Erinnerungskultur als Mobilmachung

US Army Signal Corps, Public domain, via Wikimedia Commons

Timothy Snyder, ein US-amerikanischer transatlantischer Influencer, macht die deutsche Erinnerungskultur gegen Russland mobil. In den Vereinigten Staaten fällt ihm das nicht so leicht: Denn dort gibt es keine Erinnerungskultur.

Der neue Star im geteilten Himmel über der Ukraine ist Timothy Snyder. Snyder ist Geschichtsprofessor an der Ivy-League-University Yale, Mitglied im Gewissenskomitee des Holocaust-Museums in Washington D.C., Mitglied im transatlantischen Zentrum Liberale Moderne, das von den Grünen-Politikern Marieluise Beck und Ralf Fücks gegründet wurde – sowie Mitglied im Council on Foreign Relations. Das ist eine außenpolitische Denkfabrik, die im Nachgang des Ersten Weltkrieges in New York entstanden ist – und in der der langjährige CIA-Chef Allen Dulles eine tragende Rolle spielte.

Snyder war auch eng befreundet mit Tony Judt, einem legendären linken Intellektuellen, der sich vom Zivilarbeiter für die israelische Armee zum zionistischen Kritiker entwickelt hat. Beachtliche Street Creds also. Bekannt wurde Snyder vor zwölf Jahren, als er mit »Bloodlands« einen internationalen Bestseller hinlegte. In seinem Buch geht es um die Massenmorde in Osteuropa von 1933 bis 1945, eben nicht nur durch Hitler, sondern — für Amerika eher ungewöhnlich— auch durch Stalin. Da Stalin Verbündeter der USA im Zweiten Weltkrieg war, werden dessen Verbrechen in den Vereinigten Staaten eher niedrig gehängt.

Nicht mal Willy Brandt habe der UdSSR die Stirn geboten?

Auch Snyder ist noch relativ zurückhaltend: So schreibt er von drei Millionen Opfern des Holodomor, dem stalinistischen Völkermord an den Ukrainern, während Ukrainer von sieben bis zehn Millionen Verhungerten sprechen. Die New York Times warf Synder vor, dass er die stalinistische Verfolgung von Juden fast gar nicht thematisiere. Andere Kritiker fanden es illegitim, den Nazi-Diktator mit der Sowjetunion unter Stalin zu vergleichen oder die Massenmorde an Slaven und Balten mit dem Holocaust.

Heute aber, mit Putins Truppen in der Ukraine, trifft Snyder voll den Zeitgeist. Und der Zeitgeist möchte, dass Deutschland im in den Bloodlands die Muskeln spielen lässt. Daran aber, findet Snyder, hapert es gewaltig. In der FAZ warf er den Deutschen vor, dass es nicht zu ihrer Erinnerungskultur gehöre, wie Hitler die Ukraine habe kolonisieren wollen. Nicht einmal Willy Brandt habe Moskaus Vorherrschaft in Osteuropa in Frage gestellt. Deshalb erkennen die Deutschen nicht, dass Putin als neuer Hitler das Gleiche tue. Deutschland als »gewesene Kolonialmacht« sei aber gegenüber der Ukraine in der Verantwortung.

Natürlich könnte man mit dieser Logik auch dafür werben, dass sich Deutschland an die Seite Putins stellt, denn die Wehrmacht wollte eigentlich auch Russland kolonisieren.

Hier aber noch ein paar andere Punkte: Erstens war Deutschland als Kolonialmacht in der Ukraine ungefähr so erfolgreich wie Amerika als Kolonialmacht in Kuba. Zweitens: Ist dem Autor von Bloodlands der Name »Stalin« vollständig aus dem Gedächtnis gefallen? Und drittens: Die Idee, dass Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, als Millionen von Soldaten an der Ostfront gefallen waren und ganze Landstriche von Königsberg bis Küstrin entvölkert wurden, unter Willy Brandt der Sowjetunion hätte entgegentreten sollen, ist selbst für einen amerikanischen Sesselstrategen aberwitzig.

Erinnerung an 1917

Dass Snyder die deutsche Erinnerungspolitik »sehr traurig« findet, ist rührend, aber werfen wir doch einmal einen Blick auf die amerikanische Erinnerungspolitik. Wir gehen dazu in das Jahr 1917 zurück, das für den Ersten Weltkrieg entscheidend war. Im April traten die USA an der Seite Großbritanniens und Frankreich in den Krieg ein; im Oktober verjagten die Bolschewisten in Russland den Zaren. Im folgenden blutigen Bürgerkrieg brach die Ostfront zusammen und Russland schloss (eher widerwillig) im Dezember einen Waffenstillstand mit den Mittelmächten, Deutschland und Österreich-Ungarn.

Der mündete im Friedensvertrag von Brest-Litowsk, der in der gleichnamigen Stadt am 3. März 1918 unterzeichnet wurde. Darin verpflichtete sich Russland zu hohen Reparationszahlungen, vor allem aber dazu, die osteuropäischen Staaten in die Unabhängigkeit zu entlassen; also Polen, das Baltikum, Georgien, Finnland, Belarus und auch die Ukraine, die zwischen beiden Mächten schwer umkämpft gewesen war – und die mit Deutschland und Österreich-Ungarn einen Separatfrieden unterzeichnete.

Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson war zwar unter der Prämisse des Selbstbestimmungsrechts der Völker in den Krieg eingetreten, aber nicht um den Preis eines deutsch-russischen Friedens, der die Westfront schwächte. Die New York Times empörte sich seinerzeit über den »Betrug an der russischen Arbeiterklasse«, sie fand es zu hart, dass Russland die Kontrolle über Osteuropa verlieren sollte. Noch mehr schäumten die Briten, die fürchteten, durch eine Ausbreitung der deutschen Machtsphäre könnte auch der Iran — dessen Westteil Großbritannien besetzt hatte — auf dumme Gedanken kommen.

Zerschlagene Eier

Als die Westmächte den Ersten Weltkrieg gewannen, setzten sie das Abkommen von Brest-Litowsk außer Kraft. Zu diesem Zeitpunkt war die Rote Armee schon mehrfach in die Ukraine einmarschiert und hatte auch Kiew besetzt. 1922 wurde die Ukraine tatsächlich ein Teil der neu gegründeten Sowjetunion: gegen den massiven Widerstand vieler Ukrainer, aber unbeachtet und vergessen von Amerika und Großbritannien.

In den dreißiger Jahren schickte Stalin die Rote Armee in die Ukraine und zwang die Bauern zu Kollektivierung; Getreide aus der Ukraine wurde weggeschleppt, um Moskau zu ernähren (ähnlich übrigens wie die Engländer neunzig Jahre vorher in Irland), und Millionen Ukrainer verhungerten oder wurden in die Gulags verschleppt.

Auch diesmal spielte Amerika eine unrühmliche Rolle. US-Korrespondenten, allen voran Walter Duranty von der New York Times, leugneten den Völkermord und stellten den Holodomor als eine mildere Variante der amerikanischen Missernten im Mittleren Westen dar. Von Duranty stammt die Zeile: »Man kann kein Omelett machen, ohne ein paar Eier zu zerschlagen.« Gleichzeitig erzählte Duranty einer Kollegin, dass wohl zehn Millionen Menschen verhungert seien, »aber das waren bloß Russen«.

Die USA und die historische Schuld

Wie nahe Duranty dem Stalin-Regime stand, zeigte sich 1933, als er den sowjetischen Außenminister Maxim Litvinov nach Washington begleitete, wo Litvinov mit dem US-Präsidenten Franklin Roosevelt um die Anerkennung der UdSSR verhandelte. Die USA brauchten in der Depression dringend neue Absatzmärkte. Roosevelts Botschafter in Moskau, W. Averell Harriman, sorgte dafür, dass die Freundschaft erhalten wurde.

Als dann 1944 Stalin, Churchill und Roosevelt in Jalta die Grenzen des Ostblocks festlegten, gingen alle Beteiligten fraglos davon aus, dass die Ukraine Teil der UdSSR blieb. Nach Kriegsende lieferten die westlichen Alliierten aus deutschen Lagern befreite ukrainische Kriegsgefangene an die Sowjetunion aus, die dort als »Verräter« erschossen wurden.

Warum beschwert sich Snyder eigentlich nicht in der New York Times über den amerikanischen Mangel an Erinnerungskultur? Weil die Times sich so ungerne an Walter Duranty erinnert? Oder weil Amerikaner sich in ihrer Außenpolitik sowieso nicht an historischer Schuld orientieren, sondern interessengeleitete Realpolitik machen? Da scheint es wohl einfacher, die deutsche Erinnerungskultur zu instrumentalisieren.

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6 Kommentare

  1. Snyders Machwerk wurde von Historikern aus dem Umfeld von Yad Vashem als Holocaustleugnung light kritisiert. Die „Bloodlandisierung“ der osteuropäischen Geschichte ist eine besonders schmutzige Form der NS-Apologetik. Snyder ist ein fanatischer Antikommunist, seine Machwerke sind voller handwerklicher Fehler und absichtlicher Verdrehungen.

    Der Artikel plappert eine Menge dieser Unwahrheiten nach und reproduziert das Narrativ der ukrainischen Rechtsextremisten. Der deutsche Diktatfrieden von Brest-Litowsk übertraf an Brutalität den späteren Versailler Vertrag um ein Vielfaches, und die Schreckensherrschaft des ukrainischen Protofaschisten Petljura im deutschen Protektorat „Ukraine“ tötete im Kampf gegen „den jüdischen Bolschewismus“ bis zu mehreren hunderttausend Menschen, in der Mehrzahl Juden, in bestialischen Gewalttaten.

    Auch das „Holodomor“-Narrativ ist historisch nicht haltbar, die Behauptungen der Autorin sind ukrofaschistische Propagandalügen. Die schwere Versorgungskrise und Hungersnot 1932/33 betraf die gesamte UdSSR und war nicht auf die Ukraine beschränkt, die Zahl der Opfer, soweit sie an erhöhter Sterblichkeit ablesbar ist, lag zwischen 4 und 5 Millionen, die Hälfte davon in der Ukraine, mehrheitlich übrigens in der russischsprachigen Ostukraine, wie im benachbarten Südrussland und Wolgagebiet. Die Behauptung, es habe sich um eine gezielte Massnahme gegen Ukrainer gehandelt, entbehrt jeglicher Grundlage.

