Heißer Sommer für japanische Anti-Atom-Bewegung

Hiroshima, Friedensdenkmal
Jakub Hałun, CC BY 4.0, via Wikimedia Commons

Japan liegt unter dem atomaren US-Schutzschirm. Dies macht sie als Friedensnation unglaubwürdig. Die japanische Friedensbewegung will dies ändern.

„Diesen Sommer wollen wir mit unserer Bewegung gegen Atomwaffen einen Schritt vorankommen!“ Yoshiko Kira gibt sich im Gespräch kämpferisch. Sie ist seit zwölf Jahren japanische Oberhausabgeordnete der Kommunistischen Partei Japans (KPJ), die ein wichtiger Player im Anti-Atom-Protest ist. „Die Japaner stehen mehrheitlich auf unserer Seite“, meint Kira. „Doch unsere konservative Regierung hält an ihrer Philosophie der atomaren Abschreckung fest und beharrt auf dem illusorischen Standpunkt, der US-Atomschirm würde Japan schützen.“ Für Kira sind die Themen „Friede“ und „Abschaffung von Atomwaffen“ Ausgangspunkte ihrer politischen Karriere. Ihre Eltern waren Lehrer, die die Friedenserziehung ins Zentrum ihrer Tätigkeit stellten. In diesem Umfeld sei sie aufgewachsen, erzählt Kira. Als Kind habe sie Bilderbücher über Hiroshima und Nagasaki gelesen.

Der Zeitpunkt für eine Intensivierung der Anti-Atom-Aktivitäten ist günstig. Vergangenen Oktober wurde der Friedensnobelpreis an die von Überlebenden der Atombombenabwürfe gegründete Friedensorganisation Nihon Hidankyo verliehen. Dies hat der Bewegung einen mächtigen moralischen Schub gegeben. Außerdem jährt sich die Atombombenkatastrophe kommenden August zum achtzigsten Mal und bietet Gelegenheit zu Erinnerung und Trauer. Doch die Regierung als Repräsentantin Japans steht nicht wirklich hinter diesen wichtigen Marksteinen der Geschichte.

Tabubrüche in der von Frieden bestimmten japanischen Gesellschaft

Dies musste auch Kira bei einem Besuch in New York erleben, wo sie Anfang März an der dritten Staatenkonferenz des Atomwaffenverbotsvertrags (deutsche Abkürzung AVV) teilnahm. Diese internationale Vereinbarung, die unter anderem Entwicklung und Produktion von Kernwaffen verbietet, haben (Stand: erster Oktober 2024) bereits 94 Staaten unterzeichnet. Große Abwesende in New York war wieder einmal – die japanische Regierung, die selbst als Beobachterin nicht dabei sein wollte. Die Reaktionen der Anwesenden reichten von Ernüchterung bis Enttäuschung. Japan als Atombombenopfer genießt in der internationalen Anti-Atom-Bewegung einen besonderern Ruf. In einer Pressekonferenz gab der japanische Außenminister Takeshi Iwaya an, eine Teilnahme wäre eine „falsche Botschaft gegenüber der Politik der atomaren Abschreckung“.

Trotzdem gab es einen Lichtblick: die japanische Delegation in New York umfasste diesmal sieben Parlamentarier. Mit einem Vertreter der Komeito war auch eine Regierungspartei dabei. Ein Großteil dieser Delegierten nahm danach die Gelegenheit wahr, um im parlamentarischen Haushaltsausschuss – dem wohl wichtigsten Diskussionsforum der japanischen Politik – das Thema Atomwaffen zur Sprache zu bringen und Premierminister Shigeru Ishiba auf die Verlogenheit seiner Strategie aufmerksam zu machen. Diese schließt die Möglichkeit eines Atomschlags und damit eines Atomkriegs mit einer erneuten nuklearen Verwüstung Japans nicht aus. Kira bezeichnete diese Auseinandersetzungen als einen neuen Meilenstein im politischen Atomwaffenprotest. Ziel sei es nun, die japanische Regierung zur Unterzeichnung des AVV zu bewegen und dem US-Atomschirm abzusagen.

