Die Instrumentalisierung Gorbatschows

Michail Gorbatschow sitzt neben Erich Honecker.
Bundesarchiv, Bild 183-1986-0421-010 / Mittelstädt, Rainer / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE, via Wikimedia Commons

Tote können sich nicht wehren. Olaf Scholz versucht »Gorbi« für seine Kampagne gegen Russland zu instrumentalisieren.

Geschichtsvergessenheit ist Trumpf in Deutschland. Kaum ist Michail Gorbatschow gestorben, versucht der deutsche Kanzler den Verstorbenen als Kronzeugen gegen Putin zu instrumentalisieren. Zwar gehörte Gorbatschow zu den Finanziers der oppositionellen Novaja Gaseta. Aber das geschah nicht aus fanatischer Liebe zum westlichen Gesellschaftsmodell, sondern war eher der Überlegung geschuldet, dass jede gesunde Gesellschaft eine Opposition braucht.

Putin gegenüber hat sich Gorbatschow immer loyal verhalten. Insbesondere die russische Außenpolitik seit dem Jahre 2000 fand die Unterstützung von Gorbatschow.

Gorbatschow kritisierte die Hegemonialpolitik der USA, bloß nahmen die deutschen Medien konsequent keine Notiz davon. Im November 2001 erklärte der ehemalige sowjetische Generalsekretär in einem Interview, welches ich mit ihm führte, »der Kalte Krieg wurde beendet. Es gab viel Gerede von einer Neuen Weltordnung, aber nichts davon ist umgesetzt worden. Kaum war die Sowjetunion zerbrochen, begannen geopolitische Spiele. Eine Chance verstrich.« Die Globalisierung »spiele nur auf ein Tor«, nütze nur den entwickelten Staaten. »Viele unterentwickelte Länder sprechen von einem neuen Kolonialismus. Die Politiker der westlichen Länder haben sich eben wie Kapitalisten verhalten. Sie sahen eine Möglichkeit, sich zu bereichern, und sagten nur Gib her! Und auch wir Russen haben bekommen, was wir bekommen sollten …«

»Bevölkerung der Krim fast einmütig für die Vereinigung mit Russland«

2014, als sich die Krim mit Russland vereinigte, erklärte Gorbatschow gegenüber der Komsomolskaja Prawda, »ich unterstütze das, weil sich die Bevölkerung der Krim fast einmütig dafür ausgesprochen hat.« Gegenüber der BBC erklärte Gorbatschow im gleichen Jahr, bei der Auflösung der Sowjetunion hätte man »über das Schicksal der Krim sprechen müssen, wo seit Jahrhunderten Russen leben.« In der gesamten Ukraine lebten 14 Millionen Russen. »Das muss man berücksichtigen.«

Im März 2021 erklärte der ehemalige Generalsekretär in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Ria Nowosti, die Welt befände sich heute in einer »sehr schwierigen Situation«. Gorbatschow erinnerte in dem Interview an die Gefahr eines Atomkrieges und er hob hervor, dass er 1985 gemeinsam mit US-Präsident Reagan erste Schritte zur atomaren Abrüstung eingeleitet habe.

Frau und Mutter waren Ukrainerinnen

Man kann davon ausgehen, dass der Krieg in der Ukraine Gorbatschow stark belastet hat. Zum einen, weil der ehemalige Generalsekretär wohl spürte, dass die USA in der Ukraine wieder mal versuchen, Einflusssphären zu verschieben, zum anderen weil die Mutter von Gorbatschow und seine Frau Raissa Ukrainerinnen waren.

Deutsche Medien und Politiker zitieren Gorbatschow immer nur dann, wenn es dem Gefühl »wir Deutschen haben alles richtig gemacht«, nützt. Alle Äußerungen von Gorbatschow, die sich nicht in diesem Sinne nutzen lassen, lässt man einfach unter den Tisch fallen. Dass man nach Tod von Gorbatschow nun noch einen Zahn zulegt, ist nur schwer zu ertragen.

Wer trägt die Verantwortung für das Scheitern der Demokratie in Russland?

Am Mittwoch erklärte Olaf Scholz, »wir wissen, dass er in einer Zeit gestorben ist, in der nicht nur die Demokratie in Russland gescheitert ist, anders kann man die gegenwärtige Lage dort nicht beschreiben, sondern auch Russland und der russische Präsident Putin neue Gräben in Europa zieht und einen furchtbaren Krieg gegen ein Nachbarland, die Ukraine, begonnen hat. Gerade deshalb denken wir an Michail Gorbatschow und wissen, welche Bedeutung er für die Entwicklung Europas und auch unseres Landes in den letzten Jahren hatte.«

An dieser Stelle muss man fragen, was hat denn der Westen getan, damit sich in Russland nach 1991 eine Demokratie etabliert? War es nicht so, dass der Westen die Demokratie in Russland verraten hat, als westliche Politiker und große Medien im Oktober 1993 nichts dagegen einzuwenden hatten, als der Nachfolger von Gorbatschow, der russische Präsident Boris Jelzin mit Panzern auf das gewählte russische Parlament schießen ließ und den russischen Vizepräsidenten Aleksandr Ruzkoi sowie Parlamentssprecher Ruslan Chasbulatow als »Aufständische« verhaften ließ?