    Zum „Holodomor“ (von russisch Golo Domor, ukrainisch Holo Domor = Grosser Hunger, die scheinbare sprachliche Nähe zu Holocaust ist bösartige propagandistische Absicht) zeigen die Arbeiten von Mark B. Tauger, University of West Virginia, dass das ukrofaschistische Narrativ von der absichtlichen Hungersnot ein Lügengespinst ist, das von rechtsextremen Exilukrainern in die Welt gesetzt wurde.

    1. Jaja, es ist schön, dass Altstalinisten nicht nur noch am Leben sind, sondern in den modernen Medien aktiv. Also:

      „Der deutsche Diktatfrieden von Brest-Litowsk übertraf an Brutalität den späteren Versailler Vertrag um ein Vielfaches, „Das ist schonmal Quatsch; das war kein Diktatfrieden, der war mit Lenin ausgehandelt; die Zahlungen waren vergleichbar mit Versailles — tatsächlich recht hoch, das will ich nicht verteidigen, aber das gilt auch für Versailles — und was höher war, waren die Gebietsverluste. Der Unterschied ist aber, dass Deutschland in Versailles von Deutschen besiedelte Gebiete abtreten musste, hingegen verlor Russland Länder, die noch unter dem Zaren besetzt worden waren, und wo Leute lebten, die die russische Herrschaft gerne loswerden wollten.

      „Auch das „Holodomor“-Narrativ ist historisch nicht haltbar, die Behauptungen der Autorin sind ukrofaschistische Propagandalügen.“

      Das ist kein „Narrativ“, das bestreitet inzwischen kein seriöser Forscher. Es sind auch keine „ukrofaschistische Propagandalügen“, ganz im Gegenteil, dass der Holodomor nicht passiert ist, sind amerikanische Propagandalügen von 1933, die auf einen britischen Oberschichtsjournalisten namens Walter Duranty zurückgehen und die lange perpetuiert wurden, weil Stalin der Verbündete der USA im Zweiten Weltkriegwar. Dass Stalin neben Ukrainern noch andere Menschen hat verhungern oder in die Gulags transportieren lassen, ist durchaus richtig. Aber die o.g. Argumentation ist auf dem Niveau, den Holocaust gabs nicht, weil die Nazis ja auch Roma und Sinti umgebracht haben.

      Mark B. Tauger ist der EINZIGE amerikanische Wissenschaftler, der heute noch bestreitet, dass der Holodomor ein Völkermord war. Es gibt auch Amerikaner, die glauben, dass die Indianer von selber tot umgefallen sind und dass das nichts mit der Ausrottung der Büffel zu tun hatte, deswegen sollte man die nicht allzu ernst nehmen.

      https://en.wikipedia.org/wiki/Holodomor_genocide_question

      Was das Gefasel von „NS-Apologetik“ angeht, wenn Altstalinisten annlasslos die Nazi-Keule schwenken, dann wird die schwer entwertet, also Vorsicht!

      1. Genau genommen ist Tauger auch der einzige US-Historiker, der die Materie in der Tiefe und in den Quellen erforscht hat. Bei Vad Yashem gibt es da etwas mehr. Die Bezeichnung des „Holodomor“ als Genozid ist Teil des ukrofaschistischen Narrativs. Die Vorsätzlichkeit der Missernte und der Hungersnöte ist nirgends belegt.

        Das reflexhafte Geifern „Altstalinist“ zeigt bereits die Schwäche der Argumentation.

  2. Erinnerungspolitik ist Machtpolitik – egal ob Holodomor, Holocaust , der Genozid an den Armeniern usw. usf. Es ging und geht dabei nie um das Leiden und Sterben der Opfer. Sie sind ausschließlich politische Währung im Hier und Jetzt.

  3. Danke. Ich möchte noch hinzufügen, dass die Behauptung im Artikel, die Erwähnung der „Massenmorde durch Stalin“ sein in den USA eher ungewöhnlich, zeigt, dass die Autorin …

    Die Behauptung (heute nennt man es ja „Narrativ“), Stalin habe mehr Menschen umgebracht als Hitler, ist seit Jahrzehnten fester Bestandteil selbst liberaler Diskurse in den USA, sie findet sich unter anderem selbst in dem Buch Deborah Lipstadts über die Leugnung des Holocaust.

    Gewiss gab es während des Krieges auch in den USA Sympathien für die UdSSR. Man hat aber den Eindruck, die Autorin habe den Kalten Kalten Krieg schlicht verpennt. Oder sie betreibt das geschichtsrevisionistische Narrativ, das den Anteil der Sowjetunion an der Zerschlagung des Faschismus bis zur Leugnung kleinredet. Sie ist damit sehr nahe an der neonazistischen geschichtsrevisionistischen Propaganda der Ukraine und der baltischen Regime, die ja auch SS-Mörder feiern.

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