Obwohl das Momentum zurzeit auf der Seite der japanischen Protestbewegung liegt, haben es die Atomwaffenbefürworter in den letzten Jahren geschafft, einige Tabus in der von Frieden bestimmten japanischen Gesellschaft zu brechen. Das härter gewordene geopolitische Umfeld hat auch hier Spuren hinterlassen. Es ist unproblematischer geworden, in der Öffentlichkeit über Atomwaffen zu sprechen. Noch vor zehn, fünfzehn Jahren fielen japanische Politiker in Ungnade, wenn sie eine atomare Bewaffnung nur schon in Erwägung zogen oder sich unangemessen über die Atomkatastrophe äußerten. 2007 etwa musste der damalige Verteidigungsminister Fumio Kyuma den Hut nehmen, weil er angedeutet hatte, die nukleare Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki sei unvermeidbar gewesen. Doch in den letzten Jahren forderten verschiedene Exponenten der regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP) eine Diskussion über nukleare Teilhabe, Einfuhr von Atomwaffen oder die Entscheidungsprozesse innerhalb des nuklearen US-Schutzschirms, ohne von der Öffentlichkeit belangt zu werden.

45 Tonnen kernwaffenfähiges Plutonium

Auch Akira Kawasaki registriert einen Stimmungswechsel. Er ist Koleiter der NGO „Peace Boat“, die sich dem Kampf für Frieden und Menschenrechte verschrieben hat. Ihr Aushängeschild sind Schiffsreisen mit Bildungsmöglichkeiten und humanitärer Hilfe. Peace Boat sitzt außerdem im Lenkungsausschuss der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (englische Abkürzung ICAN), wo Kawasaki als Vorsitzender fungiert. ICAN war maßgeblich am Zustandekommen des AVV beteiligt und erhielt dafür 2017 den Friedensnobelpreis. Kawasaki geht im Gespräch als erstes auf den Wahlkampf um den LDP-Chefposten vergangenen September ein. Darin habe die Debatte über nukleare Teilhabe für Aufsehen und Besorgnis gesorgt. Aufgefallen sei etwa der spätere Sieger Ishiba mit einem Aufruf zu einer breiten Diskussion zum Thema.

Ist Japan also auf dem Weg, seine drei Prinzipien der Nichtaneignung, Nichtproduktion und Nichteinfuhr von nuklearen Waffen, die es sich durch Parlamentsbeschluss 1971 zugelegt hatte, über Bord zu werfen? Kawasaki gibt Entwarnung: Die entsprechenden politischen Diskussionen seien wenig ausgereift, ein Konsens zwischen den Befürwortern existiere nicht. Ihre Statements tut Kawasaki als Populismus ab, der etwa nach nordkoreanischen Raketentests hochschwappe. Die Volksmeinung, die Atomwaffen stigmatisiert, dient immer noch als entscheidende Barriere. Dies musste auch Ishiba erfahren, der nach der Machtergreifung seine großspurigen Projekte – etwa den Aufbau einer asiatischen NATO – auf Eis legte. Und während in Europas Hauptstädten nach US-Präsident Donald Trumps Eklat im Gespräch mit dem ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj Ende Februar in Washington Diskussionen über einen nuklearen Schutzschirm unter Frankreichs Führung aufkamen, herrscht in Tokio Stille.

Experten weisen darauf hin, dass vor allem der Besitz von Atomwaffen für Japan kaum Vorteile bringt: der Inselstaat würde sich in einem solchen Fall in der internationalen Gemeinschaft isolieren und müsste aus dem Atomwaffensperrvertrag aussteigen. Dies würde ihn von Uranimporten abschneiden – seine Atomkraftwerke wären nicht mehr funktionsfähig. Auch sinke mit fortschreitender Waffentechnik die Bedeutung der nuklearen Teilhabe stetig, meint Kawasaki weiter. Die USA können heute ihre atomaren Sprengköpfe auf asiatische Gegner von Hawaii oder Guam abschießen oder auf U-Booten stationieren, ohne sie im Rahmen der nuklearen Teilhabe in Japan bunkern zu müssen.

Das Einzige, was der Inselstaat nicht aufgeben will, sind die sich in seinem Besitz befindenden rund 45 Tonnen kernwaffenfähiges Plutonium, was ihn zu einer „latenten“ Atommacht macht. 1988 erhielt er die Erlaubnis, verbrauchte Kernbrennstoffe aus AKWs wiederaufzubereiten, wodurch Plutonium gewonnen wird. Dieses Entgegenkommen der USA wird in Tokio hochgeschätzt und als diplomatischer Trumpf verwendet. Daran wollte selbst die frühere größte Oppositionspartei, die Demokratische Partei Japans, die 2009 für drei Jahre an die Macht kam, nicht rütteln. Nach der Fukushima-Katastrophe 2011 verhängte sie einen AKW-Stopp, hatte jedoch nichts dagegen, dass das Plutoniumlager bestehen blieb. In Südkorea, das dieses Privileg nicht genießt, sei die Empörung darüber immer noch zu spüren, meint Kawasaki.

Friedensnation?

