Verloren

Skyline von Kabul.
Weaveravel, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Schlepper machen Geschäfte mit Geflüchteten – für Geld. Es gibt aber auch eine andere Sorte von Schleppern: Und die lässt sich mit Moral entlohnen. Im Evakuierungsnimbus, erster Teil.

Vor wenigen Tagen haben die Geschehnisse in Afghanistan abermals die Realität eingeholt. Recherchen des NDR, der Süddeutschen Zeitung sowie der Wiener Wochenzeitung Falter haben verdeutlicht, dass Österreich und Deutschland rund zwei Wochen vor der Rückkehr der Taliban nach Kabul eine Massenabschiebung ins Kriegsland durchsetzen wollten. Das Vorhaben, bei dem der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer persönlich federführend mitwirkte, wurde im letzten Moment aufgrund der eskalierenden Sicherheitslage vor Ort durchkreuzt.

Abgeschoben wurde in den Wochen und Monaten zuvor allerdings weiterhin. Seit der Unterzeichnung eines Pakts zwischen der EU und der damaligen afghanischen Regierung gehörten Abschiebungen nach Kabul zum politischen Alltag, während das Geschehen vor Ort permanent ignoriert und verdrängt wurde. (Abschiebungen nach Afghanistan: „Maximale Diskretion“ | tagesschau.de)

Plötzliche Evakuierungen

Dies änderte sich mit dem 15. August 2021. Während die internationalen Truppen unter der Führung der USA mit ihrem chaotischen Abzug beschäftigt waren, flüchtete Ashraf Ghani, der letzte Präsident der Islamischen Republik Afghanistan, mitsamt seines Führungszirkels und die militant-islamistischen Taliban nahmen Kabul ein. „Ich war in Guantanamo, doch nun sitze ich hier!“, verkündete damals ein Taliban-Kommandant triumphierend während der ersten Pressekonferenz der Gruppierung aus dem Arg, dem afghanischen Präsidentenpalast. Es war eine Szene, die das Versagen des amerikanischen „War on Terror“ besonders verdeutlichte.

Die Rückkehr der Taliban war eine Zäsur in vielerlei Hinsicht. Wie nichts anderes verdeutlichte sie das Scheitern der zwanzigjährigen NATO-Besatzung. Doch ausgerechnet jene Staaten, die am Hindukusch versagt hatten, nutzten nun den Moment, um von ihren eigenen Fehlern abzulenken und ihr Image zu schönen. Zu sehen war dies etwa am Kabuler Flughafen, wo innerhalb weniger Tage Zehntausende von Afghanen evakuiert und außer Landes geschafft wurden. „Wir haben unser Bestes gegeben. Nun retten wir sie ein letztes Mal vor den Taliban“, lautete die PR-Kampagne der USA und ihrer Verbündeten. Dass viele Akteure, etwa Deutschland, das nur halbherzig taten und selbst nicht davor zurückschreckten, ihre eigenen afghanischen Mitarbeiter im Stich zu lassen, ist allerdings nur ein Bruchteil der Geschichte.

Tatsächlich beteiligten sich auch viele Privatpersonen an den plötzlichen Evakuierungsaktionen (plötzlich, weil in Afghanistan nicht erst seit dem 15. August 2021 Krieg und Konflikt herrscht, sondern seit über vierzig Jahren). Die Message war, so schien es, klar: Die Taliban errichten abermals ihr Schreckensregime, weshalb so viele Menschen wie möglich – allen voran Gefährdete – raus, sprich, das Land verlassen müssen. Der Fokus lag tatsächlich auf „raus“, denn das Ziel der Reise war in vielen Fällen unbekannt – und ist es bis heute.