Machtzentralisierung begann schon unter Boris Jelzin

Und warum hatte in Berlin und Washington Niemand etwas dagegen einzuwenden, dass Boris Jelzin im Dezember 1993 eine neue russische Verfassung verabschieden ließ, die den Umbau Russlands zu einer Präsidialdemokratie vorsah, in welcher das Parlament kaum Rechte hatte, während die Präsidialadministration zum alles steuernden Machtzentrum wurde? Die Machtkonzentration in einem Zentrum begann nicht mit dem Machtantritt von Wladimir Putin im Jahre 2000, sondern bereits 1993.

Und ist es nicht unglaubwürdig, wenn der Westen Boris Jelzin als Demokraten huldigt, obwohl Jelzin im Dezember 1994 zur Niederschlagung der tschetschenischen Unabhängigkeitsbewegung russische Truppen in Tschetschenien einmarschieren ließ, anstatt zunächst alles dafür zu tun, um mit den Tschetschenen eine friedliche Regelung über einen Verbleib im russischen Staatsverband zu finden?

Wiedervereinigung ohne Gegenleistung

Gorbatschow wird in Deutschland verehrt, weil er die deutsche Wiedervereinigung ermöglichte. Die Russen mit denen ich spreche verstehen das. Sie kränkt aber, dass von deutschen Politikern zwei zentrale Fragen ausgeblendet werden. Immer wieder höre ich:

1) »Warum haben wir 1994 ohne jegliche Gegenleistung in Form von Sicherheitsgarantien die sowjetischen Truppen aus Ostdeutschland abgezogen?«

2) »Tragen Gorbatschow und Jelzin nicht beide Schuld dafür, dass durch die Perestroika und die nachfolgende Schocktherapie unter Ministerpräsident Jegor Gajdar Millionen Menschen nicht nur in Russland, sondern in allen ehemaligen Sowjetrepubliken in Armut gestürzt wurden?«

Ich habe seit 1992 ganz Russland bereist, vom Kaukasus bis nach Salechard im Norden, von Kaliningrad bis zur Insel Sachalin im russischen Fernen Osten. Von allen Russen mit denen ich über Gorbatschow sprach, konnten ihm nur gefühlte fünf Prozent etwas Positives abgewinnen. Und von diesen fünf Prozent waren auch noch viele aus Moskau und St. Petersburg.

Dass die Russen in ihrer Mehrheit kein Interesse an einer Demokratie westlichen Zuschnitts haben, liegt daran, dass die vom Westen unterstützten russischen Regierungen in den 1990er Jahren, eine Politik auf dem Rücken des Volkes machten. Wichtiger als eine minimale Absicherung für die Rentner, den Schutz von Kindern und alleinerziehenden Frauen vor Armut waren für die russischen Politiker die Interessen der »neuen Russen«, den Gewinnlern der Übergangszeit, die sich oft auf illegalem Wege das Staatseigentum aneigneten.

Trostpflaster von westlichen Stiftungen

Um die Folgen des brutalen Übergangs in die Marktwirtschaft abzufedern, haben westliche Stiftungen einige nützliche Sozialprojekte in Russland finanziert. Doch das war nicht mehr als ein Trostpflaster für eine insgesamt verheerende Entwicklung in welcher der Staat seine ureigenste Aufgabe – die Schwachen zu schützen – aufgab. Aus einem Staat der während der 73 Jahre seines Bestehens das Lebensniveau der Arbeitenden massiv angehoben hat, wurde ein Staat, der amerikanischen Ökonomen nacheiferte, die schon in Lateinamerika asoziale Schocktherapien durchgezogen hatten.

Ich stimme mit den Russen überein, die sagen, ein politischer und wirtschaftlicher Wandel in Russland war in den 1980er Jahren überfällig. Aber ich stimme nicht mit denen überein, die sagen, Gorbatschow sei unverschuldet gescheitert. Noch sind die Akten nicht zugänglich, die darüber Auskunft geben, über welche Entwicklungsmodelle in den 1980er Jahren in der sowjetischen Führung debattiert wurde.

