in der Höhe schraubt.

    Eigenartig, in was für einer Welt manche Leute zu leben meinen…. echt eigenartig

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