„Japan verharrt auf einem schmalen Grat zwischen zwei entgegengesetzten Denksystemen“, fasst die Oberhausabgeordnete Kira die offizielle japanische Position zu Atomwaffen zusammen. Auf der einen Seite definiere der Friedensartikel 9 der Verfassung den Inselstaat als Friedensnation, die durch ihre drei Antinuklearprinzipien einer atomaren Aufrüstung absage. Auf der anderen Seite jedoch schwöre die Regierung auf die nukleare Abschreckung, indem sie unter dem US-Atomschirm verharre. Japan da hervorzuholen, wird für die Anti-Atom-Bewegung schwierig werden.

Der von den USA ausgehende Glaube an die Effizienz der atomaren Abschreckung ist in Japan vielerorts Konsens – so etwa in großen Teilen der Politik und der diplomatischen und akademischen Kreise. Doch Kawasaki glaubt nicht, dass dies zum Vorteil Japans gereicht. Er stellt dieser Auffassung den Kerngedanken der japanischen Friedensverfassung entgegen, die militärische Gewalt verbietet und Japan darauf verpflichtet, in friedlicher Zusammenarbeit ein Vertrauensverhältnis mit anderen Staaten aufzubauen. Dadurch wäre es auch möglich, die angeschlagene Beziehung zu China zu verbessern. Dass sich diese Denkrichtung nicht noch stärker durchgesetzt habe, führt Kawasaki auf das partielle Versagen der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Friedenserziehung zurück.

Kopfzerbrechen bereitet der japanischen Friedensbewegung auch die Einstellung der Offiziellen in Tokio, die die USA unter keinen Umständen vor den Kopf stoßen wollen. Dazu würde auch eine offizielle japanische Teilnahme am AVV zählen, ist Kawasaki überzeugt. Die japanische Politik fürchte sich vor einem außenpolitischen Alleingang. Deshalb werde man auch den Nationalismus Trumps mit seinen Demütigungen und Rundumschägen schlucken. Trotz dieser widrigen Gemengenlage will Kira jedoch an ihrem Endziel festhalten: „Japan muss dem AVV beitreten. Und die Abschaffung aller Atomwaffen muss unbedingt gelingen. Nur so entkommen wir der Gefahr einer totalen Vernichtung unserer Lebensgrundlage.“

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4 Kommentare

  1. Ich finde der Amerikanische Präsident sollte auch mal den japanischen „Präsidenten“ mal sein Liebelingslied vorsingen lassen.

    https://youtu.be/9IF_vRz9IPE?t=21

    Nur um mal klar zu stellen wo der Frosch die Locken hat liebe Friedenskämpfer. Versteht ihr? Die nehmen uns nicht mal wahr, und mittlerweile meine ich auch zu erahnen das diese „Elite“ nicht mal von unserer Existenz weiß.

    1. die Eliten wissen schon das wir existieren, aber sie betrachten uns als das überflüssige lästige Humanmaterial…
      begleitet mit „euere Armut kotzt mich an“

  2. Suche nach einer C-kritischen, gerne auch „linken“ (was immer das heutzutage heißen mag) Publikation mit hohem Niveau – ähnlich also wie Overton – die jedoch verstärkt über politische, kulturelle und wissenschaftliche Themen vor Ort (Deutschland) berichtet. Trump, Japan und der Kreml sind mir mittlerweile einfach zu abstrakt. Man kann doch gar nicht wissen, ob die Informationen überhaupt stimmen und wie relevant diese sind für das eigene Leben. Abstrakte Themen werden damit zu einer Art geistigen Abkürzung oder, schlimmer noch, zu reinem Infotainment.

    Leider würde sich kaum jemand für eine solche Publikation interessieren, oder? Ernstgemeinte Frage: Gäbe es überhaupt ein größeres Publikum für eine „linke“ Publikation, die unaufgeregt, auf hohem sprachlichen Niveau, über konkrete Dinge in örtlicher Nähe berichtet?

    (Oder jetten alle wie wild um die Welt, nur ich nicht?)

    1. „Gäbe es überhaupt ein größeres Publikum für eine „linke“ Publikation, die unaufgeregt, auf hohem sprachlichen Niveau, über konkrete Dinge in örtlicher Nähe berichtet?“

      Natürlich gebe es in irgend einer Form Interesse. Diese MSM Grütze kann man doch heute kaum noch ertragen, ich weis ja nicht wie es Ihnen geht aber ich krieg wirklich körperliche Schmerzen wenn eine Slomka da um 20:00 Uhr voll Ihre Lügenmärchen über den Äther krächzt.

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