Russland, bzw. die Sowjetunion, die international wegen ihrem hohen Bildungsstand, ihrer guten Gesundheitsversorgung und wissenschaftlichen Leistungen geachtet wurde, fiel Ende er 1980er Jahre auf das Niveau einer Bananenrepublik zurück. Im Westen bettelte die Sowjetunion um Kredite.

Die Bevölkerung war nur noch formal an der Gestaltung der Gesellschaft beteiligt war. Eigene gesellschaftliche Aktivität war nur erwünscht, solange sie von der Partei initiiert wurden. Die Kommunistische Partei verlor an Glaubwürdigkeit und Unterstützung.

Gruppeninteressen gewannen die Oberhand

Treibende soziale Kraft der Perestroika waren gut ausgebildete Russen, junge Komsomol-Sekretäre, »Republiksfürsten« und Fabrikdirektoren, die eher das wirtschaftliche Fortkommen der eigenen sozialen Schicht im Blick hatten, als die Weiterentwicklung der gesamten Gesellschaft.

Gorbatschow war gut ausgebildet. Er und seine Berater müssen gewusst – zumindest geahnt – haben, welche Prozesse sie mit der Perestroika anstoßen. Warum sind sie dieses Risiko eingegangen? Vermutlich war es einfach Naivität.

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20 Kommentare

  1. Der Herr Heyden besticht wieder durch seine Sachlichkeit, Kompetenz und wissen der Örtlichkeit, weil er mehrfach vor Ort war und in Russland lebte.
    Die Einschätzung zu den Wirkungen der Politik von Gorbatschow, wie sie der Autor in den drei letzten Themenbereichen formuliert, hat der Forist Mengel gestern ähnlich hier im Forum unter dem Artikel „Kaninchen vor der Schlange“ (1) getroffen. Leider hat die fehlende Weitsicht von M.Gorbatschow zu der heutigen verfahrenen Situation in der Ukraine, in Europa und Russland stark beigetragen. Dieser Einschätzung von Herrn Heyden, Mengel schließe ich mich im großen und ganzen an.

    Gorbatschow Meinung teile ich im Bezug auf die Selbstbestimmung und -verwirklichung der Krim. Sicherlich würde er dies auch den Bürgern/ Gebieten mit russischer Sprachethnie der Ukraine zugestehen, welche sich auf Grund der Kiewer Gesetze und Verordnungen ausgegrenzt, unterdrückt und drangsaliert fühlen und deshalb einen Beitritt zu Russland mehrheitlich wünschen. Diese typischen russischen Gebiete (2) wurden der Ukraine erst im 20.Jahrhundert von der sowjetischen Führung der Teilrepublik der Urkraine zugeteilt worden.

    „Boris Jelzin im Dezember 1993 eine neue russische Verfassung – Umbau Russlands zu einer Präsidialdemokratie vorsah, in welcher das Parlament kaum Rechte hatte“
    Dies geschah doch auf Zuarbeit der Berater aus der USA. Diese Herschaftsform war doch von Seiten Wasingthon so gewünscht, um einfacher aus der USA heraus gegen die russischen Interessen durchregieren (3) zu können.
    Wer die Geschichte von Russland der 1990er Jahre nicht vollständig kennt, sollte diesen Artikel (von oskarwagenrecht) lesen!!

    https://arrangement-group.de/die-wahre-geschichte-ueber-den-untergang-der-sowjetunion-und-den-aufstieg-von-putin-ab-1999/

    Kurz Inhalt:
    Was die CIA und Jelzin in den 1990er Jahren in Russland verursacht haben. Was man da erfährt, ist unglaublich. Das es in den 1990er Jahren in Russland wild zu gegangen sein, soll hat sich auch bis zu mir rum gesprochen. Aber das war nicht wild, das war hoch kriminell. Das die CIA direkt Gesetze geschrieben hat, dass die Rohstoffe in Russland nicht mehr für Russland verfügbar waren, dass RF immer weiter und immer mehr in eine IWF-Schuldenfalle geführt und damit absolut abhängig sein sollte, war mir in dem Ausmaß nicht bekannt.

    Es gibt aber noch mehr Beiträge (4, 5) die zum Verständnis der Folgen der Politik der Perestroika geführt haben. Und welch hoher Aufwand betrieben werden musste, dass es W. Putin und seinen politischen Stab wieder gelungen ist, sich von der Vorherrschaft von der USA zu befreien, den Wohlstand und die lebenserwartung der normalen Russen wieder erheblich anzuheben und wieder zu einem internationalen Faktor zu werden.

