Wir waren ihm egal

Taliban in Kabul.
Voice of America News, Public domain, via Wikimedia Commons

Nach dem Abzug der NATO aus Afghanistan und der Rückkehr der Taliban, heißt es für viele Afghanen auf eine versprochene Ausreise zu warten.

Lesen Sie hier den ersten Teil von Emran Feroz‘ Bericht.

„Ich gehörte wohl zu den Falschen, die er retten wollte“, sagte Shergul über jenen amerikanischen Geschäftsmann, der im August 2021 plötzlich in Kabul auftauchte, um Zabulon Simentov, den letzten in Afghanistan lebenden Juden, zu „retten“. Wenige Tage zuvor hatten die militant-islamistischen Taliban bereits die Hauptstadt weitgehend gewaltfrei eingenommen und die internationalen Truppen der NATO waren am Kabuler Flughafen mit ihrem chaotischen Abzug beschäftigt.

Shergul, ein Angehöriger der mehrheitlich schiitischen Hazara-Minderheit Afghanistans, ist Ende Dreißig und hat meist einen etwas schelmischen Gesichtsausdruck. Er wuchs im Kabuler Stadtteil Shar-e Naw nahe der letzten Synagoge des Landes auf. Kaka Zabulon, wie er Shergul Simentov meist nennt, kennt er schon von klein auf. „Kaka“ bedeutet „Onkel“ im Afghanischen. In den letzten Jahren gehörte Shergul zu den wenigen Personen, die sich um den letzten Juden des Landes ernsthaft kümmerten. Er kaufte für Simentov ein, sorgte für ihn, als dieser krank war oder war als dessen Privatchauffeur tätig. „Er ist ein ziemlich anstrengender Brocken, aber er hat sonst niemanden“, sagte mir Shergul als ich ihn 2020 zum ersten Mal in Kabul traf.

Rückkehr der Taliban

Im August 2021, so dachte sich Simentov, war der Moment gekommen, Shergul Dankbarkeit zu zeigen. Er nutzte seine eigene Prominenz und überzeugte seinen vermeintlichen Retter, nicht nur ihn außer Landes zu schaffen, sondern auch Shergul und dessen Familie, sprich, seine Frau und sein drei kleinen Kinder. „Ich wollte, dass sie in Frieden leben. Raus aus Afghanistan und dem ewigen Leid. Doch ich wusste nicht, worauf ich mich eingelassen hatte“, sagt Simentov, der sich gegenwärtig in Istanbul aufhält. So weit sind Shergul und seine Familie nicht gekommen. Tatsächlich wussten sie von Anfang an nicht, was ihr Ziel war. Ihnen wurde vor allem folgendes vermittelt: Hauptsache, weit weg von den Taliban.

Der angemietete Bus mit Simentov, Shergul und seiner Familie sowie einiger anderer Nachbarn – allesamt hauptsächlich Frauen und Kinder – fuhr über eine Schmugglerroute ins benachbarte Pakistan. Da es sich nicht um die reguläre Route handelte, wurde der Trip zu einer mehrtägigen Höllenfahrt. Bewaffnete Milizen und Polizisten mussten geschmiert werden. Es mangelte an Nahrung und Wasser. „Meine Kinder verdursteten fast“, erinnert sich Shergul. Mittlerweile lebt er mitsamt Frau und Kind in Peschawar nahe der afghanischen Grenze, oder besser gesagt: Er steckt im Nimbus fest.

Seit anderthalb Jahren ist der Status der Geflüchteten ungeklärt. Hinzu kommt, dass der Familie auch afghanische Dokumente fehlen, weshalb selbst eine Rückreise nach Kabul schwierig erscheint. „Selbst wenn wir es zurückschaffen: Was erwartet uns dort?“, sagt der Afghane während eines WhatsApp-Gesprächs.

Seit dem Abzug der NATO wird Afghanistan abermals von den Taliban regiert. Der Fokus der Extremisten liegt in erster Linie auf die Wiederrichtung ihres totalitären Emirats, während die Bevölkerung Repressalien, humanitären Katastrophen und westlichen Sanktionen ausgesetzt ist. Ende vergangenen Jahres wurde Mädchen und Frauen jegliche universitäre Bildung untersagt. Auch Oberstufenschulen sind für Afghaninnen seit der Rückkehr der Taliban nicht zugänglich. Dinge, die einfache Afghanen wie Simentov oder Shergul schon vor Jahren befürchtet haben, während die US-Regierung mit den Taliban im Golfemirat über einen Abzug verhandelte.

