
Moderne Gesellschaften scheinen sich in einem Gleichgewicht eingerichtet zu haben: Es wird regiert, als ließe sich Stabilität am sichersten herstellen, wenn man die Gegenwart möglichst schnell beruhigt – und die Zukunft in Verträge eingießt. Die Krise ist dafür kein Ausnahmezustand, sondern ein Arbeitsmodus. Sie bündelt Aufmerksamkeit, zwingt Entscheidungen in enge Zeitfenster und produziert Instrumente, die danach nicht verschwinden.
So wachsen Schichten aus Garantien, Zusagen, Sonderregeln und Schiedsgerichten übereinander, bis politische Vorhaben vor allem anhand der Kosten zur Vertragsneuverhandlung orientiert werden. Hieraus erwächst eine nüchterne Diagnose: Je öfter Krisen verwaltet werden, desto weiter wird durch Verklausulierungen der Gegenwartsberuhigung der politische Gestaltungskorridor vorgegeben und zementiert. Für diesen Zustand hat sich ein Wort angeboten: Kontraktokratie – eine emergente Ordnung, in der Verträge zu den Trägern des eigentlich Politischen werden.
Ein Rhythmus aus Alarm und Vertrag
Die Abläufe gleichen sich, auch wenn die Anlässe wechseln. Erst kommt der Alarm: Informationen überholen einander, Prognosen werden zum Ticker, der Ausnahmezustand erklärt das Tempo. Dann setzt das Verfahren ein: Notverordnungen, Sonderhaushalte, vergaberechtliche Abkürzungen – ausdrücklich „nur für jetzt“ und „nur für dieses Thema“. Am Ende bleibt mehr zurück als gedacht: Übergangsregeln verlängern sich, Verträge behalten Geltung, Budgets folgen neuen festen Spuren, weil die Rückkehr teurer wäre als die Fortsetzung.
Diese Sequenz hat sich zur Routine verdichtet, nicht aus bösem Willen, sondern weil sie kurzfristig funktioniert. Sie verhindert Eskalation und verschiebt die eigentliche Arbeit an Ursachen und Pfaden an das Ende der Liste, wo dann Zeit, Geld und Aufmerksamkeit fehlen.
Im Finanzsektor trat das klar hervor. Der Schock der Finanzkrise führte dazu, dass Verfahren zur Eindämmung der Krise entwickelt wurden: Liquiditätslinien, Garantien, Stresstests und Aufsichtspakete verhinderten Dominoeffekte; gleichzeitig veränderten sie still den Maßstab politischer Vernunft. „Verantwortlich“ war fortan, was Märkte beruhigte, Zinsen drückte und Vertragsbrüche vermied. Die territorialstaatliche Letztversicherung wurde Teil der Kalkulation. Rettung schrieb sich in das Kleingedruckte ein – nicht als Ausnahme in Krisensituationen, sondern als Option, die man beim nächsten Mal bereits mitdenkt.
Die Pandemie überführte diese Grammatik in den Alltag. Eilige Beschaffungen, Abnahmezusagen, Priorisierungen: operativ nachvollziehbar und im Rückblick erstaunlich dauerhaft. Vieles, was improvisiert schien, wurde zur Vorlage. Lieferketten wurden nicht grundsätzlich neu errichtet, sondern vertraglich gepolstert. Mindestmengen und Preisgleitklauseln ersetzten die frühere Selbstverständlichkeit, dass Störungen der Lieferketten selten sind. Die Starrheit von damaligen Vertragsklauseln erschweren heutzutage die nötigen Korrekturen.
Mit der Energiekrise wurde dieser Rhythmus auf die Infrastruktur übertragen. Ersatzbeschaffungen, Preisbremsen, staatliche Beteiligungen, Offtake-Verträge: Der unmittelbare Schock ließ sich dämpfen, aber die dafür geschaffenen Pfade banden künftige Optionen. Zeitgleich arbeitete die Klimapolitik mit Zertifikaten, Kompensationen und Standards. Aufgrund von Lieferzusagen, Laufzeiten und Investitionsschutzabkommen, blieben diese Maßnahmen durchgehend halbherzig und inkonsequent. Wer gestalten will, muss durch Schichten um Schichten von Vertragswerken hindurch, die alle einmal vernünftig waren.
