Das große Umdenken

 

Maryland GovPics, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons

Im Prinzip sind die Vereinigten Staaten der Ukraine verpflichtet. Sie können es sich nur nicht leisten, in einen Krieg zu ziehen – um keinen Aufstand zu provozieren.

Im Mai hat US-Präsident Joe Biden den »Ukraine Democracy Defense Lend-Lease-Akt« gezeichnet, Militärhilfe für die Ukraine. Mit Lend-Lease hatte Amerika schon die Alliierten im Zweiten Weltkrieg vor dem eigenen Kriegseintritt unterstützt. 50 Milliarden Dollar hatte der U.S. Kongress damals auf Wunsch von Franklin D. Roosevelt zur Verfügung gestellt, gestreckt auf mehrere Jahre, was heute ungefähr das Zwanzigfache darstellt. Die Sowjetunion bekam elf Milliarden, den größten Brocken erhielt Großbritannien mit 31,4 Milliarden Dollar (den Rest teilten sich zwei dutzend andere Alliierte), nicht nur in Cash, auch in der Form von Kriegsschiffen, Panzern oder Hubschraubern, die von amerikanischen Rüstungsfirmen produziert wurden. Ohne die Lend-Lease aus den USA, räumte Stalin ein, hätte die Sowjetunion den Zweiten Weltkrieg nicht gewinnen können.

Organisiert wurde Lend-Lease von Harry Hopkins, Roosevelts Verbindungsmann zu Stalin, der Uncle Joe sehr nahestand und dessen oberstes Ziel es war, eine Verständigung zwischen Stalin und Hitler zu verhindern. Lend-Lease war für Roosevelt zunächst ein Kompromiss, denn viele Amerikaner wollten nach dem Ersten Weltkrieg, der mehr als hunderttausend Soldatenleben gekostet hatte und in eine Depression mündete, keine Truppen schicken. Erst nach Pearl Harbor änderte sich das dramatisch.

Die USA als Weltpolizist, ist so wie die Polizei von Uvalde

Ähnlich sieht das auch heute in Amerika eine Mehrheit. Der Ukraine helfen, ja – aber Truppen gen Moskau schicken, nein danke. Für die spricht Robert Menendez, Demokrat und Senator von New Jersey. Die USA wollten auf keinen Fall, dass Russland in  NATO-Mitgliedsstaaten wie Polen oder Litauen einmarschiere, sagte er in der Sonntagsmorgen-Sendung Meet the Press. »Russland vorher zu stoppen ist wichtig für uns und für die Welt, damit wir unsere Söhne und Töchter nicht in den Krieg schicken müssen. Und die Fähigkeit, unsere Söhne und Töchter nicht in den Krieg zu schicken, ist jeden Preis wert.«

Geld und Waffen haben die USA genug – Biden hat 40 Milliarden Dollar versprochen, und das wird nicht das letzte Wort sein -, aber nach dem Desaster im Irak und Afghanistan ist die amerikanische Bereitschaft, die eigenen Soldaten zu opfern, sehr, sehr gering. Biden hat den Abzug aus Afghanistan ziemlich dilettantisch organisiert, aber nicht einmal die Republikaner schlachten das aus. Hauptsache, wir sind da raus. Wir können immer noch Drohnen schicken. In der Ukraine, so denken viele in Amerika, sollen mal die Soldaten anderer Länder kämpfen. Die USA als Weltpolizist, das ist inzwischen so wie die Polizei von Uvalde, Texas während der Schießerei in der Schule: Mit schicken Uniformen als SWAT-Team für die Kameras posieren, gerne, aber einen Mörder mit Maschinengewehr konfrontieren, lieber nicht, da könnte man was abkriegen.

Nach der anfänglichen Euphorie, dem Fahnenaufhängen, den blau-gelben Cupcakes, den blau-gelben Profilringen auf Facebook und Berichten aus der Ukraine 24/7 auf CNN hat in Amerika Verdruss eingesetzt, zumal die USA gerade genug eigene Probleme haben – Stichwort: Uvalde, Texas. Der Krieg in der Ukraine, urteilte die New York Times kürzlich in einem Leitartikel, werde kompliziert und Amerika sei dafür nicht bereit.

Sicherheitsgarantien seit 1994

Erst im März hatte die New York Times noch dazu aufgerufen, ewig durchzuhalten; Amerika müsse sich an die Spitze seiner NATO-Alliierten im Widerstand gegen Putin stellen. Jetzt aber, nach zwei Monaten Ewigkeit, sollte Biden lieber erst einmal nachdenken, was Amerika eigentlich wolle: Putin beseitigen? Putin schwächen? Vor Gericht stellen? Einen Kompromiss verhandeln? Jedenfalls, Friede und Sicherheit in Europa dürften nicht gefährdet werden, zumal ein vollständiger ukrainischer Sieg ohnehin unrealistisch sei, so die Times. Biden müsse dem ukrainischen Präsidenten Selenski klar machen, dass ein realistisches Limit an Waffen, Geld und politischer Unterstützung existiere, was von den USA zu erwarten sei.

Die Times trifft damit durchaus einen Nerv: Über-Realpolitiker Henry Kissinger erklärte in Davos, die Ukraine solle Territorium an Russland abgeben, um den Krieg zu beenden, und selbst die reagantreue Heritage Foundation ist nach anfänglicher Begeisterung nun dagegen, die Ukraine gegen das frühere Reich des Bösen zu unterstützen.