    Der „Russische Hacker“ beschrieb (6) sehr gut, wie sich die Lebenssituation vom Stand Ende der Jelzin/ USA Ähra über die von W.Putin geführte Zeit verbessert hat.
    20 Jahre Putin, die Tatsachen:

    BIP nominal
    1999: 209,6 Mrd. $
    2019: 1702,5 Mrd. $

    BIP kaufkraftbereinigt
    1999: 620 Mrd. $
    2019: 4213 Mrd. $

    Gold- und Währungsreserven
    1999: 12,6 Mrd. $
    2019: 504 Mrd. $

    Staatsverschuldung
    1999: 78% BIP
    2019: 14,2% BIP

    Inflation
    1999: 36,5%
    2019: 4,2%

    Durchschnittsgehalt
    1999: 1.523 Rubel / 56 $
    2019: 45.100 Rubel / 702 $

    Durchschnittsrente
    1999: 499 Rubel / 18 $
    2019: 14116 Rubel / 220 $

    Arbeitslosigkeit
    1999: 13%
    2021: 4,7%

    Anzahl unter Armutsgrenze
    1999: 41,6 Mln.
    2021: 20,9 Mln.

    Durchschn. Lebenserwartung
    1999: 66 Jahre
    2019: 73 Jahre

    Geburtenrate
    1999: 1,16 Kinder pro Frau
    2019: 1,75 Kinder pro Frau

    Aber es war ja nicht nur die innerpolitische Schwäche sondern auch die außenpolitische Machtlosigkeit die die Russische Förderation in den 1990er Jahren zu einer Provinzrepublik machte. Die Russen unter Jelzin wurden in Juguslawien von der USA, der NATO und der EU am Nasenring durch die Manege geführt. Die deutsche Politik angeführt von der SPD und den Grünen verloren ihre friedliche Unschuld, wie deutlich der Film „Deutschlands Weg in den Kosovo-Krieg – Es begann mit einer Lüge (WDR)“ (7) zeigt.

    Dazu passt dann noch der folgende Beitrag (8) von Luck sagt:
    28. August 2022 um 11:56 Uhr

    Die Bombardierung von Serbien hat ja auch eine dreckige und lügnerische Vorgeschichte, auf die ich selbst erst heuer in der Osterwoche gestoßen bin.
    Eine eindeutig separatistische und gewaltaffine UCK, welche Sicherheitsbehörden im serbischen Kosovo angreift und staatstreue Kosovaren einschüchtern oder hinrichten, wird von den USA und Teilen des Westens hofiert und unterstützt.
    So was nennt man eigentlich Staats-Terrorismus.
    Dabei gibt eine wichtige US-amerikanische Funktionsperson den Serben das Recht, sich dagegen zu wehren.
    Dieses Wehren wird dann als versuchter Genozid interpretiert und damit die völkerrechtswidrige Intervention 1999 gerechtfertigt.
    Wer sich noch daran erinnern sollte, welche Zusagen ein Saddam Hussein in Bezug auf eine militärische Intervention in Kuwait 1990 von einem US-amerikanischen Botschafter erhalten hatte, dürfte über die Parallele erstaunt sein.

    Die Quellen folgen im nächsten Kommentar.

  2. Hallo Herr Heyden, schön das sie hier einen Artikel veröffentlichen dürfen und ein dankeschön für die gern gelesenen Zeilen.
    Bleibens gsund und Aktiv
    MfG PRO1

  3. Was Gorbatschow mit zwei Worten beschrieb hat Jean-Claude Juncker in einem Satz so ausgedrückt:
    „Wir probieren etwas aus – und wenn kein Widerspruch kommt, machen wir einfach weiter“
    Am Ende der Gorbatschow Ära war Russland ein chaotischer Staat ohne Struktur, dann kam Jelzin und warf das Land den Profithaien zum Fraß vor, nun versucht Putin die Scherben zusammen zu fegen, um aus der sich inzwischen entstandenen Oligarchie wieder einen funktionierenden Staat zu machen.

  4. Gorbatschow wurde am 11. März 1985 Generalsekretär der KPdSU.
    Im Jahre 1988 wurde er Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets und damit Staatsoberhaupt.
    Am 14. März 1990 wurde Gorbatschow auf einem Sonderkongress der Volksdeputierten der UdSSR mit 59,2 % der Stimmen zum Staatspräsidenten der UdSSR gewählt.
    Im August 1991unternahmen orthodoxe kommunistische Politiker, zusammen mit einem Teil des Militärs und angeführt vom Staatskomitee für den Ausnahmezustand, einen Putschversuch in Moskau, em damals neugewählten Präsidenten der Russischen SFSR, Boris Jelzin, gelang es, die Putschisten auszuschalten und die Staatsgewalt zu übernehmen.
    Am 8. Dezember 1991 vereinbarten die Sowjetrepubliken Russland, Ukraine und Weißrussland einen Putsch gegen die (noch existierende) Sowjetunion.
    Am 25. Dezember 1991 erklärte Gorbatschow (freiwillig) seinen Rücktritt als Präsident der Sowjetunion.
    Gorbatschow war also fast 7 Jahre höchster Repräsentant der Sowjetunion.
    Herr Ulrich Heyden, ich begrüße sehr Ihren Beitrag zum Tode Gorbatschows. Unerklärlich bleiben mir 2 Dinge: Erstens, wieso beziehen Sie sich auf die Instrumentalisierung eines Herrn, der hier im Forum auch schon einmal als „Panzerkanzler“ betitelt wurde. Und zweitens schließen Sie mit dem Satz „Vermutlich war es einfach Naivität.“.
    Ohne diese beiden Dinge kann man Ihren Beitrag akzeptieren.

