
Umgekehrter Totalitarismus: Der zentraler Unterschied zum klassischen Totalitarismus besteht darin, dass diese postmoderne Form totaler Herrschaft auf eine weitreichende Entpolitisierung der Bevölkerung und auf weichere, kaum wahrnehmbare Unterdrückungsmechanismen setzt.
Triumph des Willens – Leni Riefenstahls berühmte (oder berüchtigte) Propaganda-Huldigung an Hitler, in der sie den Reichsparteitag der NSDAP 1934 in Nürnberg dokumentiert – beginnt mit einer dramatischen und äußerst aufschlussreichen Einstellung. Die Kamera ist auf einen dicht bewölkten Himmel gerichtet. Wie von Zauberhand teilen sich plötzlich die Wolken, ein kleines Flugzeug gleitet durch sie hindurch und stößt hinab zur Erde. In Uniform entsteigt ihm der »Führer« und schreitet triumphierend an der jubelnden Menge und den Parteigetreuen vorbei. Am Ende des Films richtet sich das Auge der Kamera auf eine scheinbar endlose Parade, auf Reihe um Reihe uniformierter Nazis, die im Licht von Fackeln Schulter an Schulter im Gleichschritt dahinmarschieren. Noch heute hinterlässt der Film den Eindruck stählerner Entschlossenheit einer Macht, die auf Eroberung aus ist, einer geistlosen Macht, deren Gewalt mythisch eingehüllt ist.
Ein Auszug aus Wollins »Umgekehrter Totalitarismus: Faktische Machtverhältnisse und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf unsere Demokratie«.
Klatschen und Jubel auf Kommando
Am 1. Mai 2003 wurde den Fernsehzuschauern in einem ebenfalls sorgfältig inszenierten »dokumentarischen« Filmbericht eine amerikanische Version strenger Entschlossenheit und ihrer Verkörperung in einem Führer präsentiert. Eine Militärmaschine stößt vom Himmel herunter und landet auf einem Flugzeugträger. Die Kamera erzeugt die Illusion eines weit draußen auf hoher See befindlichen Kriegsschiffs als Symbol für eine Macht, die geografisch nicht auf ihr Heimatland beschränkt ist und sich überall auf der Welt durchsetzen kann. Der Führer erscheint – nicht als schlichter, demokratischer Amtsinhaber, sondern als jemand, dessen symbolische Autorität antidemokratisch ist. Er schreitet entschlossen voran, den Fliegerhelm unter den Arm geklemmt, ausstaffiert wie ein Militärpilot. Über ihm das Banner »Mission Accomplished«. Er salutiert vor einer arrangierten Gruppe von militärischem Personal in Uniform. Kurz darauf erscheint er erneut, wieder stolzierend, dieses Mal aber zivil gekleidet, ohne jedoch die Aura antiziviler Autorität abzulegen. Gebieterisch spricht er vom inzwischen geräumten Deck des Flugzeugträgers Abraham Lincoln, wobei die Militärangehörigen akkurat um ihn herum geschart sind. Er steht allein in einem rituellen Kreis, der das Sakrament von Führung und Gehorsam symbolisiert. Auf Kommando wird geklatscht und gejubelt. Er beschwört den Segen einer höheren Macht. Auch er verspricht einen Triumph des Willens:
Die USA werden:
sich für das Streben nach Menschenwürde einsetzen;
Allianzen stärken, um den globalen Terrorismus zu besiegen;
(…) regionale Konflikte entschärfen;
unsere Feinde daran hindern, uns [und] unsere Verbündeten (…) mit Massenvernichtungswaffen zu bedrohen;
eine neue Ära wirtschaftlichen Wachstums einleiten;
Spielräume für Entwicklung erweitern, indem sie Gesellschaften öffnen und die Infrastruktur der Demokratie aufbauen;
Amerikas nationale Sicherheitseinrichtungen umgestalten.
Mythos umhüllt von Macht? Wille zur Macht?