Die „Rettung“ des letzten Juden Afghanistans

„Ich hänge hier seit über einem Jahr fest und nun fehlt mir sogar das Geld für eine Aufenthaltsverlängerung“, sagt Zabulon Simentov, der in den letzten Jahren als „letzter Jude Afghanistans“ regelmäßig international für Aufsehen sorgte. Nach der Rückkehr der Taliban entschloss er sich, zu bleiben und wie gewohnt die letzte Synagoge des Landes in Kabul zu hüten. Doch dann änderte sich sein Plan. Ende August stand ein jüdischer Geschäftsmann aus den USA vor seiner Tür. „Ich will dich retten“, waren seine Worte. Er hatte über die Medien von Simentov erfahren und war davon überzeugt, dass dieser nun in Gefahr sei. Tatsächlich hatte Simentov in den 1990er-Jahren alles andere als gute Erfahrungen mit den Taliban und deren erstes Regime gemacht. Er blieb damals dennoch in seiner Heimat und hatte nun, im Jahr 2022, auch nicht vor, sie zu verlassen. „Ich bleibe hier“, waren auch die letzten Worte von Simentov, die ich von ihm aus Kabul hörte.

Doch dann kam alles anders. Simentovs vermeintlicher Retter organisierte einen Bus für dessen Evakuierung und überzeugte ihn davon, dass die Extremisten der afghanischen IS-Zelle im Gegensatz zu den Taliban auch vor religiösen Minderheiten, einschließlich Juden, keinen Halt machen würden. Damit hatte er nicht Unrecht. Simentov bekam es mit der Angst zu tun. Hinzu kamen seine Freunde und Nachbarn.

Das Chaos am Flughafen hatte zu einer problematischen Atmosphäre geführt. Viele Menschen in Kabul und anderswo dachten sich, dass nun der Zeitpunkt gekommen sei, um in ein besseres Leben zu springen. Hauptsache, raus aus Afghanistan, dem Synonym für Krieg und Armut. Wer tatsächlich das Land verlassen durfte und wer letztendlich darüber entscheidet, war unklar. Waren es die US-Soldaten am Flughafengelände, die US-Regierung, ausländische NGOs oder etwa die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel, die – so glaubten einige zumindest – schon 2015 ihre barmherzige Seite gezeigt hatte?

Türkei statt USA

Im Fall von Simentov war niemand der genannten Akteure involviert. Stattdessen stand besagter Geschäftsmann aus New York in seinem Garten und pochte auf eine baldige Abreise. Wenige Tage später machte ein Foto von Simentov in einigen Sozialen Medien die Runde. Es zeigte den letzten Juden Afghanistans in einem vollgepackten Bus mit Frauen und Kindern. Simentov starrte müde und etwas irritiert in die Kamera. Doch heute kann er seine Wut über damals kaum kontrollieren. „Er hat mir versprochen, mich in die USA zu bringen. Stattdessen wurde ich in der Türkei alleingelassen!“, sagt er.

Damals, sprich, vor über einem Jahr, wurde Simentov erst nach Pakistan gebracht, wo er mehrere Wochen verbringen musste. Im Anschluss wurde deutlich, dass eine Weiterreise in die USA nicht möglich sei. Stattdessen solle der ehemalige Juwelier und Teppichhändler nach Israel. Simentov hatte in beiden Ländern Verwandte, doch auf das Angebot seines „Retters“ ging er erst ein, nachdem ihm dieser eine Einreise in die USA garantiert hatte. „Hätte ich gewusst, dass er lügt, wäre ich in Afghanistan geblieben“, sagt er heute. In Pakistan hieß es, dass er über die Türkei in die USA könne – nachdem man dort alle bürokratischen Angelegenheiten erledigt habe.

„Er steckt im Nimbus fest. Warum hat man ihn hierhergebracht? Damit er am Ende bei den türkischen Behörden betteln soll?“, wundert sich Cuma Khan, ein Freund Simentovs, der seit Jahren in Istanbul lebt. Er hat ihm bereits mehrmals finanziell unter die Arme gegriffen. Khan weiß, dass Simentov ein schwieriger Charakter ist. „Wahrscheinlich hat er sich mit seinem Retter gestritten. Das macht er mit jedem. Doch warum ist dieser Mann überhaupt in Kabul aufgetaucht?“, wundert er sich bis heute.

