Einkommenspolitik ist unabdingbar

Symbolbild: Einkommenspolitik
Christoph Scholz, CC BY-SA 2.0, via Wikimedia Commons

In seinem neuen Buch „Grundlagen einer relevanten Ökonomik“ stellt Heiner Flassbeck die Ökonomik vom Kopf auf die Füße. Er zeigt theoretisch und empirisch, warum die neoklassische Theorie bei der Erklärung der multiplen Krisen versagt und warum die neoliberale Wirtschaftspolitik in Ost und West, Nord und Süd nicht weiterhilft.

Seine Datenauswertung und die Darstellung bislang nicht gezeigter jahrzehntelanger Datenreihen schaffen eine neue Grundlage für die Wirtschaftspolitik, für Deutschland, für Europa und für die Welt. Flassbeck liefert mit seinem Buch eine gänzlich neue Sicht auf die Weltwirtschaft und schafft somit für die Wirtschaftspolitik endlich eine adäquate Grundlage – etwa für die Einkommenspolitik.

Lohnpolitik, manchmal auch Einkommenspolitik genannt, spielt eine entscheidende Rolle einerseits bei der Stabilisierung des Geldwertes, andererseits bei der Aufrechterhaltung der Nachfragedynamik einer Volkswirtschaft. Nur Arbeiter, die genau das verdienen, was sie wertmäßig produzieren, halten die Wirtschaft am Laufen, sind also im ureigensten Interesse der Arbeitgeber.

Missverständnisse auch bei der EZB

Weil der Lohn keinen Markt ausgleichen kann, gehört er in die Hände von Akteuren, die genau das wissen. Sind die Tarifpartner aufgeklärt, spricht nichts dagegen, ihnen die Lohnfindung zu überlassen. Gibt es aber in einem solchen Gremium rein mikroökonomische Ansätze von einer der beiden Seiten, muss der Staat einschreiten.

Nicht anders als der Zins ist der Lohnzuwachs ein Instrument zur Stabilisierung von Entwicklung. Ihm kommt aber die zusätzliche Bedeutung zu, dass nur über Lohnzuwächse, die der goldenen Lohnregel folgen, Geldwertstabilität gesichert werden kann. Analytisch entscheidend, jedoch vollständig unverstanden ist die Verbindung zwischen der Entwicklung der Produktivität und den Reallöhnen. Die ist durch die enge Korrelation von Lohnstückkosten und Inflationsraten zwar absolut zwingend, wird aber durchweg ignoriert. Auf diese Weise entledigt sich ein Fach, das gerne eine Wissenschaft sein möchte, jeder Möglichkeit, zu einem logisch zwingenden und empirisch gesicherten Verständnis des Systems Marktwirtschaft und zu geeigneten wirtschaftspolitischen Empfehlungen vorzudringen.

Wie schwer es für neoklassische Ökonomen offenbar ist, im gesamtwirtschaftlichen Zusammenhang und zugleich logisch zu denken, zeigen in einem Grundsatzpapier zur Finanz- und Wirtschaftspolitik Christian Lindner und Lars Feld. Sie stellen fest: „Insbesondere Maßnahmen, welche die Arbeitsproduktivität erhöhen und den Lohn- und Preisauftrieb senken, tragen dazu bei, das Risiko einer Lohn-Preis-Spirale und einer Entankerung der Inflationserwartungen zu reduzieren.“

Auch in der EZB gibt es erhebliche Missverständnisse, was die Bedeutung der Löhne für die wirtschaftliche Entwicklung, die Produktivität und die Preise angeht. Isabel Schnabel, Mitglied im Direktorium der EZB, vermutet gar, bei höherer Produktivität sei es leichter, das Inflationsziel zu erreichen: “Measures that help firms boost productivity growth directly support monetary policy in achieving its objective of securing price stability over the medium term.

Man verwechselt die mikroökonomische Sicht mit der makroökonomischen

Einem ähnlichen Irrtum unterliegt die Europäische Kommission in einem anderen Zusammenhang. Sie schreibt in einem Papier über die Lage in Frankreich: „Das Wachstum der Arbeitsproduktivität bleibt jedoch sowohl unter den langfristigen Trends als auch unter dem Durchschnitt des Eurogebiets, was eine schnellere Erholung der Kostenwettbewerbsfähigkeit verhindert.“

All diese Positionen sind unhaltbar, weil sie unterstellen, die Lohnabschlüsse kämen unabhängig von der zu erwartenden gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsentwicklung zustande. In den Tarifverhandlungen der großen Branchen orientiert man sich aber genau daran. Steigt die Produktivität weniger stark, werden weniger stark steigende Tariflöhne vereinbart. Das gilt auch umgekehrt: Steigt die Produktivität stärker, werden stärker steigende Tariflöhne vereinbart.

