
Warum der Brand in Hong Kong ein globales Alarmsignal ist.
Der Brand im Hongkonger Wohnkomplex Wang Fuk Court ist kein lokales Unglück. Er ist ein Systembruch, ein Moment, in dem ein einzelnes Ereignis plötzlich sichtbar macht, wie zerbrechlich die urbane Zivilisation tatsächlich geworden ist. Dass ein Hochhaus in einer der modernsten Städte der Welt binnen Minuten zu einer brennenden Falle wurde, hat Ursachen, die weit über Asien hinausreichen. Die Katastrophe vom 26. November 2025 ist ein Spiegel für eine globalisierte Welt, die verdichtet, beschleunigt und ausgelagert hat und dabei aus dem Blick verlor, dass Menschen in diesen Gebäuden leben. Die Fakten sind eindeutig und stammen ausschließlich aus bestätigten Berichten: Reuters, The Guardian, Le Monde, SRF, HuffPost und weiteren internationalen Nachrichtenseiten.
2.000 Wohneinheiten, enge Flure, begrenzte Fluchtwege

Mindestens 36 Menschen starben nach ersten Angaben, später wurden 44 Tote bestätigt, manche Medien sprechen bereits von über 50. Fast 300 gelten weiterhin als vermisst. Das Feuer breitete sich entlang der Fassade aus, die vollständig eingerüstet und mit brennbaren Schutznetzen verkleidet war, ein Konstruktionsfehler, der in Hong Kong seit Jahren bekannt ist. Experten beschrieben gegenüber Reuters die Bambusgerüste als „vertikale Brandleiter“, die das Feuer begünstigten. Was hier als Renovierungsmaßnahme begann, endete als tödlicher Katalysator. Die Katastrophe entsteht also nicht aus Chaos, sondern aus Normalität. Und genau das macht sie so gefährlich.
Wang Fuk Court ist keine Ausnahmeerscheinung. Es ist ein typischer Wohnkomplex eines dicht bebauten Megapol-Raumes. 1983 gebaut, rund 2.000 Wohneinheiten, enge Flure, begrenzte Fluchtwege. Laut mehreren Berichten leben hier vor allem Haushalte mit geringem Einkommen, Familien, Rentnerinnen, Arbeitsmigranten. Menschen, die keine Wahl haben. Solche Orte sind die Resultate einer jahrzehntelang beschleunigten Urbanisierung, in der Wohnraum nicht länger als Grundrecht, sondern als Marktprodukt organisiert ist. Man wohnt dort, wo es gerade noch bezahlbar ist, selbst wenn das bedeutet, auf einer Baustelle zu leben.
Die Baustelle war entscheidend. Die Fassade war eingerüstet, eingepackt, verdeckt. Diese Einhausungen, grüne Schutznetze, angebracht zur Sicherung von Baumaterial und zur Vermeidung von herabfallenden Gegenständen, sind in Hong Kong üblich. Sie sollen eigentlich schützen. Doch in Verbindung mit Bambus, der traditionell als günstiges und flexibles Gerüstmaterial verwendet wird, entsteht eine fatale Kombination. Bambus brennt. Die eng gewebten Kunststoffnetze brennen ebenfalls. Und wenn sie brennen, entsteht ein Kaminzug entlang der Fassade, der Flammen nach oben saugt wie ein Verbrennungsrohr.
Festnahmen: Ein symbolischer Akt
Dass man diese Konstruktion an einem bewohnten Hochhaus anbringt, wäre in Europa undenkbar, zumindest in der Theorie. In der Praxis sieht es anders aus. Auch in deutschen, französischen oder britischen Städten werden Fassaden oft über Monate eingerüstet, eingehüllt und mit provisorischen Materialien versehen. Die Brandkatastrophe des Grenfell Towers 2017 war ebenfalls das Ergebnis einer schlecht gewählten Fassadenverkleidung. Damals versprach man eine europaweite Debatte über Brandschutz. Sie blieb aus. Der tai-po-Brand führt drastisch vor Augen, wie wenig man aus früheren Fehlern gelernt hat.