Gleiches zeigt sich beim Wohnungsmarkt: Förderbedingungen, Belegungsbindungen, indexierte Mietmodelle und Planungsverträge schaffen Vorhersehbarkeit und verhindern zugleich notwendige Umsteuerungen in der Zukunft. Anspruch und Wirklichkeit klaffen nicht auseinander, weil niemand handeln will, sondern weil schon feststeht, wer welches Risiko wann trägt.
Ähnlich unspektakulär wirkt die Langzeitfolge haushälterischer Vernunft in Gesundheit, Bildung und Verwaltung. Die Tabellen gingen auf: Konsolidierungen, Auslagerungen, Projektfinanzierungen. In der Krise ließen sich Notregeln anschließen, die formale Rückführung gelang, doch die Substanz blieb dünn. Geschlossene Standorte, Leihabhängigkeiten und ausgelagerte IT sind keine „Fehler“, sondern Konsequenzen früherer „Entlastungen“. Die Kennzahl stimmt, die Reserve fehlt – und jede spätere Veränderung konkurriert mit bereits laufenden Bindungen.
An den Rändern der Ordnung wird das Muster nicht schwächer, sondern sichtbarer.
Migrationspolitik wurde über Abkommen, Kontingente und externe Verfahren organisiert; was als Übergang gedacht war, stabilisierte sich administrativ und budgetär. Ob geordnete Migration oder Fluchtszenario wurde in den Klauseln nicht differenziert. Die Schichten der damalig geschlossenen Kontrakte lassen kaum eine gegenwärtige Anpassung zu. Stattdessen wird versucht, mittels dieser starren Vertragswerke, eine, so nicht mitgedachte, Problematik über die mangelnden und oftmals unpassenden Mittel administrativ zu verwalten.
Über allem liegen geopolitische Verschiebungen, die ihrerseits neue Bindungen erzeugen. Sanktionen und Exportkontrollen verändern Handelsrouten; Unternehmen preisen politische Risiken ein, Staaten antworten mit Bürgschaften und Garantien. Inflations- und Zinsphasen verschieben Investitionsentscheidungen, Förderfenster öffnen und schließen sich, Projekte werden vorgezogen oder aufgeschoben. Für sich betrachtet ist jeder Schritt nachvollziehbar. Im Zusammenhang entsteht eine Topographie, in der die Verwaltung des Bestehenden einfacher ist, als die Veränderung der Grundlagen.
Gemeinsam ist all dem nicht der Gegenstand, sondern die Zeitform. Verträge konservieren Entscheidungen aus Momenten hoher Geschwindigkeit und übertragen sie in eine langsamere Schicht. Man könnte sagen: Sie sind das Gedächtnis der Krise. Was kurzfristig rettet, schreibt sich als mittelfristige Bindung ein, und diese Bindung begrenzt die nächste Entscheidung – nicht absolut, aber merklich. So wird aus der Abfolge von Alarm und Verfahren eine Architektur, die auch dann trägt, wenn die Sirenen längst verstummt sind.
Die Aufmerksamkeit und ihr Preis
Dass diese Architektur so stabil wirkt, hat viel mit Aufmerksamkeit zu tun. Wer täglich mit Dringlichem befasst ist, priorisiert das Dringliche. Medienlogiken verstärken das: Live-Ticker, Eilmeldung, die Suche nach dem nächsten „Jetzt“. Auf den ersten Blick scheint das nur eine ästhetische Frage zu sein – die Verpackung des Politischen. In Wahrheit erzeugt es eine ökonomische Größe: Zeit. Zeit, die fehlt, um Umwege zu gehen, Optionen zu prüfen, Folgekosten zu kalkulieren, die nicht in der Bilanz des laufenden Jahres erscheinen. Zeit, die man gerne an Verträge delegiert, weil sie dort als Verlässlichkeit auftritt.
Aufmerksamkeit hat noch eine zweite Wirkung: Sie erzeugt Müdigkeit. Je öfter eine Öffentlichkeit die Logik des Alarms durchläuft, desto weniger Energie bleibt für Ursachen. Symptome werden zur Realität erklärt, weil sie sichtbar sind. Ursachen rutschen aus dem Bild, weil sie abstrakt sind oder jenseits der eigenen Zuständigkeit liegen. So entsteht eine Kultur der Verwaltung, die selbst als Erfolgserzählung daherkommt: Was sich beruhigen lässt, gilt als überwunden. Doch Beruhigung ist kein Umbau. Sie ist eine Pause, die im politischen Kalender gut aussieht und im Vertrag bis zur nächsten Kündigungsfrist fortgeschrieben wird.
