Mut statt Hoffnung

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Demokratie und Frieden bedarf einer permanenten Revolte.

Ein Mann wälzt einen Felsbrocken einen Berg hinauf. Kaum oben angekommen, rollt der Fels zurück. Er schleppt den Brocken erneut nach oben und wieder geht es nach unten. Alles beginnt von vorne. Es ist die Strafe der Götter, die Sisyphos diese Arbeit auferlegt haben, die nicht enden soll. Ein bekanntes Motiv der griechischen Mythologie, was wir heute noch benutzen, um eine Sisyphusarbeit zu kennzeichnen. Von da ist es nicht weit zum Bild des Hamsterrades, in dem sich unsere Abläufe wiederholen und wir zunehmend ermüden. Keine Kraft, keine Motivation, der tägliche Frustration gegenüber der Politik, konstruktiv zu begegnen. Das klingt nach Mühsal, nach Hoffnungslosigkeit. Doch Albert Camus schrieb: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ (Camus 2000: 160) Das wiederum klingt absurd. Genau mit dem absurden Leben beschäftigt sich Camus. Wenn wir es uns wirklich bewusst machen, ist nicht vieles, was wir erleben absurd? Vor allem in der Politik? Wir gehen davon ausgehen, dass wir vernunftbegabte Wesen sind – haben uns gleich zweimal den Namen „weise“ / „klug“ (sapiens) an den Menschen (Homo) angehangen.  Wissen, Fortschritt, Technologien wurden zu unseren neuen Göttern. Wenn schon nicht der Mensch als an sich der Nabel der Welt sein sollte, dann doch sein Verstand. Dumm und vom Instinkt geleitet, sind nur alle anderen Spezies. Natürlich gibt es auch ungebildete, fehlgeleitete Menschen, aber insgesamt ist der menschliche Fortschritt unaufhaltsam, setzt sich die Vernunft durch. Was für eine absurde Überheblichkeit.[1]

Der kluge weise Mensch

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Gerade, wenn man den Eindruck bekommen könnte, wir lernen aus den Fehlern, denken globaler, lösen Konflikte möglichst nicht mehr kriegerisch, werden wir erneut eines Besseren belehrt. Die friedliche Welt gab es nie und die Zivilisation ist ein schmaler Firnis. Auch Länder, Regionen, die lange in Frieden leben, können sehr schnell in eine Kriegsbereitschaft und stramme Militarisierung zurückfallen. Auch die Länder, von denen Weltkriege ausgingen. Astronomische Mittel, die ansonsten in allen Bereichen fehlen, stehen auf einmal unter dem Beifall einer ganz großen Koalition zur Verfügung. Positionen, Differenzierungen werden gerade auch von denen, die sonst vehement die demokratischen Grundrechte einfordern, unterdrückt und diffamiert. Inbegriffen eine mediale Unterstützung der meisten Kanäle und Blätter. Die Demokratie wird dabei gedehnt und demontiert. Ist selbst die marktkonforme Postdemokratie[2] bald schon wieder Geschichte? Eine demokratische Debatte, eine Gegenüberstellung von Argumenten und Fakten findet nicht statt. Es ist eine einseitige Schlacht, vor allem um unsere Emotionen. Ängste werden geschürt, naive Hoffnungen geweckt und damit die absurdesten Aussagen und Ausgaben und damit einhergehenden Einsparungen gerechtfertigt.

Noch vor zwei Jahren wäre der Verkünder von Militärausgaben von 5% des BIP, ein Fall für den Psychiater oder Satiriker gewesen. 5% hören sich doch vertretbar an. Und genau deshalb benutzt man diese Vergleichsgröße, obwohl sie völlig untauglich ist. Nimmt man das BIP von 2024, hätten sich die Rüstungsausgaben in dem Jahr auf über 215 Milliarden summiert, was wiederum fast die Hälfte aller Ausgaben des Gesamthaushaltes ausgemacht hätte. Jetzt mal zum Vergleich: Mit dem BIP als Referenzgröße haben wir im Bund 2024 etwa 0,4% des BIP für Gesundheit und 0,05% für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ausgegeben. Alle anderen Ausgaben wirken so lächerlich gering und sie müssen teilweise drastisch runtergefahren werden. Besonders absurd ist es, dass in dieser prekären finanziellen Situation, die großen Vermögen nicht nur weiter schon, sie sogar noch weiter entlastet. Mit Vernunft, mit Maß und Mitte, hat dies alles gar nichts zu tun. Willkommen im Verteilungskampf, der alle Rekorde sprengen wird. Genau deshalb wird so viel von mehr und länger arbeiten geredet. Heute gilt die Forderung von 200, 250 Milliarden für das Militär dennoch als angemessen, als überfällig. Alles wird möglich.