Die wundersame Macht
Beide Inszenierungen sind Beispiele für den spezifisch modernen Modus der Mythenbildung. Es handelt sich um reflektierte Konstrukte der visuellen Medien. Kino und Fernsehen teilen die Eigenschaft, in einem bestimmten Sinne tyrannisch zu sein. Sie sind imstande, alles auszublenden, zu eliminieren, was Kompetenz, Ambiguität oder Dialog ins Spiel bringen könnte, alles, was die ganzheitliche Kraft ihrer Schöpfung, des Gesamteindrucks schwächen oder kompliziert machen könnte.
Auf eine sonderbare, gleichwohl bedeutsame Weise stehen diese medialen Effekte im Einklang mit religiösen Praktiken. In vielen christlichen Glaubensgemeinschaften nimmt der Gläubige auf ähnliche Weise an den Zeremonien teil, wie der Kino- oder Fernsehzuschauer an dem dargebotenen Spektakel teilnimmt. In keinem der beiden Fälle partizipieren sie so, wie es der demokratische Bürger tun sollte, nämlich durch aktive Beteiligung an Entscheidungen und Teilhabe an der Machtausübung. Sie nehmen als Kommunikanten an einer Zeremonie teil, die von den Zeremonienmeistern vorgeschrieben ist. Die in Nürnberg oder auf der USS Abraham Lincoln Versammelten hatten an der Macht ihrer Führer keinen Anteil. Ihre Beziehung beruhte auf Thaumaturgie: Sie wurden von einer wundersamen Macht nach deren Gutdünken und zu einem Zeitpunkt von deren Wahl begünstigt.
Die den Träumen von Ruhm, von einem »amerikanischen Jahrhundert«, von einer Supermacht zugrunde liegende Metaphysik offenbarte sich in den Überlegungen eines hochrangigen Regierungsbeamten, als er oder sie den Reportern eine spezifische Sichtweise der »Realität« zuschrieb und diese dann mit derjenigen der Regierung kontrastierte: Reporter und Kommentatoren gehörten »zu dem, was wir [d. h. die Regierung] die realitätsbasierte Gemeinschaft nennen, die glaubt, dass Lösungen aus dem vernünftigen Studium der erkennbaren Realität hervorgehen. Aber so funktioniert die Welt längst nicht mehr. Wir sind ein Imperium und schaffen unsere eigene Wirklichkeit. Und während Sie sich mit dieser Realität beschäftigen – nach Maßgabe der Vernunft –, werden wir bereits wieder handeln und andere neue Wirklichkeiten schaffen, mit denen Sie sich dann ebenfalls beschäftigen können, und auf diese Weise werden sich die Dinge klären. Wir sind Akteure der Geschichte (…) und Ihnen allen wird nichts übrig bleiben, als sich mit unseren Handlungen zu beschäftigen.«
Es wäre schwierig, einen loyaleren Vertreter des totalitären Glaubensbekenntnisses zu finden, wonach wahre Politik im Wesentlichen eine Angelegenheit des »Willens« ist, der Entschlossenheit, mit der Macht umzugehen und sie einzusetzen, um die Wirklichkeit umzugestalten. Die Aussage ist ein passendes Epigraph zu Riefenstahls Triumph des Willens – ist sie zugleich ein mögliches Epitaph für die Demokratie in Amerika?
. . vom Himmel hoch – interstellar interessant – aber eben nur Propaganda für die Gewöhnlichen Menschen.
– wenn die Fettrationen üppig und etwas Zucker dazu gegeben, dann ist auch der Arbeitslose satt und glücklich – und wenn dann auch noch das Wort zum Tagesausklang mit allen ‚Verordnungen der Gottvertreter auf Erden‘ in Einklang steht, kommt keinem im Lande der geistige Ansatz zur Veränderung, richtig?- aber was soll da heraus führen?
–
Jetzt schreiben hier schon die Toten.