Die Behörden in Hong Kong reagierten spät und unkoordiniert. Laut The Guardian berichteten Angehörige, dass Informationen unpräzise und verspätet kamen. Viele erfuhren über soziale Netzwerke mehr über das Ausmaß der Katastrophe als über staatliche Stellen. In einem System, das Kommunikationskontrolle höher gewichtet als Transparenz, wird Information zur Mangelware. Dabei sind Informationen in einer Katastrophe Teil der öffentlichen Sicherheit. Wer nicht informiert, verhindert nicht Panik, er verhindert Aufklärung.
Die Polizei nahm drei Personen fest, die für die Fassadenarbeiten verantwortlich gewesen sein sollen. Ein symbolischer Akt. Die wahren Fehler liegen nicht bei ein paar Arbeitern, sondern im gesamten Regelwerk einer Stadt, die ihre eigenen Risiken verinnerlicht hat, ohne sie zu adressieren. Hong Kong lebt seit Jahren in einem Zustand permanenter Renovierung. Viele Gebäude stammen aus den 1970er und 1980er Jahren und befinden sich in einem strukturellen Verfall, der nur durch ständige Fassaden- und Innenbauarbeiten stabilisiert wird. Doch anstelle eines umfassenden Sanierungsprogramms setzt die Stadt auf punktuelle Eingriffe, oft vergeben an Subunternehmen, die unter Kostendruck stehen.
Bekannte Ursachen
Diese Situation ist kein asiatisches Phänomen. Es ist ein globales Muster: Privatwirtschaftliche Logik im Wohnungsbau, staatliche Überforderung bei der Kontrolle, Sparzwang in der Verwaltung, Fragmentierung der Verantwortung. Austragungsort: die Stadt. Opfer: Menschen, die sich die Lage nicht aussuchen können.
Zwar darf man die Verantwortlichkeit nicht mit europäischer Überheblichkeit betrachten, aber man sollte sich nichts vormachen: Großstädte in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien sind strukturell kaum stabiler. Berlin hat ganze Wohnblocks, die seit Jahren untergerüstet sind. Paris hat marode Banlieues, deren Instandhaltung seit Jahrzehnten vernachlässigt wird. In Hamburg-St. Georg, in Köln-Chorweiler, in Marseille oder Neapel sind Fassadenarbeiten ähnlich chaotisch organisiert wie in Tai Po.
Der Unterschied liegt weniger im Material als im politischen Willen zur Kontrolle. Und dieser Wille fehlt weltweit.
Die Ursachen dafür sind bekannt:
Städte wachsen schneller, als Staaten sie verstehen.
Wohnraum wird teurer, also wird überall gespart.
Kontrollen sind komplex, deshalb delegiert man sie an private Firmen.
Die Menschen, die in riskanten Gebäuden leben, haben keine Lobby.
Das Ergebnis ist eine stille Normalisierung von Gefahr.
Doch der Tai-Po-Brand macht etwas sichtbar, das in urbanen Gesellschaften oft übersehen wird: Gefahr verteilt sich sozial. Wer arm ist, stirbt zuerst. Nicht, weil Armut brennt, sondern weil schlechte Wohnungen brennen.
Bauen wir Städte für Menschen oder für Märkte?
Dieser Zusammenhang ist keine Polemik, sondern empirisch belegt. Bei den Opfern des Grenfell Towers lag der Anteil von Migrantenfamilien bei über 80 Prozent. Bei Tai-Po sind es überwiegend Einkommensschwache. Wer am Rande der Stadt wohnt, wohnt oft auch am Rand staatlicher Aufmerksamkeit.
Der Brand zeigt auch, wie eng technische, soziale und politische Risiken heute miteinander verflochten sind. Ein Fassadennetz ist kein politisches Thema, bis es eines wird. Ein Bambusgerüst ist keine soziale Frage, bis es Menschen den Fluchtweg abschneidet. Und eine Renovierungsfirma ist kein Symbol für systemische Instabilität, bis ein Feuer beweist, wie dünn die Grenze zwischen Alltag und Katastrophe ist.