Noch im Bundestagswahlkampf 2021 plakatierte eine einstige Friedenspartei Slogans für Frieden und gegen Waffenlieferungen. Kurze Zeit später hieß der Slogan dann Free Leopard“. Sie feierten – teilweise sogar im Leopardenlook – die Lieferung von Waffen und Leopard Panzern ins Kriegsgebiet. Gegen diese Symbolik gab es vom Bundestagspräsidium übrigens keine Einwände. Dazu Standing Ovations fast des ganzen Bundestages, als ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro allein für die Rüstung beschlossen wurde. Solch eine Einmütigkeit habe ich in 19 Jahren die Bundestagsabgeordneter war, nicht erlebt. Es geht hier nicht darum, dass man zu dieser oder jener Position kommen kann. Aber es muss die Frage gestellt werden: Mit welchem moralischen Anspruch wird Krieg und der Einsatz von Waffen zelebriert? Kriegsbereit, hieß immer auch kriegswillig. Genau solche Entscheidungen müssen wohlüberlegt und diskutiert werden und sie dürften niemals gefeiert werden.

Angst essen Seele auf

Nicht nur die Wahrheit, auch die Vernunft ist ein schnelles Opfer bereits der Kriegsvorbereitung. Die „moralischen“ Begründungen fanden und finden sich für eine Militarisierung und für Krieg immer auf allen Seiten. Doch auf dem Elefanten, der im Raum steht, prangt mit großen Buchstaben vor allem ein Wort: MACHT. Und die Währung, in der wir in unserer Welt Macht messen, ist Geld. Bei einer Beurteilung, sollte immer die Frage nach den Profiteuren und den Opfern gestellt werden. Damit genau dies nicht gefragt wird und man von innenpolitischen Problemen ablenken kann, setzt man ganz gezielt auf dieses Schlachtfeld, setzt man ganz bewusst Emotionen ein. Vor allem eine: Die Angst. Rainer Mausfeld beschreibt den Zusammenhang von Macht und Angst sehr präzise: „Durch eine systematische Erzeugung geeigneter Ängste lassen sich Denken und Handeln sehr viel wirksamer steuern als mit traditionellen Techniken eines Meinungsmanagements. Da Angst in der menschlichen Evolutionsgeschichte ein Wirkfaktor ist, dem bei der Regulierung sozialer Beziehungen und bei der Errichtung sozialer Ordnungen eine wichtige Rolle zukommt, lässt sich genau diese Funktion auch manipulativ zur Sicherung von Herrschaft nutzen.“ (Mausfeld 2019: 11)

Die einzigen Stimmen und Positionen, die überhaupt mal in der Öffentlichkeit und in der Politik wahrgenommen werden, sind diejenigen, die nicht mit Entwicklung, mit Zahlen, oder abgewogenen Differenzierungen argumentieren, sondern ebenfalls vor allem emotionale und persönliche Töne in den Vordergrund stellen. Ein Satz wie „Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde“ (Nymoen 2025) erzeugt viel Empörung und Gegenreaktionen. Debatten um die Sinnhaftigkeit des immensen Einsatzes von Milliarden und den Folgen, um die wirkliche Wahrscheinlichkeit, dass wir morgen eine Besatzungsmacht an den Grenzen stehen haben oder gar welche anderen Maßnahmen als Waffengewalt es denn noch geben sollte, treffen dagegen vor allem auf Ignoranz. Und wenn es Reaktionen gibt, dann sind es vor allem Diffamierungen. Wieder wird das Mittel Angst – diesmal zur Abschreckung – ins Spiel gebracht. Jeder, der sich gegen Aufrüstung, gegen Waffenlieferungen stellt oder auch nur eine wirkliche Debatte einfordert, wird zum „Putinvasallen“, also zur Inkarnation des Bösen. Dabei spielt es keine Rolle, inwieweit die harschesten Diffamierungen teilweise von denen kommen, die noch vor kurzer Zeit die größten Befürworter der deutschen guten Beziehungen zu Putin waren, die unsere Abhängigkeit vom russischem Gas und Uran vorangetrieben haben. Die Angst vor Diffamierung funktioniert, selbst gestandene Außenpolitiker und Sicherheitsexperten halten lieber still und wenn sie es nicht tun, bereuen sie es schnell. Für die andere Seite gibt es die naive Hoffnung, dass man sich Sicherheit erkaufen kann, Deutschland auch endlich militärisch wieder stark ist, was über die wirtschaftliche und soziale Schwäche hinwegtäuschen kann.