Man verwechselt die mikroökonomische Sicht mit der makroökonomischen: Ist ein einzelnes Unternehmen überdurchschnittlich innovativ und hat daher eine vergleichsweise höhere Produktivitätssteigerung als die Konkurrenz, kann es sich durch Senkung seiner Angebotspreise Marktanteile verschaffen. Denn es muss seinen Produktivitätsvorteil keineswegs vollständig an die Entlohnung seiner Arbeitskräfte weiterreichen. Das Unternehmen zahlt nämlich nur die Tariflohnentwicklung, die sich eben am Durchschnitt der Wirtschaft oder zumindest seiner Branche orientiert.

Für die Wirtschaft insgesamt funktioniert das aber nicht, weil die Summe der Marktanteile gleich-bleibt, egal wie die Anteile auf die verschiedenen Marktteilnehmer auf der Angebotsseite verteilt sind. Versuchen die Arbeitgeber nichtsdestotrotz, die durchschnittliche Produktivitätsentwicklung (plus die Zielrate der Zentralbank) nicht vollständig in der durchschnittlichen Lohnentwicklung weiterzugeben und sie stattdessen für Preissenkungen bzw. Preismindersteigerungen zu nutzen, kommt ein deflationärer Prozess in Gang. Der aber bremst die gesamte Produktivitätsentwicklung, weil die Gesamtnachfrage hinter den Kapazitäten hinterherhinkt und potenzielle Sachinvestoren im Schnitt weniger Anreize zum Investieren haben. Genau das war das Problem der 2010er-Jahre in der EWU. Dass die Gesamtentwicklung einzelner Länder wie die Deutschlands oder der Niederlande eine Weile von den Deflationsfolgen verschont geblieben ist, weil sie ihren Mangel an Binnennachfrage durch Außenhandelsüberschüsse überdeckt, widerlegt diese Analyse keineswegs, sondern bestätigt sie vielmehr.

Illusionen auch bei den Gewerkschaften

Es ist offensichtlich, dass eine solche Rollenverteilung der Wirtschaftspolitik unter Einschluss der Lohnpolitik am ehesten Erfolg hat, wenn man sich von vorneherein auf die Position einigt, dass jede Erhöhung der Produktivität letztlich den Reallöhnen via steigende Nominallöhne zugute-kommen sollte. Damit vermeidet man Friktionen bei der Anpassung der Preise mit den verbundenen Nachfrage- und Arbeitsmarktproblemen und erreicht das Inflationsziel auf längere Sicht mit großer Sicherheit.

Allerdings gibt es auch auf der Seite der Gewerkschaften große Illusionen. Um ihre Rolle angemessen zu spielen, müssen sie sich darüber im Klaren sein, was sie politisch durchzusetzen in der Lage sind und was nicht. Die Gewerkschaften könnten beispielsweise versuchen, mit einem Abschluss weit über der goldenen Lohnregel Umverteilung zu ihren Gunsten zu erwirken. Dann aber könnten die Arbeitgeber, das zeigt die Evidenz von Lohnstückkosten und Inflationsrate, die steigenden Lohnkosten sofort voll an die Kunden weitergeben. Die Folge wäre eine Inflationsrate weit über dem Inflationsziel der Notenbank. Das würde diese mit Zinserhöhungen beantworten, und zwar so lange, bis eine Rezession und steigende Arbeitslosigkeit unvermeidlich ist.

Wer erfolgreich Lohnpolitik betreiben will, braucht eine klare Strategie, gegründet auf Fakten und gesicherten Zusammenhängen. Dem Zusammenhang von Lohnstückkosten und Preisen, der offensichtlich nahezu global gilt, können die Gewerkschaften kaum ausweichen. Sie haben keine Möglichkeit, um die rasche Überwälzung von Lohnsteigerungen (und/oder die restriktive Reaktion der Notenbank) zu verhindern. Noch weniger Möglichkeit haben sie, das Verhalten der Notenbank zu beeinflussen. Deswegen nützt es nichts, den eigenen Mitgliedern einzureden, man sei in der Lage, die Reallöhne zu erhöhen (oder im Fall von negativen exogenen Schocks zu halten), ohne jeden Folgeeffekt von der einen oder der anderen Seite befürchten zu müssen. Man sollte in der internen Kommunikation ehrlich sein und sagen, dass die goldene Lohnregel das Ergebnis ist, das man auf kurze und auf mittlere Frist unbedingt erreichen will und auch kann.