Irgendwo im Nirgendwo

Im Zuge der Taliban-Rückkehr schlugen nicht nur viele jener Staaten, die in den letzten zwei Jahrzehnten in Afghanistan einen brutalen Krieg führten, mit der Moralkeule um sich, sondern auch Einzelpersonen. Zu ihnen gehörte auch jener Mann, der Simentov und Shergul außer Landes schaffte, ohne für sein Handeln einen Hauch von Verantwortung zu übernehmen. Während „der letzte Jude“ in Istanbul „versauert“, wie er es selbst bezeichnet, fühlen sich Shergul und seine Familie in Peschawar wie in einem offenen Käfig. Sie können weder zurückblicken noch in die Zukunft schauen.

„Wie mit diesen Menschen umgegangen wurde, ist absolut verantwortungslos. Es gibt tatsächlich niemanden, der sagen kann, was mit ihnen passiert“, sagt Sayed Jalal Shajjan, ein afghanischer Anthropologe, der sich seit Jahren mit Flucht und Migration aus Afghanistan beschäftigt. Er kritisiert den Umstand, dass im August 2021 vor allem der Fokus auf sogenannte Ortskräfte und andere Verbündete der NATO-Kräfte gelegt wurde, während man gleichzeitig im Zuge des Chaos andere Afghaninnen und Afghanen ins Ausland gebracht und diese im Anschluss sich selbst überlassen hat. „Nichts war koordiniert.

Während viele Menschen, die von den Taliban bis heute gejagt werden, weiterhin in Afghanistan verweilen, stecken viele, die mit dem politischen Geschehen nichts zu tun hatten, im Nirgendwo fest und wissen nicht weiter“, sagt Shajjan. Organisationen wie die UN oder IOM seien in vielerlei Hinsicht desinteressiert oder ihnen seien die Hände gebunden.

Warten auf die Weiterreise

„Wir wurden hierhergebracht und ausgesetzt. Wie verlorene Tiere, die niemand haben will. Irgendjemand muss doch dafür geradestehen“, sagt Shergul. Harte Worte findet er auch für seinen vermeintlichen Retter aus den USA: „Er hat in Kauf genommen, dass wir sterben. Was mit meiner Frau und meinen Kindern passiert, war ihm von Anfang an egal.“

Zu jenen Afghanen, die in Pakistan festsitzen, gehören nicht nur Shergul und seine Familie. Tausende von Afghanen, denen seitens westlicher Staaten eine Evakuierung versprochen wurde und deren Anlaufstellen die betroffenen Botschaften in Islamabad sind, warten bis heute vergeblich auf ihre Weiterreise.

In diesem Kontext ist auch das Vorgehen der deutschen Bundesregierung erwähnenswert: Ende vergangenen Jahres stellte das Auswärtige Amt ein neues, in vielerlei Hinsicht kompliziertes und bürokratisch aufwendiges Aufnahmeprogramm für gefährdete Afghaninnen und Afghanen vor. Der Fokus lag in erster Linie auf Journalisten, Justizangestellte und Aktivisten der Zivilgesellschaft. (Zurückgebliebene Ortskräfte wurden nicht berücksichtigt!) Mittlerweile sollen sich mindestens 50.000 Menschen dafür beworben haben. Nach Deutschland hat es bis dato noch kein Einziger von ihnen geschafft.

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12 Kommentare

  1. Es sind nur Versprechen von Freiheiten die nicht Eingehalten werden. Der GWOT ist eine einzige große Lüge!

    Übrigens hab ich noch einen Spiegel Nr. 50 vom 07.12.2009 da wurde schon über Zabulon Simentov berichtet und der ist durch und durch Afghane. Und wollte nie Auswandern!

  2. Solange sie gebraucht werden, wird so getan als wäre man der beste Freund.
    Wenn es vorbei ist, kann jeder selbst schauen wie er klar kommt.
    Läuft leider immer nach dem selben Muster ab.
    Also wer meint, sich mit diesem Klientel einlassen zu müssen,
    sollte sich das vorher bewusst machen und evtl. Vorsorge für das
    dannach tätigen.

  3. Die wohlklingenden moralischen Bekundungen verflüchtigen sich schnell, wenn das eigentliche Ziel nicht mehr erreichbar ist. Auch für die geflüchteten Ukrainer wird eine (noch) schwierigere Zeit anbrechen, sobald die Ukraine den Krieg offiziell und endgültig verloren, der Westen sich, wie im Fall Afghanistan, nur mit entscheidend schlechteren Karten, auf eine Kriegsführung mit anderen Mitteln verlegt hat.

  4. „Ende vergangenen Jahres wurde Mädchen und Frauen jegliche universitäre Bildung untersagt.“

    Also ganz ehrlich, die Vertragspartner der Taliban, die USA, zeichneten sich nach ihrer überhasteten Flucht hauptsächlich durch…ich würde sagen…Rachsucht wegen des verlorenen Krieges aus. Harte Sanktionen, eingefrorene afghanische Gelder, die die USA eigenmächtig an Hinterbliebene von Opfern des 9/11-Anschlags verteilen will und weiterhin höchst illegale Mordanschläge wie letztes Jahr auf den Al-Kaida-Chef per Drohne.