Das Buch ist 2008 erschienen. Es wurde geschrieben, als es faktisch noch kein mobiles Internet hab. Welchen Mehrwert kann ein solcher Schinken, der eine Entwicklung prognostiziert, 17 Jahre später und gerade in den wilden, heutigen Zeiten haben?
Stell dir vor, die meisten Autoren besonders lesenswerter Bücher, sind heutzutage tot. Und bei den in den Büchern besprochenen Angelegenheite,n gewinnt man überdem noch den Eindruck der Wiedererkennbarkeit, so als sei die Zeit wahlweise stehengeblieben oder zurückgedreht worden. Denn es sind die immer gleichen, wiederkehrenden Probleme. Aber es muß dir ja ein besonderes Herzensanliegen sein, den Deckel drauf zu halten.
Der Krieg heißt ja auch schon seit Urzeiten:“Reich gegen Arm“!
Besser die Toten als die braunen Idioten wie Naziturzucker.
@aquadraht
Besser die Toten als die braunen Idioten wie Naziturzucker.
Also mit „Nazis“ haben Sie´s ja irgendwie. Da sind Sie regelrecht drauf fixiert und von diesem Wort sozusagen manisch besessen.
Merken Sie denn gar nicht, dass dieses undifferenzierte Nazi-Gequatsche, das Sie hier häufig ablassen, in einem seltsamen Widerspruch zu der ungleich höheren Qualität vieler Ihrer sonstigen Beiträge steht??
Anders gesagt: Das müsste doch eigentlich unter ihrem Niveau sein. Oder irre ich mich?
Seltsam, warum fühlst du dich angesprochen. Hat das wieder mit Carl Schmitt zu tun? Und netter Versuch, wie du dir selbst versuchst eine Gütesiegel zu verpassen, indem du meinst anderen eines verteilen zu können.
Gut beobachtet! 👍
Wahre Politik bleibt für den Augenblick stets unsichtbar. Selbst im Rückblick der Geschichte ist sie nur ein Schemen. Zu sehen ist immer nur ein Zerrbild. Exakt das Zerrbild, das beide vom Autor erwähnten Darstellungen eben auch sind und sein wollen. Es ist auch unproblematisch für das Volk diese Propaganda zu konsumieren. Stets gibt es korrigierende Faktoren, die man der Einfachheit halber „Realität“ nennen kann.
Problematisch wird es immer dann, wenn Großmächtige diesem in ihrem Auftrag erzeugten Zerrbild ihrer selbst selbst Glauben schenken, wenn Großmächtige (oder solche, die sich dafür halten) weder Demut noch rationale Selbstreflektion kennen, wenn die Realität die Großmächtigen nicht mehr erreicht. Dann endet es immer in einer Katastrophe.
Der unaufhaltsame Lauf dieser Katastrophe beginnt stets mit dem Tod des Narren. Nicht der Weise ist wichtig, nein, der Narr ist der wichtigste Diener am Hofe des Königs. Ohne den Narren werden Könige verrückt und reißen alle und alles mit sich in den Strudel.
Es sind viele Narren getötet worden. Es fehlen nun die Narren überall.
Liebe Redaktion – Wolin, nicht Wollin. Und der Ausschnitt hält nicht, was der Teaser verspricht. Kommt da demnächst noch was?
Nein. Der Autor ist 2015 gestorben.
Das Problem dieses Elitentotalitarismus ist allerdings, dass seine Macht eben nicht auf die Masse des Fussvolks gegründet ist, so wie es bei den Nazis der Fall war, sondern nur auf Medienmanipulation. Das funktioniert sicher ganz gut, solange der kleine Mann die Unwahrheiten nicht bemerkt.
Aber wenn dem ukrainischen Soldaten im Schützengraben, dem erzählt wurde, der Russe flüchtet, sobald er einen Leopard Panzer sieht, er hat bald keine Granaten, Panzer, Bomben etc. pp. mehr, er hat nur noch Klappspaten, merkt, dass er unablässig beschossen wird, während seine Artillerie nur homöopathisch antwortet, dann weiß er, was es mit dem „Triumph des Willens“ auf sich hat. Nichts!