Es war ein langer Prozess, sich international auf das Völkerrecht, ratifiziert in der UN-Charta, zu einigen. In der entscheidenden Passage steht: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“ Dass gerade auch US-Regierungen, dieses Recht immer wieder gebrochen haben, ist kein Geheimnis. Zur Wahrheit gehört auch, dass die Europäer Völkerrechtsverletzungen oft hingenommen oder sogar unterstützt haben. Aber es hat schon eine neue Dimension, wie (auch von deutscher Seite) an einer Stelle der Bruch des Völkerrechts zu Waffen- und Milliardenunterstützung führt und an anderen Stellen der Aggressor unterstützt wird. Besonders fällt dabei die einseitige Berichterstattung, Kommentierung und das Ausbleiben eines Korrektivs auf. Die Doppelmoral, wo und vom Völkerrecht gebrochen werden darf und wer dies nicht darf, wird zum Prinzip erhoben. Ähnlich der moralischen Position, wem wir Waffen liefern. Ausgerechnet die letzte Regierung hielt es moralisch für legitim, auch Saudi-Arabien erneut mit Waffen zu beliefern. Ein Land, was sich nicht nur im Krieg befindet, sondern eine der Diktaturen ist, die bei allen Indizes zu Freiheits- und Menschenrechten, auf die wir uns sonst gern beziehen, ganz unten rangiert.

Gerade beim Völkerrecht ist der universelle Anspruch so wichtig, egal ob die Länder, ihre Politik, ihre Machthaber uns gefallen. Jeder muss sich auch in einer Demokratie an das Recht halten und darf keine Gewalt anwenden und mit der Rechtfertigung durchkommen, dass es einen bösen Menschen getroffen hätte. Das wäre das Ende der Rechtsstaatlichkeit. Es gibt ausgehandelte Grenzen bei der Auslebung von Emotionen. Dennoch schürt man sie. Natürlich werden Kampfeinsätze und Militarisierung allerdings in bewusster Berechnung in Gang gesetzt. Wenn wir bei der Debattenführung oder Unterbindung der Debatte in Extreme fallen, sollten wir uns nicht wundern, wenn Menschen das Vertrauen in die Politiker verlieren. Viele wenden sich ab und immer mehr  verfallen dann emotionsgeleitet selbst in Extreme. Nicht nur der Rest einer Debattenkultur löst sich auf, extreme Entscheidungen und Verzerrungen werden in allen Bereichen zur Norm, ein Überbietungswettbewerb entsteht. Die Ängste auf allen Seiten dominieren uns. Rainer Werner Fassbinder nannte einen Film „Angst essen Seele auf“, dessen Titel nicht von ungefähr, zu einem bekannten Sprichwort wurde.

Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens

Es ist legitim und demokratisch, auch beim Thema Verteidigung und Außenpolitik zu unterschiedlichen Ergebnissen zu kommen. Und das geht auch nicht ohne Emotionen. Aber keiner darf an der Frage vorbeikommen, was ist denn die Ausgangslage und warum wurde sie über so lange Zeit erarbeitet? Gerade hier fällt auf, wie viele in dem komplexen und sensiblen Thema sich als Experten darstellen, wie fest sie so schnell überzeugt sind, dass ihre Position die einzig richtige ist. Es kann amüsant sein, dass bei der Fußball-WM 40 Millionen Bundestrainer am Fernseher es natürlich besser wissen – es wird bei der Frage Geostrategie, Krieg und Frieden aber sehr gefährlich. Und die meisten Politiker und Journalisten haben von dem Thema weniger Ahnung als der durchschnittliche Fan von einer einfachen Sportart. Die große Mehrheit, hat sich vor den jüngsten Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten doch lange überhaupt nicht um Außen-und Sicherheitspolitische Fragen gekümmert. Sie kennen die Vorgeschichte nicht, sie haben keinen Blick auf die anderen Brennpunkte, kennen die Beziehungsgeflechte nicht. Als unsere Freiheit angeblich noch am Hindukusch verteidigt wurde, wussten die meisten Abgeordneten nicht, in welche Auslandseinsätze wir die Bundeswehr schicken, wie sie ablaufen, welche Gefährdungen für die Soldaten, aber auch für die Menschen vor Ort damit verbunden sind. Es wurde von Freiheit, von Menschenrechten, von unterdrückten Frauen geredet. Als dann die Truppen und auch die Bundeswehr aus Afghanistan abzogen, waren uns die verletzten Menschen- und Frauenrechte egal und die Freiheit musste wohl woanders verteidigt werden. Die Frauen und Männer, die unsere zivilen Gruppen und die Bundeswehr unterstützt haben, haben wir dann ohne mit der Wimper zu zucken der Wut der Taliban überlassen. Die Taliban, die wir doch eigentlich bekämpft haben und die wir übrigens ganz aktuell und offiziell in Berlin empfangen, um mit ihnen auszuhandeln, wie wir Afghanen abschieben können, die doch noch entkommen sind. Das ist schon eine sehr hohe Stufe der Doppelmoral, die auch noch offensiv vertreten wird.