Es ist eine Ironie unserer Zeit, dass wir in einer Welt leben, die in Echtzeit miteinander verbunden ist, aber deren grundlegende Sicherheitsfragen aus dem Blick geraten sind. Man kann heute in Sekundenschnelle Informationen aus Hong Kong abrufen, doch dieselben Staaten schaffen es nicht, verbindliche Standards für Fassadenmaterial festzulegen. Man kann Städte digital modellieren, aber keine transparente Kontrollstruktur durchsetzen. Man kann die größten Datenmengen der Welt verarbeiten, aber hat keine Antworten auf die einfachste Frage: Wie verhindern wir, dass Menschen in ihren Wohnungen sterben?
Der Tai-Po-Brand sollte deshalb mehr sein als ein tragischer Nachrichtenabschnitt. Er sollte Anlass sein zu einer ehrlichen Diskussion darüber, wie wir Urbanisierung verstehen. Bauen wir Städte für Menschen oder für Märkte? Für Lebensqualität oder für Rendite? Für Sicherheit oder für Geschwindigkeit? Diese Fragen klingen abstrakt, aber sie entscheiden, ob die nächste Katastrophe verhindert wird oder nicht.
Es gibt eine weitere Dimension, die oft unterschätzt wird: die psychologische. Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn die Orte des Alltags, die Wohnungen, die Flure, die Fassaden, potenzielle Gefahrenorte werden? Was bedeutet es, wenn Menschen in dem Gefühl leben, dass die Stadt nicht sie schützt, sondern sie überwacht oder verwaltet, aber nicht mehr stabil hält? Die Antwort lautet: Es entsteht ein Klima der Entfremdung. Menschen verlieren das Vertrauen in die bauliche, soziale und politische Umgebung, in der sie leben.
Was ist nötig, damit eine Katastrophe wie diese nicht wieder geschieht?
Hong Kong ist in dieser Hinsicht ein extremer Fall. Doch die strukturelle Ähnlichkeit zu anderen Städten ist unübersehbar. Auch in Deutschland fühlen sich viele Menschen von politischen und wirtschaftlichen Akteuren im Stich gelassen, wenn es um Wohnraum geht. Überteuerte Mieten, schlecht sanierte Gebäude, unendliche Bauverzögerungen, all das ist Teil einer urbanen Realität, die sich langsam gegen ihre Bewohner richtet.
Was wäre also nötig, damit eine Katastrophe wie die in Tai Po nicht wieder geschieht?
Zunächst braucht es verbindliche internationale Standards für Renovierungsarbeiten an bewohnten Gebäuden. Kein Land sollte erlauben, dass brennbare Einhausungen monatelang an bewohnten Fassaden hängen. Es braucht klare Haftungsregeln und strenge Kontrollen, die nicht an Subunternehmen ausgelagert werden dürfen. Städte müssen ihre eigenen Risiken kennen und sie aktiv adressieren und nicht erst handeln, wenn das Feuer bereits sichtbar ist.
Zweitens muss Wohnraum wieder als öffentliche Verantwortung begriffen werden. Der Tai-Po-Brand zeigt exemplarisch, was geschieht, wenn staatliche Kontrolle schwindet und Marktlogik dominiert. Privatisierung allein schafft keine Sicherheit. Im Gegenteil: Sie erzeugt Anreize, Risiken zu verbergen und Kosten zu externalisieren. Eine sozial verantwortliche Stadtpolitik erkennt, dass Wohnraum mehr ist als ein Wirtschaftsgut.
Drittens braucht es Transparenz. Katastrophenschutz beginnt mit offener Kommunikation. Wer Informationen zurückhält, gefährdet nicht nur Menschen, er zerstört Vertrauen. Die Behörden Hong Kongs haben diese Lektion nicht verstanden. Europa sollte sie verstehen.
Man kann diesen Brand als Tragödie begreifen. Man kann ihn aber auch als Lehre begreifen. Als Mahnung, dass moderne Städte technisch beeindruckend, aber politisch unterreguliert sind. Als Warnsignal, dass Sicherheit nicht automatisch entsteht, sondern erkämpft werden muss. Und als Zeichen dafür, dass der Mensch in der Stadt heute weniger geschützt ist, als es die Fassaden vermuten lassen.