Hier liegt auch der Grund dafür, dass Kontraktokratie kein greifbarer Gegner ist. Sie hat keinen Palast, keinen sichtbaren Kopf. Ihr Ort sind Klauseln – Investitionsschutz, Haftungsdeckel, Take-or-pay, Meistbegünstigung, Side Letters, Ratings, Schiedsregeln, AGB. Nichts davon ist skandalös, vieles notwendig. Problematisch wird es, wenn die Summe dieser Klauseln Handlungsfähigkeit ersetzt: Wenn nicht mehr entschieden wird, ob man korrigieren will, sondern nur noch, was es kostet. Dann wird Demokratie in Kosten übersetzt. Nicht der Streit ist das Zentrum, sondern die Entschädigung.
Davon profitiert nicht eine mystische Untergrundorganisation, sondern eine privatrechtliche Landschaft aus Infrastrukturnetzwerken, Finanzvehikeln, Lieferkettenkonsortien und Plattformen, die mit wachsender Vertragsmacht Gatekeeper werden. Ab einer bestimmten Dichte an Durchleitungsrechten, Abnahmezwängen und Haftungsarchitekturen treten diese Verbünde wie ein Staat auf – Fiatstaat im Sinne einer Autorität, die ihre Geltung nicht aus Territorium, sondern aus durchsetzbaren Verträgen, Kapitalströmen und symbolischer Verlässlichkeit bezieht. Es braucht dafür kein Zentrum und keinen Befehl. Aus vielen rationalen Einzelinteressen entsteht eine Form, die andere Optionen verteuert und damit die Kontraktokratie emergieren lässt. Dass die Aufmerksamkeit kurz ist, hilft ihr: Was sichtbar bleibt, ist die Ruhe nach dem Alarm; was unsichtbar wird, ist das Kleingedruckte, in dem diese Ruhe verwaltet wird.
Die Schwerkraft des Kleingedruckten
Die dauernde Wiederkehr des Dringlichen erzeugt eine stille Prioritätenliste. Ob Finanzmarkt, Energie, Klima, Wohnen, Migration, Gesundheit, digitale Infrastruktur – überall zeigt sich derselbe Mechanismus: Das kurzfristig Vernünftige produziert langfristig Bindung. Rettung wird Erwartung, Erwartung wird Vertragslage, Vertragslage wird Kostenfaktor. Wer später ändern will, muss nicht nur politisch überzeugen, sondern zahlen: Entschädigungen, Vertragsstrafen, Exit-Fees, Prozessrisiken. Deshalb haben sich Schiedsgerichte etabliert, die schnell und fachkundig sind – und oft vertraulich. Sie sind attraktiv, wo Zeit knapp ist; sie sind problematisch, wo Öffentlichkeit fehlen darf. Denn je mehr Grundsatzfragen dorthin wandern, desto unsichtbarer wird, wie Normen entstehen. Am Ende erfährt man das Ergebnis, nicht die Aushandlung.
Man kann diese Ordnung als ein ausuferndes Kleingedrucktes lesen. Aber das würde ihr nicht gerecht. Sie ist zugleich ein Schutzraum. Verträge sichern Planung und verteilen Verantwortung; ohne sie wäre komplexe Arbeitsteilung kaum möglich. Die Frage ist nur, wann das Schützen in ein Binden umschlägt – und wer das entscheidet. Bisher entscheidet oft die Situation: Der Alarm diktiert das Verfahren, das Verfahren schreibt den Vertrag. Weil das so eingespielt ist, fühlt sich ein Gegenbild unpraktisch an. Es verlangt nämlich etwas, das im Rhythmus des Dringlichen schwer fällt: eine andere Zeitform. Keine Grundsatzrede, sondern die Rückkehr zur banalen Kunst des „Revisionspunkts“ – verabredet, bevor man ihn braucht. Nicht als Hoffnung, sondern als Technik.
Es geht nicht darum, das Kontraktuelle zu verteufeln, sondern sein Gewicht sichtbar zu machen. Ein Energieliefervertrag ist nicht nur ein Preis und eine Menge, er ist eine Entscheidung über künftige Beweglichkeit. Eine Cloud-Rahmenvereinbarung ist nicht nur ein schneller Zugriff, sie ist eine Entscheidung über die Form öffentlicher IT-Souveränität. Eine indexierte Miete ist nicht nur eine Formel, sie ist eine Entscheidung über das Tempo, in dem kommunale Räume erodieren.