    Imperiale Willkür in Reinform.

    Wieso sollten sich die Taliban verwestlichen, wenn die ganze westliche Welt, angeleitet von den USA, ihnen unablässig den Hintern ins Gesicht streckt und ihnen in den üblichen großherrlichen Tönen was pupst?

    Lob an den Artikel, dass er die Sanktionen erwähnt.

    1. Die Sanktionen kommen mir wie eine Holodomor-Veranstaltung vor.
      Bei den einen ist sowas gut und Heldenhaft, bei den anderen abgrundtief Böse.

      1. Holodomor?

        Dazu sagt Wikipedia:

        „Im Dezember 1927 beschloss der XV. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (damals als Kommunistische Allunions-Partei (Bolschewiki) bezeichnet) Maßnahmen zur beschleunigten Industrialisierung der Sowjetunion, die im ersten Fünfjahresplan für die Periode 1928 bis 1932 niedergelegt wurden. Im Hinblick auf die traditionell in der Dorfgemeinschaft verwurzelte Landwirtschaft ging man von den bisherigen Experimenten einer freiwilligen Kollektivierung zur Zwangskollektivierung über. Ein Ziel war eine Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion, um mit Exportüberschüssen aus diesem Sektor die Einfuhr für die Industrialisierung benötigter Wirtschaftsgüter wie Ausrüstungen für Industriebetriebe finanzieren zu können. Diese Steigerungen hoffte man durch die Zusammenlegung landwirtschaftlicher Flächen, Einführung neuer Anbaumethoden und Mechanisierung zu erreichen. Ferner sollte die in der Periode der Neuen Ökonomischen Politik noch mögliche private Lagerhaltung verboten werden.“

        Das funktionierte nicht gleich, die Ernteerträge sanken und es kam zu Hunger und zwar nicht nur in der Ukraine.

        1. Der vollständige deutsche Wikipedia-Eintrag ist nicht gerade der Link, auf den ich mich beziehen wollte, um den Völkermordvorwurf zu entkräften. Die Erinnerung an den Holodomor ist gerade in der Ostukraine durchaus lebendig (und kein westliches Implantat – war zumindest meine eigene Beobachtung, auch wenn Sie das mit Sicherheit null interessieren dürfte).

          1. Naja – „Erinnerung an Holodomor“
            Erinnerung gehungert zu haben und an verhungerte Familinmitglieder, Erinnerung an Hunger in anderen Sowjetrepubliken?
            Nun werden Strassen u Plaetze nach Nazi-Helfern benannt, da stoert die Erinnerung an die Ermordung von juedischen oder polnischen Ukrainern.
            Und was sich die deutschen Medien grad leisten an Politik- u Geschichtsklitterung ist ja wohl unter aller Kanone…
            Die Wiedervereinigung mit russischer Zustimmung waer ohne entspr Sicherheitszusagen an Russland nicht denkbar gewesen.
            Nun luegt man sich die ‚Zeitenwende‘ zu recht :-/.

            1. Ich wusste nicht einmal, dass Polen und Israel Russland gebeten haben, die Ukraine zu entnazifizieren, aber mein für NS-Propaganda so empfängliches Gehirn hat das sicherlich verdrängt.

  5. Die Afghanen, die den westlichen Politikern glaubten, man würde sie in Sicherheit bringen, sind heute genauso dran wie die ukrainischen Soldaten, die westlichen Kriegstreibern glaubten, sie würde alle Waffen für einen Sieg gegen die Russen erhalten. Gleiches gilt für die Bevölkerungen westlicher Staaten, die ihre Politiker machen lassen.

    Zum Schluss werden sie alle betrogen.

    PS. Und der fiese Assange sitzt angeblich im Knast, weil er mit seinen Veröffentlichungen Menschenleben gefährdet hat.

  6. So mancher Afghane hat sich zu Prigoshins Wagnerverein durchgeschlagen. Es gibt dort jetzt eine Artillerieeinheit, die einst für die Arbeit an amerikanischen Artilleriesystemen, M-777-Haubitzen ausgebildet war und mit Javelin-Panzerabwehrraketensystemen usw. arbeitet – was man halt so von ukrainischen Einheiten einkaufen konnte.

  7. Afghanistan kann den USA wirklich dankbar sein.
    So viel war mir möglich, aus dieser Wortsammlung heraus zu lesen.
    \satire off

    Bitte liebe Overtonier: lest die Artikel Korrektur. (Ich mach´ das auch gerne für euch.) Man kann kaum verstehen, was Feroz hier vermitteln will… Ich habe zB nicht verstanden wer zu welchem Namen gehört.
    Faktisch ist es allerdings egal – was die Amis dort hinterlassen haben, ist eine Katastrofe – so viel steht fest.

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