Tai Po war nicht die Ausnahme. Es war der Hinweis. Die Frage ist, ob wir ihn hören wollen.
Quellen
Reuters – Fire engulfs residential building Hong Kong, 36 dead, 279 missing
https://www.reuters.com/world/china/fire-engulfs-residential-building-hong-kong-2025-11-26/
The Guardian – Death toll in Hong Kong tower block fire rises to 44
https://www.theguardian.com/world/2025/nov/26/hong-kong-fire-tai-po-towers
Le Monde – Deadly Hong Kong fire kills at least 55 amid concern over renovation safety
https://www.lemonde.fr/en/international/article/2025/11/27/deadly-hong-kong-fire-kills-at-least-55-amid-growing-concern-over-renovation-safety_6747876_4.html
SRF – 36 Tote, 279 Vermisste bei Brand in Hongkong – drei Festnahmen
https://www.srf.ch/news/international/wohnanlage-in-flammen-hongkong-36-tote-und-279-vermisste-bei-brand-in-hochhauskomplex
HuffPost ES – Al menos 36 muertos y 279 desaparecidos…
https://www.huffingtonpost.es/global/al-36-muertos-279-desaparecidos-que-incendio-complejo-rascacielos-hong-kong.html




@Burbach
Waren Sie schon mal in Hongkong? Haben Sie die vorsintflutlichen Baugerüste aus Bambus dort mal gesehen? Und das in einer modernen Stadt, die den unregulierten Kapitalismus huldigt und deshalb von den Medien hier als letzter Hort westlicher Freiheit gesehen wird
In der Volksrepublik sind solche Baugerüste verboten, Stahlgerüste zwingend vorgeschrieben. Aber dort herrscht bekanntlich die extreme Unfreiheit
Korruption gibt es auch in der Volksrepublik. Aber dagegen geht Präsident Xi streng vor, was ihn bei den Chinesen beliebt gemacht hat. Die regulierte Marktwirtschaft der Volksrepublik ist reguliert, nicht frei und deshalb wäre ein solcher Großbrand dort wahrscheinlich nicht möglich gewesen
Naomi
Selten so ein Schieß gelesen!
https://de.wikipedia.org/wiki/Chinesischer_Milchskandal
https://de.wikipedia.org/wiki/Explosionskatastrophe_von_Kunshan_2014
https://de.wikipedia.org/wiki/Explosionskatastrophe_von_Tianjin_2015
Zuviel Falun Ding Dong auf der dunklen Rückseite der Epoch Times
Zehn Jahre alte Infos. Vor zehn Jahren sah China nach ganz anders aus
Aber Fakt ist, Bambusgerüste sind in der Volksrepublik verboten und das ist gut so. Diesen Fakt können sie nicht wegreden
It’s not a bug, it’s a feature. Wenn das Problem noch nützlich sein könnte, warum was dran ändern? DAS ist die Einstellung unserer „Eliten“. Es findet sich sicher wer, der da irgendwelche Argumente mit „Sicherheit“ (=Überwachung) oder „der Markt“ (=Profite für Superreiche) vorlesen kann.
Kritik ist gesichert rechtsgedehnt – erleben sie die Fäulnis eines Systems, das kein Interesse an der Realität hat. Treten Sie zur Seite, damit sie beim Fall des Systems nicht noch ein paar Trümmer abbekommen, der Countdown läuft.
Mir fehlt ein wenig der Glaube, dass hier wirklich das Bambus-Gerüst den Ausschlag gab. Brennbare Netze schon eher. Aber in den Nachrichten war gestern auch von Dämmmaterial am Haus die Rede, das brennbar sei. Das wäre dann der gleiche Effekt, wie beim Grenfell-Tower in London. Wobei dort die Aluminium-Verkleidung (!!!!!) der enorme Brandbeschleuniger war.
Bei solchen Bränden kommt vieles zusammen.
Aber Honkgong leidet unter den systematischen Fehler des unregulierten Kapitalismus, den es so in der Volksrepublik nicht gibt. Das sind harte Fakten
In der Sicherheit gibt’s den Merksatz!
„Unfälle passieren nicht, sondern sie werden gemacht“
Ganz einfach eigentlich