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14 Kommentare

  1. Die herrschende Angebots-Ideologie hat viel Schaden angerichtet – in der Wirtschaft wie in den Koepfen der Menschen.
    Hier ist ‘Lohn’ der Preis der Arbeit, der muss niedrig sein, oder gesenkt werden – dann ‘funktioniert’ Wirtschaft.

    Das ist natuerlich Schwachsinn – Wirtschaft ist ein Tauschgeschaeft, und den Nachteil zu einer Seite zu verschieben, ist (nicht einmal volkswirtschaftlich ein Nullsummenspiel, sondern nur noch) Machtpolitik; das kann nicht funktionieren.
    Menschen den Lebensunterhalt zu verweigern, weil “alle was davon haben (billige Angebote :-)”, laesst sie am ausgestreckten Arm verhungern.
    Die FDP zahlt hoffentlich den Preis dafuer in dem sie ausstirbt. Was heute gern vergessen/verschwiegen und den heutigen Gruenen vorgeworfen wird, hatte sie mindestens seit Lambsdorff senior zum florierenden Geschaeftsmodell entwickelt.

  2. In der letzten Zeit lese ich mit Genuss und langsam, wie schon vor vielen Jahren, aber damals im Eiltempo – das habe ich schon mal geschrieben -, “Lohnarbeit und Kapital”. Ich genieße es richtig, die etwas mehr als 100 Seiten immer mal nach Zitaten in aller Ruhe zu durchstöbern, die ganz einfach die Arbeitswelt beschreibt, wie diese funktioniert. Hier die Internetadresse, wo man kostenlos schmöckern und suchen kann, wie die Arbeitswelt ökonomisch funktioniert.
    http://mlwerke.de/me/me_zuoek.htm

    1. Und danach lasse man sich diesen schönen Satz von Herr Flassbeck auf der Zunge zurgehen:
      Nur Arbeiter, die genau das verdienen, was sie wertmäßig produzieren, halten die Wirtschaft am Laufen, sind also im ureigensten Interesse der Arbeitgeber.

  3. Was ist denn die goldene Lohnregel? Diese stammt von John Maynard Kenes und besagt, dass die Lohnerhöhung die Summe aus Inflation plus Produktivitätszuwachs betragen soll. Dann sei der Abschluss verteilungsneutral. Die IG Metall wirbt damit, dass sie dieses Ziel in der Regel erreicht. Ich frage ja die Gewerkschaftskritiker immer gern, wo auf diesem Planeten es das zum zweiten Mal gibt. Da ist dann immer Funkstille.
    Üblicherweise liegen die Lohnzuwächse darunter. So ist das eben im Kapitalismus, in dem die gewerkschaftlichen Rechte immer mehr eingeschränkt werden. Das ist in gewissem Sinne auch eine Notwendigkeit, um der sinkenden Profitrate entgegen zu wirken. Welche Karl Marx im Kapital als “Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate” formuliert hat.
    Aber es wird den Kapitalismus insgesamt nicht retten. Er scheitert dann am “Uwe-Seeler-Limit”. Dieser hatte festgestellt, dass er auch in Italien, wo er mehr verdienen könnte, nicht mehr als ein Schnitzel essen kann. Der Konsum bleibt somit aus und das Ganze mündet laut Marx in eine Überproduktionskrise.
    Ein Dilemma, aus dem das kapitalistische System wohl nie herauskommen wird. Um dieser Gesetzmäßigkeit zu entgehen, müssen sich die Staaten verschulden. Was passiert, wenn sie das nicht machen, sieht man derzeit in Deutschland.

    1. Das Zitat von Uwe Seeler ist zwar nett, aber dem Kapitalismus mit seinem endlosen Wachstumswahn geht’s ja auch darum, möglicht viel materiellen und überflüssigen Schrott zu verkaufen, den eigentlich keiner braucht, und das geht um so besser, je mehr Kohle jemand hat.

      1. Das ist richtig, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Die hohen Einkommen werden nur selten konsumptiv eingesetzt. Sie mehren in der Regel das anlagesuchende Kapital. Wobei wir wieder bei Marxens Überakkumulation wären.

  4. Ist Euch das schonmal aufgefallen, das die Paket Zusteller jetzt so Komische Rikschas Strampeln müssen um den Lebensunterhalt in der Kapitalistischen Tretmühle zu bestreiten. Wer kommt auf solche Ideen die Laufen schon den ganzen Tag die Treppen rauf und runter? Soll das Gesundearbeit sein oder das Klima retten?