    1. „im postfaktischen Zeitalter offenbar“ lässt es Schlüsse zu, die VT’s intensivieren, der tiefe Staat.
      Was die Kommunisten in Russland angeht, hatte Herr Putin sie mal darauf hingewiesen, das ‚ER‘ sehr wohl sich um seine Russen kümmere…

  5. 1987 habe ich die Rede Gorbatschows und sein Schlusswort auf dem Plenum des ZK der KPdSU gelesen. Die Texte waren und sind zugänglich. So wichtig und nötig eine kritische Sicht auf Fehlentwicklungen war: Seine Ausführungen zur Rolle der Nationalitäten haben mich wegen ihrer Naivität entsetzt. Erst Recht seine Zustimmung zur Wiedervereinigung 3 Jahre später. Gab es wirklich niemanden in seinem Umfeld, der ihn vor der aggressiven imperialistischen Politik gewarnt hätte, die nach der Ära Brandt/Schmidt unter massiver Einflussnahme der republikanischen Präsidenten Ronald Reagan und George Bush wieder um sich gegriffen hatte? Es waren nicht erst die einstürzenden Twin Towers, die den Kampf gegen den Terrorismus als Rechtfertigung für Angriffe der USA in diversen Weltgegenden ermöglichten. Die beständige Rede Reagans von den beiden Reichen des Guten und des Bösen war für friedliebende Menschen in ganz Europa ein sehr ernst zu nehmender Hinweis auf das Wiedererstehen des Kalten Krieges aus der Zeit vor 1972. Die große Unterstützung für die deutsche Friedensbwegung beim Krefelder Appell, war ein deutliches Signal gegen die imperialistische Macht USA, die alles daran setzte, ihren Kampf um die Weltmacht auf fremden Territorien auszutragen. Dass vor diesem Hintergrund eine Politik äußerst gefährlich werden würde, die nationalen/nationalistischen Tendenzen innerhalb der SU Raum geben wollte, hat er offensichtlich völlig übersehen. Aus welchen Gründen auch immer. Dass die USA wie immer jede Gelegenheit nützen würden, die zahlreichen europäische Nationalismen gegen die SU zu mobilisieren war nicht nur absehbar. Es war so sicher wie das Amen in der Kirche. „Weiß er, was er anrichtet?“ habe ich mich seinerzeit gefragt.

  6. @Meist
    Ich kann den meisten Ihrer Ausführungen zustimmen. Aber!
    Als G. an die Macht kam, war die SU ziemlich am Ende.
    Nicht G., sondern Yeltsin betrieb u.a. mit Unterstützung des CIA das Ende der SU.
    „Weiß er, was er anrichtet?“ habe ich mich seinerzeit gefragt, schließen Sie.
    Ich weiß nicht, was er wußte. Naivität war es aller Wahrscheinlichkeit nicht.

    1. Ich habe nicht behauptet, dass Gorbatschow von der CIA unterstützt wurde. Ich nehme an er hat das globale Machtstreben der USA unterschätzt und vor allem deren über mehrere Jahrhunderte erlernte Fähigkeit unterschiedliche nationale und materielle Interessen in einem geographischen Raum im eigenen Interesse gegeneinander auszuspielen. Ich bin keine profunde Kennerin der Geschichte der beiden Amerikas, aber die Monroe-Doktrin des 19. Jahrhunderts wurde bei uns immer so gelesen, dass man nicht mit US-Interventionen in Europa rechnen müsse. Die USA würden immer bleiben wo sie sind. Der Aspekt, dass die Monroe-Doktrin aufs engste verwoben war, mit dem eigenen Ausdehnungsinteresse in die sich befreienden spanischen, französischen, portugiesischen Kolonien wird bei uns gerne unterschlagen.

  7. Anstatt über Gorbatschow zu sprechen, erzähle ich einfach mal aus meiner eigener Erfahrung. Wie ich als Jugendlicher den Zusammenbruch und die 90ger Jahre erlebt hatte.