Wir könnten dies bei vielen anderen Themen durchdeklinieren. Hunderte Milliarden für das Militär aufwenden zu können, aber unsere Zukunft nur gesichert zu sehen, wenn wir länger arbeiten und später in Rente gehen, ist an Absurdität nicht zu überbieten. Wenige Euro mehr Bürgergeld zum Untergang des Abendlandes zu erklären, während sich der Bundestag in nur zwei Jahren drei Diätenerhöhungen von insgesamt zusätzlichen 1.700 Euro genehmigt, kann niemandem sachlich erklärt werden. Also müssen wieder Emotionen ran. Man wiegelt diejenigen auf, die viel arbeiten und wenig verdienen und spricht davon, wie ungerecht das gegenüber denen ist, die keine Arbeit haben oder nicht arbeiten können. Diese emotionale Taktik funktioniert immer wieder. Sachlichkeit hat dann keine Chance. Der Hinweis darauf, dass gerade 2024, ohne Wirtschaftswachstum, das private Vermögen um rekordhafte 1350 Milliarden angewachsen ist und davon nur sehr wenige eh schon sehr reiche Menschen profitieren, die das zusätzliche Vermögen zum größten Teil nicht investieren, gelangt nicht mal an die Öffentlichkeit.

Vernunft und Wissen sind nicht die Leitmotive unseres politischen Handelns! Es ist eigentlich auch kein Geheimnis, dass Macht und Profit (also Geld) die viel stärkeren Antriebskräfte sind und unsere Emotionen (natürlich gehört die Gier dazu) und Gefühle – bewusst und gezielt geschürt oder unbewusst mitschwingen. Dennoch setzt ein Teil immer wieder allein auf Fakten, Zahlen und sachlichen Argumente und fragt sich immer verzweifelter, warum diese ignoriert werden. Vor allem das politisch linke Lager bis in die Mitte hinein hat so lange das Mantra vor sich hergetragen: Bildung und Aufklärung führen zumindest langfristig dazu, dass in einer Demokratie fortschrittliche Positionen nicht aufzuhalten sind. Anders formuliert, dass (soziale) Ungerechtigkeit und Unterdrückung dann ein Ende haben werden, wenn nur genug Menschen mit vernünftigen Argumenten davon überzeugt  würden. Vor bald 90 Jahren hat Walter Benjamin genau dies bereits kritisiert. Es gibt keine lineare Entwicklung zum Guten hin und wir unterliegen einem falschen Fortschrittsglauben. „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der ‚Ausnahmezustand‘, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht.“(Benjamin 1974: 697) Unvernünftige Handlungen, Täuschungen, Unterdrückungen sind menschlich. Ohne ein wirksames Korrektiv setzen sich auch üble Mechanismen und Taten immer wieder durch. Es ist völlig naiv, darauf zu vertrauen, dass die guten Eigenschaften – die im Menschen genauso angelegt sind – dauerhaft oder langfristig siegen werden. Dem hätte sich wohl auch der

italienische Sozialrevolutionär Antonio Gramsci angeschlossen, der deshalb von einem Kulturkampf sprach, der geführt werden müsse. Er wies auf den Irrtum vor allem der Intellektuellen hin, der im Glaube bestehe, sich Wissen anzueignen, ohne es zu verstehen, zu fühlen und sich dafür zu begeistern. Es reicht nicht, den Verstand zu bemühen, an ihn zu appellieren, es muss mit Emotionen, mit dem Gefühl verbunden, unterfüttert werden. Das müssen wir beherzigen und gerade, wenn wir ein realistisches Menschenbild haben, müssen wir laut Gramsci auf den „Pessimismus des Verstandes und Optimismus des Willens“ (Gefängnishefte, Heft 28, Gramsci 1993: 1117) setzen.