Da mögen die westlichen Zeitungskommentatoren und die Politiker noch so oft die Niederlage der Russen beschwören und schreiben, man könne es doch Putin „nicht erlauben zu gewinnen“. Wenn der Nachschub für die Ukraine ausbleibt, weicht die Ukraine zurück, erleidet Verluste und verliert. Da mögen die westlichen Propagandisten noch so sehr dagegen anschreiben, die Realität ist und bleibt eine andere.
Der „umgekehrte (Eliten)Totalitarismus“ muss also wieder ein ganz gewöhnlicher, alt hergebrachter Massentotalitarismus werden. Daran führt kein Weg vorbei.
Das wird schon noch. Die Adenauer-Ranzstaat ist inzwischen wieder genauso braun in seinen Anfangsjahren.
Vlt. noch eine Beschreibung von dem, was da sonst noch drinsteht:
Die Zerstörung des Politischen II: Kritik am Kapitalismus
Die Einsicht, dass liberale kapitalistische Demokratien mit der zivilisatorischen Leitidee von Demokratie nicht in Einklang zu bringen sind, begleitet die liberale kapitalistische Demokratie bereits seit ihren Anfängen.
Demokratie und Kapitalismus als Gesellschaftsform sind fundamental miteinander unverträglich, weil sie auf geradezu entgegengesetzten Funktionsprinzipien beruhen. Die Demokratie beruht auf dem Gleichheitsprinzip bei der Vergesellschaftung von Macht. Der Kapitalismus hingegen beruht in seinen Funktionsprinzipien gerade auf der Ungleichheit des Eigentums an Produktionsmitteln. Die kapitalistische Eigentumsordnung verpflichtet alle, die über kein eigenes Kapital verfügen, für fremdes Eigentum zu arbeiten, und überführt damit Arbeit in Lohnarbeit. Der Kapitalismus verlangt also eine Unterwerfung unter die Machtverhältnisse, in denen eine Minderheit von Besitzenden Macht über eine Mehrheit von Nichtbesitzenden ausübt. Insofern ist die Bezeichnung »kapitalistische Demokratie« bereits ein Widerspruch in sich. Diesem Einwand hat man in der politischen Ideengeschichte des vergangenen Jahrhunderts dadurch Rechnung zu tragen versucht, dass man schleichend die Bedeutung des Begriffs der Demokratie verschoben hat und de facto unter
»kapitalistischer Demokratie« eine durch Wahlen legitimierte Form der Elitenherrschaft meint. Kapitalistische Demokratien werden daher auch als »Elitendemokratien« bezeichnet – auch dies ist schon begrifflich ein Widerspruch sich.
(…)
Die von Wolin aufgezeigten Strukturähnlichkeiten zwischen kapitalistischen Demokratien und beispielsweise dem Faschismus betstehen darin, dass in kapitalistischen Demokratien totalitäre Ziele und totalisierende Entwicklungen auf Wegen verfolgt werden, die sich gleichsam als Umkehrung der Methoden und Wege des traditionellen Totalitarismus verstehen lassen und auf modernen Methoden des Demokratiemanagements beruhen. Faschismus als prototypisches Beispiel des klassischen Totalitarismus und der tendenziell »umgekehrte Totalitarismus« gegenwärtiger kapitalistischer Demokratien verfolgen strukturell ähnliche Ziele, nämlich eine entgrenzte und totalisierende Macht. Dazu sind sie auf eine ideologische Homogenisierung der Bevölkerung angewiesen und damit auf ein Verschwinden des Politischen.
(Sheldon S. Wolin, Umgekehrter Totalitarismus-Faktische Machtverhältnisse und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf unsere Demokratie, Mit einer Einführung von Rainer Mausfeld, S. 25/30)
Heutzutage auch als „Unsere Demokratie“ bezeichnet. Die Betonung liegt auf „unsere“, eben nicht euere oder besser aller.