    Ich war damals, ende der 80ger Jahre, im zarten Teenageralter und für mich war es eine heile Welt. Politik berührte mich damals nicht. Meine Familie gehörten zu den Russlanddeutschen und ist gerade aus der Ostukraine in den Süden Russlands gezogen. Meine Großeltern und Eltern waren angesehene Leute, waren im Bergbau tätig und gehörten damit zu den Besserverdienern. Sie hatten bis Mitte der 80ger Jahre ein stattliches Kapital zusammengespart und konnten sich ein Großes Haus im Süden Russlands am schwarzen Meer leisten. Wir hatten zwei für damalige Verhältnisse moderne Autos, was für die Meisten in der damaligen Sowjetunion Luxus gewesen ist. Es mangelte uns an nichts.
    Zum Ende der 80ger Jahre merkte ich, dass die Eltern und Großeltern zunehmend besorgt waren. Aber sie wollten die Kinder nicht belasten. Vater und Großvater schimpften Abends, wenn Kinder im Bett waren empört über Politiker und die Perestroika. Doch bewusst, dass etwas schlimmes passierte wurde mir erst 1988, als meine Mutter später als üblich heulend nach Hause kam. Ein Leib Brot kostete heute das dreifache von gestern. Und das zehnfache von vorgestern. Sie musste mehrere Stunden anstehen um überhaupt etwas zu bekommen. Wohin sollte das Alles führen fragte sie immer wieder.
    Die Folgezeit war geprägt vom Horrorwort „Defizit“. Alles war Mangelwahre geworden. Wahren des täglichen Gebrauchs, Lebensmittel, Benzin usw… Alle Sprachen nur noch von Defizit.
    Ein prägendes Ereignis für mich war einige Monate später. Das Gerücht ging rum, dass im Lebensmittelmarkt im Zentrum der Stadt eine Lieferung Wurst aus dem Ausland geben soll. Ich lernte damals ein neues Wort kennen „Cervelat“. Alle wussten, dass es nicht für Alle reichen würde und bemühten sich darum frühzeitig einen Platz in der riesigen Warteschlange vor dem Markt zu bekommen. Meine Mutter hatte keine andere Möglichkeit als mich mitzunehmen. Wir warteten mehrere Stunden bis der Markt die Türen öffnete. Dann strömten Alle in den Markt durch die enge Türpassage. Es wurde so eng, dass ich beinahe in der Menge erdrückt wurde. Die Wurst haben wir damals nicht bekommen. Sie war bereits ausverkauft als wir noch in der Türpassage klemmten.
    Den eigentlichen Zusammenbruch habe ich gar nicht bewusst mitbekommen. Man hörte es gibt einen Putsch in Moskau und eine politische Krise. Die Sowjetunion sei weg und es gäbe jetzt mehrere Staaten. Doch das war Alles weit weg, wir waren in dieser Zeit viel mehr mit eigenen Sorgen beschäftigt. Das Geld war gar nichts mehr wert. Wir haben mit unserem erspartem das Plumpsklo tapeziert, weil eine Tapete zu bekommen ein Ding der Unmöglichkeit gewesen ist, und die Scheine ohnehin nichts mehr wert waren. Es gab in den normalen Geschäften eigentlich so gut wie gar nichts mehr zu kaufen außer Brot und Benzin und das gab es nur ab und zu und gegen Rationierungsmarken und nach langem anstehen. Alles stand still, es gab praktisch keine Arbeit für Niemanden mehr. Überall entstand Privathandel. Wenn man was erwerben wollte ging man auf eine Art Wochenmarkt wo Waren hauptsächlich für Dollars von Privatleuten gekauft oder gegen andere Waren getauscht werden konnten. Es waren hauptsächlich Waren aus dem Ausland. Jeans, Snickers, Medikamente und Ersatzteile bekam man nur so. Aber auch Lebensmittel wurden überwiegend selbst erwirtschaftet und auf den Märkten, die es in jeder Siedlung gab getauscht oder gegen Dollars erworben.

