Durchwurschteln als Regierungsform

Angela Merkel
א (Aleph), CC BY-SA 2.5, via Wikimedia Commons

Wie wird Deutschland und die EU eigentlich regiert? In den 1980er-Jahren sprachen die Politologen von »Steuerung« und stellten in den 1990er-Jahren einen »Governance-Turn« fest. Das Zeitalter der »Polykrise« (Edgar Morin) brachte aber einen anderen Typus politischer Herrschaft hervor.

Nach »Problemlösungsfähigkeit«, »Interaktionsformen« und »Regulierungsstaat« brauchen wir einen neuen konzeptionellen Ansatz, um die Politikgestaltung in Deutschland und Europa zu verstehen, fordert Martin Heipertz, dessen Buch »Merkelismus. Die hohe Kunst der flachen Politik« parallel zur Merkel-Biografie heute erscheint.

Ein Buchauszug.

Innerhalb des Krisen-Reigens der Merkel-Ära stellt die Eurokrise einen besonderen Teil des Wandels dar – nicht nur für Politologen ist das interessant. Wir bewegten uns damals entscheidend weg vom »Mehrebenensystem« und hin zum »Muddling through«. Die Institutionen der europäischen »Multi-Level-Governance« bleiben zwar bestehen, werden aber überfordert durch komplexe Krisensituationen, die sich ihrer Kontrolle entziehen. Durchwurschteln ist, wie der Soziologe Charles Lindblom schon in den 1950er Jahren argumentierte, der bevorzugte Weg, mit Komplexität umzugehen. Die Akteure auf staatlicher und europäischer Ebene befinden sich in einem verzweifelten Prozess von Versuch und Irrtum. »Fahren auf Sicht« ist eine recht treffende und bekannte Selbstbeschreibung des politischen Lebens in Deutschland und Europa während des Krisenmanagements.

Salamiwurschteln

Im »Nebel der Krise« – in Anlehnung an den »fog of war« – kann Inkrementalismus (Lindbloms Fachwort für »Durchwurschteln«) die einzige Möglichkeit sein, überhaupt zu konkreten Entscheidungen zu gelangen. Als solcher ist der Inkrementalismus nicht unbedingt problematisch. Ein Problem entsteht jedoch, wenn die Krise so beschaffen ist, dass ihre Ursachen in wichtigen strukturellen, institutionellen und architektonischen Mängeln liegen, wie dies beim Euro der Fall ist. Ein inkrementeller Ansatz bei der Politikgestaltung sollte nicht die Chancen übersehen, welche die Krise dann für die Behebung solcher grundlegenden Probleme mit sich bringt. Es gilt das vielzitierte Wort von der Krise als Chance.

Andernfalls ist ein Durchwurschteln ohne strategische Vision gleichbedeutend mit einer schiefen Ebene. Wie Lindblom selbst zugibt, birgt es eine sehr ernste Gefahr, die er als »Beagle-Fallacy« bezeichnet. Die schlechte Sehkraft eines Beagle-Hundes, der zwar einen ausgezeichneten Geruchssinn hat, lässt ihn Beute oder Gefahren übersehen, die direkt vor ihm stehen aber sich im Windschatten befinden. Übertragen auf den politischen Kontext bedeutet die Beagle-Fallacy, dass durch die Konzentration auf schrittweise, kleine Veränderungen, Inkrementalismus also, das übergeordnete Ziel oder eine breitere Vision aus den Augen verlorengeht. Organisationen oder politische Entscheidungsträger riskieren, wichtige Veränderungen oder größere Bedrohungen zu übersehen, weil sie sich nur auf unmittelbare, kleinere Anpassungen konzentrieren.

Auch Trippelschritte können zu tiefgreifenden Veränderungen führen – Stichwort »Salamitaktik« – jedoch ohne Kurs und Ziel. Das Durchwurschteln in der Eurokrise führte denn auch zu drastischen und plötzlichen politischen Veränderungen, die im Widerspruch zu den langgehegten Werten der Unionsparteien CDU und CSU standen. Unter der Dringlichkeit der Krise wurde die politische rechte Mitte gefügig gemacht und hierarchisch gezwungen, die Ergebnisse der Merkelschen Politik zu akzeptieren und sie im Parlament und im öffentlichen Diskurs zu unterstützen. Folglich gab es keine Entscheidungsfindung von unten nach oben oder die von Lindblom favorisierte »Polyarchie« mehr, sondern eine reine Top-down-Steuerung mit starken Tendenzen zur Oligarchie. Abweichungen wurden sanktioniert, im öffentlichen Diskurs auch zunehmend unter pseudo-moralischen Gesichtspunkten.