Dies bedeutet nicht, dass das Bauchgefühl, die Emotionen der Gegenspieler der Vernunft sein muss. Beides gehört zu uns, prägt uns. Ohne zu tief in eine psychologische Betrachtung abzugleiten, aber der größte Teil unserer Handlungen findet unterbewusst statt und wird deshalb eh von Routine, Gewohnheiten und Emotionen geprägt. Anders könnten wir unseren Alltag nicht bewältigen. Schalten wir unser Bewusstsein ein, dann muss ein daraus resultierendes Verhalten noch lange nicht vernunftgeprägt sein. Und wo fängt Vernunft überhaupt an? Ich bin vom freien Willen überzeugt, aber ihn durchzusetzen ist ein permanenter Kraftakt. Wir sind alle geprägt von unseren Erfahrungen und auch, wenn wir etwas für vernünftig halten, verhalten wir uns nicht so. Es kommt bestenfalls zu einem Zusammenspiel von Vernunft, Emotionen und Erfahrungen. Deshalb ist es häufiger auch einfacher zu wissen, was man nicht will, als zu wissen, was man will. Wie das Zusammenwirken am Ende genau zustande kommt, was den Menschen letztendlich ausmacht, ist komplexer als wir es wissenschaftlich aufdröseln können. Etwas mehr Demut und ein „Glaube nicht alles, was du häufig hörst und auch nicht was du denkst“, könnte hilfreich sein.

Die permanente Revolte

Also kapitulieren wir vor der Unvernunft, der Absurdität, den negativen Emotionen? Rettet uns der nächste Befreier, die nächste Wahl dann doch? Lassen wir alle Hoffnung fahren? Für Albert Camus ist das Erkennen und die Akzeptanz des Absurden der Ausgangspunkt zur Wende: „Der Überdruss steht am Ende der Handlungen eines mechanischen Lebens, gleichzeitig leitet er aber auch eine Bewusstseinsregung ein.“[3] Das Bewusstsein wird „erweckt“ und leitet ein „Erwachen“ und die „nächsten Schritte“ ein, so Camus weiter. Der Mensch erkennt, dass er meistens in der Höhle lebt, nur die Schatten sieht, er aber erwachen und handeln kann. Ist es aber nicht einfacher, nicht zu viel zu erkennen, nachzudenken und weiter zu hoffen? Vielleicht kurzfristig, aber nur die Erkenntnis über die Welt, das Wesen des Menschen und auch des Absurden kann von der Verzweiflung zur Befreiung und zur Versöhnung führen. Camus nennt es Eigensinn, was nichts mit dem zu tun hat, was wir unter eigen- oder starrsinnig verstehen. Laut Camus enthüllt sich so das wirkliche Antlitz der dinglichen Welt, alle Dinge verlieren „den trügerischen Sinn, in den wir sie hüllten[4] – es kommt zu einer Aufhebung aller vermeintlichen Wahrheiten, die in die Welt hineininterpretiert werden. Ersetzen wir den trügerischen Sinn der Hoffnung auf das Gute, was sich durchsetzt, auf die Errettung irgendeiner Macht (die nicht kommen wird), endlich durch das Kollektiv und das Korrektiv. Das Korrektiv beginnt bei uns selbst. Angst ist nicht nur ein schlechter Ratgeber, es ist die Hauptwaffe, die gegen die Vernunft eingesetzt wird. Ihr müssen gute Emotionen entgegengebracht werden, solidarische und erhebende Gefühle, die unterzugehen drohen. Die Gewalten, die Macht muss so weit wie es geht, geteilt werden. Vor allem die Mächtigen müssen stetig kontrolliert werden. Macht ohne Kontrolle, ohne ein Korrektiv, wird meistens missbraucht. Auch in einer Demokratie. Das ist menschlich, vielleicht sogar der Regelzustand, von dem Walter Benjamin sprach.