    Wir waren damals damit beschäftigt irgendwie über die Runden zu kommen und für unsere Selbstversorgung zu sorgen. Meine Eltern hatten rechtzeitig vorgesorgt und ein kleines Feld ergattert. Dort hatten wir Kartoffeln, Mais und Gemüse angebaut. Mit der Hand versteht sich ohne Technik. Da auch die Wasserversorgung zusammenbrach, haben wir einen Brunnen ausgehoben. Da es keine Müllabfuhr mehr gab, schafften wir unseren Müll wie Alle anderen mit dem Schubkarren in eine nahegelegene Grube am Stadtrand. Strom war rationiert gewesen und wurde in der Regel immer gegen Nachmittag abgeschaltet. Wir verbrachten unsere Abende im Familienkreis bei Kerzenschein und lasen uns Bücher vor. Die alte Sauna haben wir zu einem Viehstall umgebaut und hielten dort eine Kuh und zwei Schweine. Gefüttert wurden die Schweine überwiegend mit Essensresten oder Maisschrott. Wir hatten auch einen Hühnerstall gebaut und einige Dutzend Hühner gehalten. Im Hof auch ein Dutzend Enten. Für den Winter haben wir Konserven hergestellt und sie wie auch die Kartoffelernte im Keller eingelagert. Geheizt haben wir mit Holz aus dem Wald. In der Region wo wir lebten war das wenigstens kein Problem. So haben wir uns wie auch die Meisten irgendwie durch die ersten Jahre nach dem Zusammenbruch durchgemogelt.
    Schlimm war eine extreme Kriminalität. Man konnte wegen einer Jacke oder ein Paar ausländischen Schuhen leicht auf der Straße ermordet werden. Im Grunde kontrollierte Alles die Mafia. Die Polizei war korrupt und steckte mit der Mafia oft unter einer Decke. Um über die Runden zu kommen errichteten Polizisten überall Checkpoints, wo sie die durchfahrenden Autos „schüttelten“ wie man damals sagte. Man wurde unter irgendwelchen Vorwänden aufgehalten und konnte nur gegen Bestechung (Dollars oder Sachgeschenke) weiterfahren. Die Schule funktionierte aber. Allerdings mussten die Schüler Holz für Heizungen anschleppen und im Herbst bei der Ernte im schuleigenen Apfelgarten mitwirken. Die Schule verkaufte die Ernte und bezahlte damit die Lehrkräfte.
    Das nächste prägende Ereignis für mich war der Putsch und die Machtergreifung Jelzins 1993. Es wäre wie vieles wohl einfach an mir vorbeigegangen. Aber mein Onkel war zu dieser Zeit in Moskau gewesen um etwas dazu zu verdienen. Er verschwand zunächst spurlos und wir machten uns große sorgen, denn wir verfolgten im Fernsehen, dass es in Moskau kriegsähnliche Zustände gab. Große Menschenmengen protestierten am Roten Platz und wurden von Panzern auseinander getrieben. Panzer schossen auf das Parlament. Mein Onkel tauchte dann doch wieder auf und kehrte etwas traumatisiert zurück. Er erzählte über grausame Dinge. Er sah wie Menschen erschossen und von Panzern überrollt wurden. Er selbst hat sich gar nicht beteiligt war aber ungewollt mitten im Geschehen gewesen. Das hat mir damals viel Angst gemacht. Das war der Punkt an dem meine Familie die Entscheidung traf das Land zu verlassen und nach Deutschland umzuziehen. Verwandte von uns hatten diesen Schritt schon gemacht und halfen uns dabei aus Deutschland aus. Es dauerte allerdings noch zwei weitere Jahre, in welchen es kein Stück besser wurde, bis wir ausreisen konnten.

    1. Danke für diesen persönlichen Beitrag. Ich war in den Neunzigern mehrere Jahre in der berufsvorbereitenden Bildung jugendlicher Aussiedler ohne Deutschkenntnisse beschäftigt. Die Schicksale der Familien waren abhängig vom familiären und geographischen Hintergrund sehr unterschiedlich. Es braucht viele Blickwinkel um sich ein umfassendes Bild zu erarbeiten.

    2. Es ist immer gut, mal direkt zu hören/lesen, wie die Situation sich für normale Menschen darstellte. Danke auch von mir.
      Übrigens, wie die späteren Oligarchen sich das Volksvermögen angeeignet haben, hat Dirk Pohlmann in seinem Vortrag beschrieben. Unter Gorbatschow wurden den Angestellten Anteilsscheine an ihren Werken oder Kolchosen ausgestellt. Die wurden ihnen dann zuhauf von diesen Typen mit billigen Krediten für letztlich wenig, aber im Moment viel Geld abgekauft.https://odysee.com/@eingeSCHENKt:0/dirk-pohlmann-ewiger-krieg-neueste-us:8

  8. Sehr geehrter Herr Hacker,
    Ich danke Ihnen für Ihren Bericht aus dem Leben. Zum Verständnis Ihres jetzigen Heimatlandes und der phoenixgleichen Auferstehung aus der damaligen Misere kann dieser Bericht bedeutend mehr beitragen als irgendwelche Spekulationen oder Polemiken.

    Nochmals, lieben Dank

  9. @Meist
    Habe nicht geschrieben, dass Sie G. mit CIA in Verbindung gebracht hätten.
    Ich habe aufgrund eines Berichtes über den Putsch am 8. Dezember 1991 in Viskuli Yeltsin mit CIA in Verbindung gebracht.