Jede einzelne Setzung ist rational. Die Summe erzeugt eine vorgestaltete Landschaft, in der das Neue auf einem Untergrund aus Bindungen balancieren muss. Wer darauf ausrutscht, gilt als unprofessionell. Wer sich zu sicher bewegt, setzt die nächste Bindung.
Das erklärt, warum die Dauerkrise so nüchtern daherkommt. Sie braucht keine großen Worte. Ihre Mittel sind bekannt: Alarm, Verfahren, Vertrag. Ihr Erfolg misst sich in Ruhe – nicht in Wandel. Sie ist eine Arbeitsweise, die das Politische nicht abschafft, sondern einen Rahmen gibt, der selten öffentlich verhandelt wird. Und genau deshalb verschleppt sie eine Krise nach der anderen.


Guten Morgen Herr Lommatzsch, das nennt man Kapitalismus und seine Folgen.
Da aber noch immer 99% kapitalistische oder gar neoliberale Parteien wählen, dazu die regelmäßig 30% Nichtwähler denen alles scheißegal ist, ist dieses kranke System so von der großen Mehrheit gewollt. Die brauchen sich nicht zu beschweren so lange sie nicht wählen oder immer denselben Dreck wählen und gleichzeitig hoffen daß es besser wird.
Vor allem sollte es jeder besser wissen, denn dank Internet könnte man die vorherrschende Propaganda hinterfragen und nicht jeden Blödsinn glauben. Wir Deutschen hatten in der Vergangenheit besseres:
https://sascha313.livejournal.com/44522.html
https://sascha313.livejournal.com/25499.html
Es ist kein Wunder daß die Propaganda all das runterredet mit frei erfunden Stories und Horrormärchen. Die Einwohner hierzulande sollen ja weiter dumm und obrigkeitshörig gehalten werden und auch weiter glauben, es gäbe keine Alternative.
Welche Partei frönt denn nicht dem kapitalistischen Verwertungszwang ?
Wozu hat man denn einen Internetzugang? Nur um dort auch noch bild, tagesschau, spieglein.. zu lesen?
https://www.unsere-zeit.de
Der aktenhaltende Herr neben Don T. ist übrigens
https://en.wikipedia.org/wiki/Will_Scharf
Verlogene Versprechen werden juristisch so übertüncht, dass man sie nicht mehr wahrnehmen kann, Missstände werden festgeschrieben. Kann man ein Problem nicht lösen, wird einfach ein Gesetz gemacht. „Die gute Nachricht vorab: In Deutschland gibt es einen bundesweiten Anspruch auf Betreuungsplätze. Der Haken: Vielerorts gibt es einen Mangel an Kita- und Kindergartenplätzen, weshalb viele Anträge abgelehnt werden müssen.“ Und wenn das geschieht, gilt folgender widersprüchlicher Satz. „Hier erfahren Sie, wie Sie Ihren gesetzlichen Anspruch dennoch durchsetzen können, welche Alternativen Sie haben und in welchen Fällen Ihnen sogar Schadenersatz zusteht.“ (/www.dahag.de) Ich möchte das folgendermaßen Zusammenfassen. Wenn Sie keinen Platz bekommen, können sie zum Anwalt gehen. Der Staat ist dazu da, alles juristisch zu regeln. Für die Umsetzung sind Behörden, Gerichte, Wirtschaft, Bürger usw. da. Die Politik hat ihr Bestes getan.
Gerade fällt mir ein, dass man diese Art von Problemlösung als virtuelle Problemlösung bezeichnen kann. Außerdem ist die BRD schon ein virtueller Staat mit einer virtuellen Demokratie. Nix ist mehr real.
Im Westen wird nur noch Kontrolle über die Wahrnehmung der Wirklichkeit ausgeübt, nicht mehr über die Wirklichkeit selbst. Das bildet ab, wie im Wirtschaften die externalisierten Kosten immer schwerer zu verbergen sind und dadurch die Profite zunehmend virtuell werden.
Die Gelegenheit zu einem Angleich innerhalb des Systems der kapitalismuskonformen Demokratie scheint verstrichen, und ein harter Crash unausweichlich. Als allerletzte Maske bleibt nur noch der Krieg.
Aber hey, die Beobachtung, dass Kapitalismus den Krieg in sich trägt wie die Wolke den Regen, ist ja nun auch nicht neu.