Akzeptieren wir zunächst, dass der Fels im Zweifel immer wieder runterrollt, dann befreien wir uns von den Fesseln. Versöhnen wir uns mit dem Zustand, der unsere Realität ist. Camus ergänzt, dass wir uns dem Absurden „weder durch die Hoffnung noch durch den Selbstmord noch durch die Einwilligungentziehen sollen. Das sind genau die drei Mechanismen, Ausweichmöglichkeiten, mit der wir vor der Realität fliehen, ihr begegnen. Den Selbstmord würde ich allgemeiner auch mit Aufgabe und Rückzug verstehen. Camus setzt der Hoffnung, dem Rückzug und der Einwilligung die Revolte entgegen. Ein Mensch, der nein sagt, sich auflehnt, gegen seine eigene absurde Existenz und darüber gegen die Abgründe in der Welt. Ein Mensch mit einem freien Willen, der eine Grenze zieht, aber dann auch „ja“ sagen kann und dessen Revolte des Einzelnen in einen solidarischen Akt „kollektiver Natur“, einem „Abenteuer aller“ mündet. Von der Akzeptanz und der Bewusstseinsweckung zur Befreiung, zur Revolte. Eine Bewusstseinskultur, einhergehend mit der Befreiung aus den Dogmen und Denkmustern, hin zu einer Demokratie in stetiger Auseinandersetzung. Wobei die Revolte das Korrektiv darstellt. Alle müssen nein sagen dürfen, wo es ihnen zu weit geht und jedes Nein, jedes Ja erfährt eine Resonanz, wird bewertet und findet im Kollektiv seine Berücksichtigung.

Demokratie am Leben zu erhalten – vor allem sie zu beleben, bedeutet eine permanente Revolte. Es bedeutet ein Nein, hier nicht weiter, bis hin zum zivilen friedlichen Widerstand, dort wo Demokratie und unsere Lebensgrundlagen demontiert werden. Ein Nein zum Profit weniger, der über das Wohl vieler gestellt wird. Ein Nein, dass Geld Einfluss und politische Macht kaufen kann. Ein Nein zu Krieg als Mittel der Auseinandersetzung. Es bedeutet aber auch das Ja zum Frieden, zum Überleben, zum guten Leben auch der zukünftigen Generationen. Ein Ja, sich seinen Gefühlen und den Emotionen der anderen zu stellen. Ein Ja zur Begeisterung und Neugier, zur Schönheit, Genuss und Freude. Ein Ja, was nie zur Selbstverständlichkeit wird und man sich immer neu erkämpfen muss. Es beginnt damit, sich seines Verstandes und tiefen Gefühls zu bedienen, gegen die Bewusstlosigkeit zu revoltieren. Es gehört zusammen.

Es ist mutig, sich seinen Ängsten und Gefühlen zu stellen. Es bedeutet Mut, daraus auch Handlung entstehen zu lassen, die über eine Stimmabgabe oder die einseitige Schuldzuweisung hinausgeht. Das ist eine permanente Aufgabe, ein Fels, den wir immer wieder bewegen müssen. Die Demokratie und die Freiheit müssen verteidigt werden, aber da muss man doch längst im eigenen Land mit beginnen. Eine Friedenserzählung kann eine friedlichere und solidarische Welt bewirken. Aber sie muss von Mut beseelt sein, ein Kulturkampf mit positiven Emotionen, die ein Lebensgefühl wecken. „Make Love not War“ zeigt uns da einige Anlagen auf. „Und schon kann die Revolte in der Tat, ohne zu behaupten, alles lösen zu können, wenigstens die Stirn bieten. Von dem Augenblick an erglänzt das Mittagslicht auf der Bewegung der Geschichte selbst.“ (Camus 1997: 343)

 

Fußnoten

[1] Zu Beginn und Ende des Textes habe ich Anleihen aus meinem Buch genommen: Bülow, Marco (2025): Korrumpiert. Wie ich fast Lobbyist wurde und jetzt die Demokratie retten will. Frankfurt am Main: Westend.

[2] Vor über 20 Jahren prägte vor allem Colin Crouch den Begriff „Postdemokratie“ (Crouch 2008). Grundthese ist, dass es eine Erosion tatsächlicher Beteiligung der Bevölkerung gibt, zugunsten der Interessen einiger weniger (finanzstarker) Lobbys“. Demokratie existiert noch als Fassade und Wahlen verkommen zu Showkämpfen, neue Regierungen führen kaum zu Veränderungen. Die Demokratie und die Gewaltenteilung wird demontiert und den Marktdynamiken angepasst.