Schlepper auf Moralinbasis

Die Frage von Simentovs Freund ist berechtigt. Im Schatten der Taliban-Rückkehr wollten sich viele Menschen profilieren und als Retter inszenieren. Sie nutzten ihre eigenen Privilegien, um staatliche Grenzen zu überwinden. Doch im Gegensatz zu klassischen Schleppern wollten sie zum Schluss nicht mit Geld, sondern Moral überhäuft werden und sich besser fühlen. Dass sie dabei jenen, die sie retten wollten, teils geschadet haben, wird nicht nur von ihnen verdrängt und übersehen. Simentovs vermeintlicher Retter empfiehlt ihm bis heute, nach Israel auszuwandern, wie Sprachnachrichten, die der Redaktion vorliegen, verdeutlichen. Doch das liegt nicht im Interesse Simentovs. Er hat nicht nur Angst, dort nicht zurechtzukommen, sondern pflegt ein schwieriges Verhältnis zu seiner Ex-Frau und seinen Töchtern.

Was aus dem „letzten Juden“ letztendlich wird, weiß niemand. Es gibt praktisch niemanden, der sich für Simentov verantwortlich fühlt. Anfang des Jahres gewährten ihm die türkischen Behörden eine Aufenthaltsgenehmigung, die bald abläuft. Theoretisch könnte Simentov dann wie Tausende von Afghanen, die in den letzten Monaten die Türkei verlassen mussten, abgeschoben werden. Offiziellen Zahlen zufolge sollen allein in den letzten zehn Monaten mindestens 57.000 afghanische Geflüchtete von der Türkei abgeschoben worden sein. Hinzu kommen illegale Pushbacks und andere menschenfeindliche Praktiken, die kaum Beachtung finden. (Afghan migrants beaten and illegally expelled by Turkish authorities – InfoMigrants)

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4 Kommentare

  1. Das ist alles an der eigentlichen Problemlage vorbeigeschrieben. Soll es darum gehen, die gesamteafghanische Bevölkerung irgendwohin zu evakuieren, vor den bösen Taliban zu retten? Tatsache ist – nach wie vor führt der Westen den afghanischen Krieg weiter, nun eben weitestgehend auf der ökonomischen Ebene. Der Wirtschaftskrieg stranguliert das Land. Es wurden die Guthaben der afghanischen Zentralbank geraubt. (Die usa sind die grössten Bankräuber aller Zeiten.) Die Regierung wird nicht anerkannt, ihr werden maximal Steine in den Weg gelegt. Und dann glaubt man, das werde auf der anderen Seite Goodwill generieren? Wie auch im Iran führt die westliche Politik zu einer Stärkung der jeweiligen Beton-Fraktion, die leichtes Spiel hat, zu beweisen, dass man es mit unversöhnlichen Feinden zu tun habe, denen Entgegenkommen zu zeigen nur Unheil bringt. Und das stimmt ja auch, der feuchte Traum des Imperiums und seiner Pudel ist ein neuerlicher Bürgerkrieg in Afghanistan. Das Wohlergehen der Bevölkerung, namentlich der weiblichen, geht diesen Leuten am Arsch vorbei.

  2. Sehr gutes Interview:
    https://de.qantara.de/inhalt/afghanistan-bei-uns-gehen-auch-maedchen-weiter-zum-unterricht

    … In allen unseren Mädchenoberschulen gehen die Mädchen weiterhin bis zur 12. Klasse täglich zum Unterricht. Auch die Ausbildung in unseren Computerklassen, an unseren Berufsschulen und an der Uni verläuft ungestört. Ich war kürzlich selbst vor Ort und konnte mir ein Bild von der Lage machen. Einige Computerklassen und Schneiderinnenschulen, an denen junge Frauen ausgebildet werden, sind erst in den letzten Monaten entstanden, also nach der Machtübernahme der Taliban und nachdem die Amerikaner – die verhassten Besatzer – abgezogen waren.  

    Das ist eine überraschende Aussage angesichts der Schreckensmeldungen der letzten Monate, die davon zeugen, wie schlimm die Situation für afghanische Frauen und Mädchen ist.  