Aber so einfach ist das nicht. Im Budapester Abkommen vom Dezember 1994 hat die Ukraine alle Atomwaffen auf ihrem Boden an Russland abgetreten. Das war Anliegen, das dem damaligen US-Vizepräsidenten Al Gore am Herzen lag. Gore sorgte sich, dass nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Atombomben an »Rogue States« vertickt würden (nicht zu Unrecht). Nicht nur flog Gore mit einer US-Delegation nach Kiew, um die Details auszuhämmern; als die Ukraine Bedenken bekam, flog auch auch Bill Clinton hinterher und bedrängte den damaligen Präsidenten Leonid Krachuv: Wenn der das Abkommen nicht unterschriebe, würde das die Beziehungen zwischen den USA und der Ukraine schwer beschädigen. Im Gegenzug hat nicht nur Russland der Ukraine Sicherheitsgarantien, »security assurances« versprochen, sondern auch die USA und Großbritannien und, in etwas abgeschwächterer Form, Frankreich und China.

Holt jemand für die USA die Kohlen aus dem Feuer?

Damals hatten amerikanische Anwälte lange an den Formulierungen gefeilt, denn der U.S-Kongress hätte einer harten Verpflichtung, im Zweifel militärisch einzugreifen, nicht zugestimmt. Nun aber steht die russische Armee in der Ukraine und die Debatte ist wieder aufgeflammt. Das Budapester Abkommen — schreibt die Washington Post — ist recht undurchsichtig; es verpflichtet die USA nur, sich an den Sicherheitsrat der UN zu wenden und den um Hilfe zu bitten. Und da ist Russland ständiges Mitglied.

Clintons Verteidigungsminister Warren Christopher, damals von der New York Times befragt, ob die USA nun die Ukraine unter ihren nuklearen Schutzschirm nehmen würde oder nicht, meinte: »The security guarantees do relate to that subject and provide assurance in that connection.« Um es mit Radio Eriwan zu sagen: Im Prinzip ja, aber andererseits …

Wer aber ganz gewiss keine Verpflichtung eingegangen ist, das sind die NATO, die EU und ganz besonders Deutschland. Gleichviel sitzen die USA nun mit einer Vereinbarung da, die sie nicht erfüllen können, weil sonst das Fußvolk im eigenen Land einen Aufstand veranstalten würde – die sie aber auch nicht brechen dürfen, denn sonst würde sich nie wieder ein Land darauf einlassen, Atomwaffen gegen Garantien aufzugeben, sei es Pakistan, Nordkorea oder Iran. Deswegen wäre es für Amerika als Weltordnungsmacht ausgesprochen hilfreich, wenn ihnen irgendwer die Kohlen aus dem Feuer holte.

Deutschland soll seinen unmoralischen Pazifismus endlich aufgeben

Aus diesem Grund tingeln nun amerikanische Ostlandreiter durch die deutschen Feuilletons, allen voran Timothy Snyder, Geschichtsprofessor in Yale und Mitglied beim Council on Foreign Relations, und fordern die Deutschen auf, nicht so viel Angst vor diesen imaginären russischen Atombomben zu haben. Da kann doch gar nichts schiefgehen! Man könnte meinen, in Amerika sehnt man sich nach der Wehrmacht zurück.

Auch das Wall Street Journal belobigte Deutschland, dass es — unter amerikanischen Druck und trotz moralischer Bedenken, die aus dem Zweiten Weltkrieg herrührten — endlich Waffen sende. Noch mehr trommeln die Briten; es vergeht kaum eine Woche, ohne dass britische Medien Deutschland drängeln, ihren blöden, unmoralischen Pazifismus endlich aufzugeben. Vielleicht könnte Großbritannien an Deutschland erst mal etwas an Lend-Lease zahlen. Solidarität ist ja bekanntermaßen keine Einbahnstraße.

Mit Harry Hopkins nahm es übrigens kein gutes Ende: Nach dem Krieg wurde er vor den Ausschuss für unamerikanischen Umtriebe geladen, weil er verdächtigt wurde, ein sowjetischer Einflussagent zu sein. Bevor er sich verteidigen konnte, starb an Krebs. Nicht nur für Ukrainer, auch für Amerikaner kann es anders laufen, als man denkt.

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3 Kommentare

  1. Hier noch ein Lektürehinweis aus der Monthly Review vom 1.5.22
    über das Netzwerk dessen Teil Council on Foreign Relations ist:
    https://monthlyreview.org/2022/05/01/giving-war-a-chance/
    Angesichts der gewaltigen finanziellen und militärischen Mittel und entsprechend der ihnen innewohnenden zerstörerischen Kräfte, die diese politischen Zirkel entfalten können, muten die Antlantikerfans der Bundesregierung fast schon kindlich an. Ich bezweifle, die begreifen wirklich worauf sie sich da einlassen, langfristig. Und die Rundfunkanstalten und Zeitungsredaktionen haben entweder keinen blassen Schimmer oder sind selber Mitglieder der europäischen Pendants. „Die Anstalt“ hatte doch mal dazu (Polit-Journalisten & think tanks) eine Sendung vor vielen Jahren…wie auch immer. Inkompetenz big time.

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