[3] Camus, Albert: Der Mythos des Sisyphos, Hamburg 1999, S. 23

[4] Ebd.

Marco Bülow

Marco Bülow ist freier Publizist, Politiker, Podcaster. Von 2002 bis 2021 war er direkt gewähltes Mitglied des Deutschen Bundestages. Bülow war unter anderem umwelt- und energiepolitischer Sprecher der SPD-Fraktion. Seine Schwerpunkte sind soziale Gerechtigkeit, Lobbyismus, Demokratie, Umwelt und Klima. Er hat tiefe Einblicke in den politischen Betrieb und die Parlamentsarbeit erhalten – war an Koalitionsverhandlungen, Spitzengesprächen und Ministeriumsgesprächen beteiligt. 2019 trat er aus der SPD aus. Er galt als transparenter unbequemer Abgeordneter und ist wohl die lauteste Stimme gegen den Profitlobbyismus (ZDF). Sein Motto ist: Die Bevölkerung ist die Chefin, nicht die Fraktionsspitze oder die Regierung. Er hat den Politik-Kodex entwickelt und 2021 das Buch „Lobbyland“ herausgegeben. Daraus entstand die gleichnamige Initiative www.lobbyland.de und der Podcast, den er alle 14 Tage herausgibt.
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3 Kommentare

  1. Wenn wir die nicht alle beseitigen, werden wir alle sterben!
    Wir führen Kriege für den Frieden
    Wir bevorzugen Lügen vor der Wahrheit
    Und eine Bande von Mördern beschließt Regeln und Gesetze.
    Die organisierte Kriminalität der besitzenden Klasse ist verrechtlicht worden.

    Die, die friedliche Revolutionen verhindern, machen blutige Revolutionen unvermeidlich
    John.F. Kennedy.
    “Human beings, who are almost unique in having the ability to learn from the experience of others, are also remarkable for their apparent disinclination to do so.”
    — Douglas Adams

    The illusion of freedom will continue as long as it’s profitable to continue the illusion. At the point where the illusion becomes too expensive to maintain, they will just take down the scenery, they will pull back the curtains, they will move the tables and chairs out of the way and you will see the brick wall at the back of the theater.

    Frank Zappa

    Wer lange genug gewartet hat, wird eines Tages für im­mer warten. Und dann wird nichts mehr geschehen und niemand wird mehr kommen. Alles wird zu Ende sein. Außer dem Warten, das sich selbst als vergeblich weiß.
    »Warten ist noch eine Beschäftigung. Auf nichts warten ist schrecklich.

    Zum Schluss etwas von Schiller:Wir müssen uns nach einer Klasse von Menschen umsehen, welche, ohne zu arbeiten, tätig ist und idealisieren kann, ohne zu schwärmen, welche alle Realitäten des Lebens mit den wenigst-möglichen Schranken desselben in sich vereinigt und vom Strom der Begebenheiten getragen wird, ohne der Raub desselben zu werden. Nur eine solche Klasse kann das schöne Ganze menschlicher Natur, welches durch jede Arbeit augenblicklich und durch ein arbeitendes Leben anhaltend zerstört wird, aufbewahren und in allem, was rein menschlich ist, durch ihre Gefühle dem allgemeinen Urteil Gesetze geben

    P.S. Camus sagte im Übrigen auch:“ Das Absurde hat nur insofern einen Sinn, als man sich nicht mit ihm abfindet.“

  2. solange die Politiker sich zur Demokratie bekennen ist doch alles in Butter und man braucht sich nicht kümmern. dass so pauschal jeder was Anderes darunter versteht macht alles leichter um sich zurueckzulehnen. schliesslich hat schon Churchill gesagt, Demokratie ist die blabla… . kein Wunder, er stand ja an der Spitze. als König hätte er die Monarchie gelobt.

  3. Es ist nur noch verrückt.
    Der Firedensplan von Merz und Co wurde abgemeiert.
    Trumps 28-Punkteplan ist Schall und Rauch
    Jetzt soll erstmal der neue 19-Punke Friedensplan von Trump und Selenskij gelten.
    Man darf gespannt sein wieviele Freidenspläne es noch geben wird.

    Russland muss sich vollkommen veräppelt vorkommen

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