  10. Zum Tod von M. Gorbatschow will ich für Interessierte noch auf zwei Berichte von Dr. Leo Ensel hinweisen:
    Am 8. Dezember 1991 trafen sich in einem großen Naturpark an der weißrussischen -polnischen Grenze in Viskuli die Repräsentanten der drei größten Sowjetrepubliken (Russland, Ukraine, Weißrussland), um putschartig das Ende der Sowjetunion zu beschließen.
    https://free21.org/der-putsch-von-viskuli/
    Im Rahmen seines politisch-geschichtlichen Engagements hatte Leo Ensel in den letzten Jahren noch zweimal die Gelegenheit, mit Gorbatschow längere Zeit zu sprechen.
    https://globalbridge.ch/michail-gorbatschow-der-ausnahmepolitiker-und-die-mutwillig-verspielten-chancen-fuer-eine-friedlichere-welt/

  11. Dank an Heyden, dass er die infame Instrumentalisierung Gorbis seitens der westlichen und insbesondere deutschen Politiker bloss stellt. Dann sollte man allerdings auch zu einer Kritik des werten Verstorbenen vorrücken. Der Mann war ein Träumer, der sich nur ungern mit der Realität beschmutzt hat. Das zeigt nicht nur seine haltlose Idealisierung des gerade in seine neoliberale Phase eintretenden Westens, sondern auch die stark verzögerte Reaktion auf die Katastrophe in Tschernobyl. Noch in den Nuller-Jahren hat er sich freiwillig und selbstverständlich die Einnahmen in weltretterische Aktivitäten steckend, als Werbemaskottchen für westliche Konzerne missbrauchen lassen. Etwa Louis Vuitton. Das allein disqualifiziert ihn, zumindest für mich total.

    Sein Einfluss auf die Weltgeschichte ist ein verheerender, was man jetzt, mehr als drei Jahrzehnte nach seinem Wirken, besonders deutlich sehen kann. Er war Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft – um einmal Goethe vom Kopf auf die Füsse zu stellen. Sein Wirken führte zum Verschwinden des Systemgegners und öffnete damit dem neoliberalen Fluchtweg aus den kapitalistischen Nöten – man schaue einmal, wie die deutsche Wirtschaft 1989, vor dem Mauerfall, dran war – Tür und Tor. Er war der Verursacher des westlichen Triumphalismus, der die Neunziger zum Jahrzehnt des Deliriums machte. Die nicht nur dadurch ermöglichte, aber jedenfalls dadurch begünstigte weitere hemmungslose wirtschaftliche Expansion der letzten drei Jahrzehnte hat die Menschheit ins Jenseits des ökologisch Guten und Bösen katapultiert, eine Gegend, die der Hölle Dantes gleicht.

    Michail Gorbatschow war, und im Gegensatz zu Nietzsche, der das lediglich immaginiert hat, ein Verhängnis.

    1. Moin Pnyx,
      1989 war für D eine extreme Umverteilung von fast schuldenfrei bis tief ins minus.
      Japan ‚Bubble‘ an der Börse… (grösster $ Schuldscheinhalter)
      Tiananmen Square viel zufällig auch ins 1989.
      Der Zusammenbruch UdSSR…
      Das sind 4 Gross Ereignisse die in einem Jahr stattfanden und diese Macher dessen, sind heute am schreien…

  12. das ist wieder nur indirekt passend, aber sonst geht der Lese-Hinweis verloren:

    Gordon Hahnn war beteiligt an einer Vortragsreihe:

    https://gordonhahn.com/2022/09/01/hahns-participation-in-the-simone-weil-centers-symposium-on-realism-and-legitimacy-in-russia-and-the-united-states/

    „The Simone Weil Center’s Symposium on Realism and Legitimacy asked a slate of distinguished experts for their thoughts on Russia’s apparent loss of legitimacy, and the United States’ apparent loss of both realism and contact with reality.

    We are delighted to have received extremely thoughtful responses from Anatol Lieven, James Carden, Nicolai N. Petro, Andrei Tsygankov, Ethan Alexander-Davey, Gordon Hahn, Richard Sakwa, Paul Robinson, Adam Webb, and Paul Grenier:

    Their responses are linked to below.

    America’s Crisis of Reality and Realism (Part I)

    Anatol LIEVEN, James CARDEN, Nicolai PETRO, Ethan ALEXANDER-DAVEY, Gordon HAHN

    America’s Crisis of Reality and Realism (Part II) Richard SAKWA

    Russia and the Question of Legitimacy (Part III) Anatol LIEVEN, Nicolai N. PETRO, Andrei TSYGANKOV, Ethan ALEXANDER-DAVEY, Gordon HAHN

    Russia and the Question of Legitimacy (Part IV) Paul ROBINSON, Adam WEBB, Paul R. GRENIER

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