Dauerhafte Schäden

Kurz vor der Neuwahl ist keineswegs klar, ob sich die Union jemals wieder von Merkel erholen wird und was dies für die Aussichten der Demokratie in Deutschland bedeuten könnte. Demokratien können sterben, wie der Politologe Daniel Ziblatt ausführt. Das Durchwurschteln hat per se nichts Demokratisches an sich. Es kann autoritäre Herrschaftsformen beinhalten oder sogar zu ihnen hinführen. Durchwurschteln ist nicht mit schwacher Macht zu verwechseln – eher das Gegenteil ist der Fall. Merkel blieb nicht nur die zentrale Figur im politischen System, sondern erfuhr sogar einen beträchtlichen Machtzuwachs durch ihren Regierungsstil.

Wer sich um die Vitalität der repräsentativen und parlamentarischen Demokratie sorgt, kann sich mit Fug und Recht fragen, ob die Merkel-Ära dauerhafte Schäden an unserer politischen Kultur verursacht hat. Die Uniformität der Medien spiegelt und verstärkt eine Stromlinienförmigkeit der Gesellschaft insgesamt. Das beliebige Durchwurschteln erstickt das öffentliche Forum und verwandelt den »Body politic« – den Leviathan (Thomas Hobbes) – in einen Schwarm. Dieser Prozess wird durch die sogenannten »sozialen Medien« und die Rolle der kulturellen und akademischen Elemente der Gesellschaft erheblich verstärkt. Die Interaktion zwischen der politischen Ebene, den Medien, der Kultur, der Wissenschaft und der digital einwilligenden, lautstarken Mehrheit des Volkes wird zu einer sich selbst verstärkenden Rückkopplungsschleife. Die Feindseligkeit gegenüber Andersdenkenden wächst. Sie verlieren ihren Arbeitsplatz und ihr Ansehen, und einer nach dem anderen verstummt. Eine autoritäre Herrschaftsform ist das durchaus mögliche Ende des Durchwurschtelns – aber kein notwendiges. Es liegt an uns.

Passend hierzu: Roberto De Lapuente sprach mit Martin Heipertz.

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15 Kommentare

    1. Im Vergleich zu heutigem Personal war diese nichtsnutzige Kanzlerin ein echte Lichtgestalt. Jep, genau so was bräuchten wir wieder, jemand der einfach gar nichts mehr im Bundestag tut, so kann auch kein Porzellan zerbrechen und wir halten wenigsten den Status Quo.

      Oder wir setzen einfach meinen Vorschlag mit dem Schimpansen um und schmeißen alle anderen raus. Nein?

    2. Das beste Merkel-Foto ist dieses hier:

      https://fotos.mtb-news.de/p/342526

      Zu dem anderen Antworter: Wer irgendwelchen (halb)verwesten Alt-Politikern nachtrauert, dem ist nicht mehr zu helfen. Aus USA hörte ich neulich, es sei sogar ein statistisches Phänomen, dass die Umfrage-Voodoo-Werte von Alt-Präsidenten nach ihrer Präsidentschaft wieder steigen – und Trump davon auch profitieren konnte.

  1. Es geht ja nicht nur ums Durchwurschteln, sondern es wird nach Art von Don Quichotte gegen durch im Wahnsinn selbst fabrizierte oder halluzinierte Krisen angerannt, wie Banken-, Euro-, Migrations-, Corona-, Klima-, CO2- Krise und existentielle Bedrohungen durch Nazis und Russen, einschließlich Nordkorea. Ja, die repräsentative Demokratie wird beschädigt und entwickelt sich immer mehr zu einer repräsentativen Dummokratie, in der dummes Stimmvieh dumme Vertreter wählt, die es dummokratisch regieren.