  5. Aus meiner Sicht besteht ein Problem und zwar im nationalen oder supranationalem Denken, da jeder Teilnehmer auf dieser Welt im Wettbewerb steht.
    Diese Welt formiert sich aus der ehemaligen Unipolaren in eine multipolare Ordnung und hier setzen dann die Produktionskosten und Lohnforderungen an.
    Denn die Welt ist interaktiv über das Netz und jeder Peripherie Staat und seine Insassen, erhalten Arbeit aus dem westlichen Bereich, der über den nationalen Bereich der Mindestlöhne reicht. Das bedeutet, das z. B. europäische Unternehmen ihre Fachkräfte aus der Peripherie anheuern und nichts an ihrem Staat daran teilhaben zu lassen. Sie zahlen in keine soziale Systeme in ihrem Standortsitz und sind trotzdem aktiv.
    Die KI wird angefuttert über sehr viele Staaten in der Welt verteilt, ohne das die Eigner irgendwelche Abgaben an ihrem Firmensitz an den Staat entrichten.
    Die Schlüsselindustrien in D haben auf der ganzen Welt ihre Niederlassungen und wenn in D politisch alles gegen die Wand gefahren wird, überleben die Schlüsselindustrien und der Demos schaut in die Röhre.
    Das ist ein Effekt aus der neoliberalen Politik und dieser Effekt ist gewollt, damit der Hamster weiterhin im Rade seine Runden läuft.
    Russland oder China sind hier als ein positives Beispiel zu erwähnen, da beide Staaten sich tatsächlich um ihre Bürger bemühen, so diese eine sozial verträgliche Situation erhalten.
    Das tun diese beide Staaten, obwohl sie wissen, das ihre nationale Währung, angeblich, nicht so stabil sind wie ihre Kontrahenten.
    Die Währungen heute, werden bereinigt über kurz oder lang, da der Westen ein riesiges Problem mit seinen Staatsschulden besitzt.

    1. Es ist wie immer bei Heiner Flassbeck: die schöne marktwirtschaftliche systemlogik muss ohne das grundgesetz dieser produktionsfrom auskommen – das stete wirken der konkurrenz als eigentliche rahmenbedingung des wirtschaftens.
      Es geht also gar nicht darum, was unternehmer und gewerkschaftsfunktionäre im einzelfall für gut und angemessen halten, sondern darum, dem druck der konkurrenz zu entkommen. Also, hier ein paar prozent “einzusparen” und dort die arbeitsintensität zu steigern oder die (unbezahlte) arbeitszeit (heimlich) zu verlängern (siehe mindestlohnbetrug).
      Die funktionsweise des gesamtsystems (das wirken einer unerbittlichen konkurrenz) zwingt die einzelnen akteure zu versuchen, mit den rücken an die wand zu kommen, egal was es für die “volkswirtschaft” bedeutet…das wussten schon Marx und Schumpeter. Auf der betrieblichen ebene auf “makroökonomische einsicht” zu hoffen, ist unter diesen bedingungen weltfremd.

  6. an der Anzahl der Kommentare unter Artikeln von Herrn Flassbeck kann man sehr deutlich erkennen, das Volkswirtschaftliche Themen für den deutschen Medienkonsumenten hauptsächlich unverdaubar sind.
    Nicht nur hier bei Overtone, sondern auch schon bei Telepolis war außer Desinteresse nur vulgärökonomisches Geschreibsel in den Kommentaren zu finden.
    Meine Hoffnung das er hier trotzdem rege gelesen wird, entspringt der Vorstellung das ernsthafte Leser an Information interessiert sind und das Posen den Flachwurzlern überlassen.

    in den 1970 er war ich Mitglied bei den “Falken” wo für arme aber interessierte Arbeiterkinder regelmäßig politische Bildung in Diskussionen mit den Überlebenden des KPD Verbotes und wirklich linken Sozialdemokraten im Ortsverein oder auf Seminaren am Wochenende irgendwo in Deutschland( mit kleinen Reisen und Spaßfaktor)stattfanden.
    ich habe damals viel gelernt, was vor allem meine Lehrer im Gymnasium zu spüren bekamen. vor allem in Politik und Sozialkunde. Die Frischlinge von der Uni waren damals schon neoliberal verbloedet worden.

    wo ist diese politische Bildung heute?

    Wahrscheinlich plant man Ausflüge zum nächsten CSD. Oder Genderseminare?

    die AFD ist klar neoliberal, hat aber begriffen, das man die Jugend kriegen muss. ich befürchte schlimmes.

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