    Erös: Diese Berichterstattung nervt mich kolossal. Dass auf dem Land rund 95 Prozent der Menschen hungern, darüber wird wenig berichtet – aber dass die afghanische Mädchenfußballmannschaft nicht mehr spielen darf, ist das bestimmende Thema bei uns. Da stimmt was nicht mit der Schwerpunktsetzung.

    Wirklich gebildete Frauen machen im Land etwa drei Prozent der Bevölkerung aus, aber in der hiesigen Berichterstattung spielen fast nur sie eine Rolle. Dieses Ungleichgewicht ärgert mich maßlos. 

    Inwiefern hat sich Ihre Arbeit seit der Machtübernahme der Taliban verändert? 

    Erös: Ich kann nur für unsere Schulen sprechen, aber dort hat sich die Situation sogar verbessert seit der Machtübernahme der Taliban im Sommer 2021 – weil jetzt kein Krieg mehr herrscht. Nun müssen die Kinder auf dem Schulweg keine Angst mehr haben vor den Drohnen der Amerikaner und den Gefechten der US-Truppen mit den Aufständischen. In den vergangenen 18 Jahren sind durch amerikanische Luftangriffe etwa hundert meiner Schüler getötet worden und circa 500 Eltern.  

    Erös: Ich bin einer der größten privaten Schulbetreiber in Afghanistan: Rund 65.000 Kinder besuchen unsere Schulen und wir beschäftigen etwa 1.600 afghanische Mitarbeiter. Davon sind nach wie vor zwei Drittel Frauen. Und ich bin es satt, immer wieder betonen zu müssen, dass das weiterläuft – das dürfte nun deutlich geworden sein.  

    Mit welchen Argumenten überzeugen Sie Taliban ebenso wie traditionell eingestellte Eltern und lokale Stammesfürsten, dass Mädchen auch über das Alter von 12 Jahren hinaus zur Schule gehen sollten? 

    Erös: Ich muss die nicht überzeugen, ganz im Gegenteil. Es gibt zu wenig Schulen und Lehrkräfte im Land, dabei ist der Bedarf groß. In den vergangenen Jahren mussten wir teilweise in Dreier-Schichten an den Schulen unterrichten, weil so viele Kinder kamen. Die Amerikaner haben rund 1200 Milliarden Dollar für die Sicherheit in Afghanistan ausgegeben, aber davon wurden nur sechs Prozent für den zivilen (Wieder-) Aufbau etwa von Schulen und Krankenhäusern verwendet. Das ist das eigentliche Problem.

    Ich ermuntere die deutschen Hilfsorganisationen, endlich weiterzuarbeiten. Die Taliban tun Ihnen nichts.

    Das Dämonisieren der Taliban ist ebenso katastrophal falsch wie das Glorifizieren der westlichen Präsenz in Afghanistan. Der Westen, der Milliarden an Geldern ins Land gepumpt hat, hat dazu beigetragen, dass Afghanistan – so schreibt es Transparency International – zu einem der korruptesten Länder der Welt geworden ist.    

    Das Interview führte Elisa Rheinheimer

    © Qantara.de 2022
    Ein Internetportal der Deutschen Welle (DW)

    Mehr:

    Mittelbayerische Zeitung: Kinderhilfe Afghanistan arbeitet weiter
    https://www.kinderhilfe-afghanistan.de/wp-content/uploads/2022/12/2022_Presse_MZ-Strasser-12-22.pdf

    Jahresbrief:
    https://www.kinderhilfe-afghanistan.de/wp-content/uploads/2022/12/2022_Jahresbrief.pdf

      1. Aber die Sicht der Familie Erös gehört schon seit über 20 Jahren zu den wenigen redlichen und der Realität entsprechenden Stimmen.
        In der Realität sind das die wirklich woken, aufgeweckten Menschen. Auch ein Jürgen Todenhöfer gehört dazu.
        Ihre Sichtweisen sind konservativ, ihr Verhalten progressiv, aber im wesentlichen unbemerkt.

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