    1. Nur, Wahlen bringen doch auch nix!
      So was liegt am System,
      Und “durchwurschteln” tun die sich auch nicht.
      Denen geht einzig und allein um die Besitzstandsverhältnisse der herrschenden Klasse zu bewahren und natürlich auch zu vermehren.
      Das so genannte “durchwurchteln” ist nur die Verschleyerung all dessen was geschieht.
      Nicht einmal seit dem Frühjahr 2020 haben es die Schlafschafe bemerkt, also mit durchschlagendem Erfolg durchgewurschtelt!

  2. Helmut Kohl nannte sie Anfang der 90er mein „Mädchen“. Das war nicht aus einem patriarchalischen Duktus heraus formuliert, sondern ein politisches Statement.

    Als bei einem Atommülltransport irgendwelche weißen Substanzen aus einem Castorbehälter austraten, meinte die damalige Umweltministerin Merkel (studierte Physik), das kennt jede Hausfrau und passiert beim Waschen ständig, dass Waschpulver am eigentlichen Bestimmungsort vorbei „rieselt“.

    Mehr brauchte man eigentlich nicht wissen.

    1. “Als bei einem Atommülltransport irgendwelche weißen Substanzen aus einem Castorbehälter austraten…”

      Jetzt hab dich mal nicht soo – jeder der über ein neueres abgeschlossenes Studium (D)Um(m)welttechnik verfügt, kann dir genau erklären, dass Atomkraft eine nachhaltige und grüne Energieerzeugungsform darstellt. Die Atommülllager der DDR waren ja nach dem Zapfenstreich “Wende” auch auf einmal sicher…sagte die Physikerin.
      Muschebubu und so…

  3. Boah Leute,
    könnt ihr bei so einem Artikel nicht eine Foto-Spoiler-Warnung herausgeben ?
    Bei dieser Visage kommt mir mein Frühstück wieder hoch…
    (Bei dem anderen Artikel mit Milei sieht’s übrigens auch nicht viel besser aus).

  4. Andernfalls ist ein Durchwurschteln ohne strategische Vision gleichbedeutend mit einer schiefen Ebene.

    Wer sagt denn, dass die Puppenspieler hinter unseren Politikdarstellern keine strategischen Visionen haben, die sie nur nicht öffentlich kundtun?
    Besser wäre der Begriff “Ziele”, es sagte mal jemand, wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.
    Der Versuch, Russland zu zerstückeln, läuft schon seit geraumer Zeit, mindestens seit dem Zerfall der UdSSR. Die sind nicht an vierjährige Legislaturperioden gebunden.
    Und die Aushebelung der Demokratie, Aufbau einer Totalüberwachung läuft auch schon lange, seit 2020 aber mit beunruhigender Geschwindigkeit.

  5. Quality is a myth. Behaupten zumindest manche Lästerzungen. Jede(r) kann alles, wenn nur der Wille vorhanden ist. So könnte, rein spekulativ, ein langjähriger Hühnerzüchter, zum Industrieminister ernannt, qua Amt sich als wirtschaftlicher Vordenker, Visionär und Koryphäe inszenieren. Seine alimentierten MSM-Jubelperser (vgl Schliessfachszenen von MIB) werden ihn in den höchsten Tönen lobpreisen. Die hochqualifizierten externen Berater kommen aus dem Lobby-, Freundes- und Parteienumfeld und waren zu praktischen Studien- oder Weiterbildungszwecken gewiss mal mit im Bioladen einkaufen bzw. in der Gastronomie essen. Genügt doch in der repressiven Demokratie. Hauptsache die Fassade nebst Mundwerk passt. (Sark…)

  6. Neues von tp.

    Ein Lucas Schäfer schreibt einen Artikel voller Blödsinn zu Syrien und hat die Kommentarfunktion abgeschaltet.
    So weit ich weiß seit Neubers Verlautbarung der totalen Erneuerung von tp ein Novum.

    1. “…..und hat die Kommentarfunktion abgeschaltet.”

      Hmm, ziemlich schlau. So spart man sich die schweinteuren Admins die mit dem löschen kaum noch hinterher kommen.

      Und das neue Vorbild “Der Spiegel” macht das doch genau so. 🙂
      Also die Kommentarfunktion gleich weglassen.

  7. Könnte man nicht jedem Syrischen Rückkehrer ein Merkelbuch (Freiheit™) mit Widmung geben als Zeichen der Erinnerung an die guten alten Zeiten im Vorkriegsdeutschland

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