
Ein Blick auf die wachsende Entfremdung zwischen Russland und dem Westen: Wie Politik, Medien und Kultur zu einer beispiellosen Abkehr geführt haben – und warum verloren geglaubte Verbindungen neu überdacht werden müssen.
Ein Auszug aus dem Buch „Niemand soll hungern, ohne zu frieren“.
Russland ist riesig, es hat neun Zeitzonen, und ein großer Teil des Landes liegt in Europa. Das wird verdrängt und gerät allmählich in Vergessenheit. Die jahrhundertealten Verbindungen in Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft, die in den 1980er-Jahren wieder auflebten, wurden vom Westen unter Führung der USA böswillig erschwert und nach und nach gekappt. Wer zurzeit von Berlin nach Moskau fliegen will, muss einen Umweg über Istanbul nehmen.
In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag im Jahr 2001 – das war damals noch möglich! – nannte Wladimir Putin Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller und Immanuel Kant, und er sagte, dass die Kultur immer unser gemeinsames, völkerverbindendes Gut war. Sollte das wirklich der Vergangenheit angehören? Es sieht danach aus, nachdem sogar die Kultur politisiert wurde.
Fanatismus, Hass und Hetze
Vor vielen öffentlichen und privaten Gebäuden in Deutschland wehte jahrelang die Fahne der Ukraine, das Brandenburger Tor wurde nachts blau-gelb angestrahlt, beim Bäcker gab es blau-gelbe Brötchentüten. Die Tagesschau berichtet regelmäßig über den „brutalen Angriffskrieg“ Russlands, und fast jeden Abend werden verstümmelte Leichen und bedauernswerte Mütter mit ihren Kindern gezeigt. Die Ursachen des Krieges aber werden ausgeblendet.
Während die ukrainische Armee nach den Verlautbarungen in Politik und Medien heldenmütig das Vaterland verteidigt, begehen die russischen Soldaten angeblich fortwährend Kriegsverbrechen, angestiftet von Wladimir Putin. Er wolle ganz Europa unterwerfen, so heißt es. Wolodymyr Selenskyj konnte sich darüber in großformatigen Videoeinblendungen vor den Parlamenten anderer Staaten und vor dem UN-Sicherheitsrat auslassen.
Kein Wunder, dass viele Menschen in Deutschland damit einverstanden sind, dass die Ukraine in ihrem „Kampf gegen das Böse“ mit Milliardenzahlungen und der Lieferung schwerer Waffen unterstützt wird. Dafür wurden Aufrufe verfasst, Geld gesammelt, und Deutschland hat mehr als eine Million Flüchtlinge aufgenommen, es mögen letztlich zwei oder drei Millionen sein – niemand weiß Genaueres. Wer sich in der Öffentlichkeit als Russe zu erkennen gibt, muss sich eventuell vorsehen.
Die psychologische Kriegsführung macht auch vor der Kultur nicht Halt und hat geradezu absurde Formen angenommen. So hat der Hass auf alles Russische dazu geführt, dass in der Ukraine russische Literatur sowie Werke der Literaturgeschichte, Philosophie, Geschichtsschreibung und Soziologie aus den Büchereien und Buchhandlungen entfernt wurden. Unter dem Motto „Russische Literatur ins Altpapier“ wurden Millionen Bücher „entsorgt“,[1] was etwa der Hälfte der ukrainischen Bibliotheksbestände entspricht.
Diese Kulturbarbarei griff auch auf andere europäische Länder über. In den baltischen Staaten wurden – wie in der Ukraine – Denkmäler aus sowjetischer Zeit zerstört und russische Literatur aus den Regalen verbannt, obwohl ein großer Teil der Bevölkerung russische Wurzeln hat.[2] Und auch in Deutschland forderten Fanatiker, Werke russischer Autoren auszusondern oder vom Verkauf in Buchhandlungen auszuschließen.[3] Darunter fielen nicht nur zeitgenössische Werke, sondern sogar Klassiker wie Tolstoi, Dostojewski, Tschechow, Gorki oder Puschkin.
Ächtung russischer Kultur
Die Maßnahmen, die an die Bücherverbrennungen von 1933 und den Boykott jüdischer Kunst und Kultur durch die Nazis erinnern,[4] weiteten sich im sogenannten Wertewesten schließlich auf sämtliche Bereiche des kulturellen Lebens aus. Die Stadt München entließ den Chefdirigenten der Philharmoniker Waleri Gergijew mit der Begründung, er habe sich trotz Aufforderung nicht „eindeutig und unmissverständlich von dem brutalen Angriffskrieg“, den Putin gegen die Ukraine führe, distanziert.[5] Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) erklärte, weitere Konzerte der Münchner Philharmoniker unter Gergijews Leitung werde es nicht geben. Und die berühmte russische Opernsängerin Anna Netrebko erhielt Auftrittsverbot an der New Yorker Metropolitan Opera, nachdem sie abgelehnt hatte, sich von Präsident Wladimir Putin zu distanzieren.[6] Auf Druck des Intendanten Peter Gelb musste sie von der Produktion der Oper „Turandot“ zurücktreten; ihre Rolle wurde dann bezeichnenderweise einer ukrainischen Sopranistin übergeben.
Ein seltsames Phänomen ist zu beobachten: Allerorten werden russische Künstler geächtet, während ukrainische Künstler, ungeachtet ihrer Qualifikation, reüssieren. Ein skandalöser, exemplarischer Vorfall im deutschen Literaturbetrieb war beispielsweise die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels für das Jahr 2022 an den Ukrainer Serhij Zhandan, für den Russen „Tiere“ und „Unrat“ sind. In seinem prämierten Buch, das er in Frankfurt am Main während der Buchmesse vorstellte, schrieb er: „Die Russen sind Barbaren, sie sind gekommen, um unsere Geschichte, unsere Kultur, unsere Bildung zu vernichten … Brennt in der Hölle, ihr Schweine.“[7] Anklage wegen Volksverhetzung wurde nicht erhoben, vielmehr wurde der Autor für seinen Rassismus und seine Hasstiraden belobigt und belohnt. Die Liste der Schande ist lang und dürfte sich in das kollektive Bewusstsein nicht nur der Russen eingebrannt haben.
Wie sich das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland immer weiter verschlechtert hat, habe ich in mehreren Büchern dokumentiert, zum Beispiel in „Ausnahmezustand. Geopolitische Einsichten und Analysen unter Berücksichtigung des Ukraine-Konflikts“. Das Verhältnis ist zutiefst zerrüttet, und sollte es erneut zu einer Annäherung kommen, was dringend erforderlich und zu wünschen ist, wird es lange dauern, bis Vertrauen wiederhergestellt werden kann.
Täglich ist zu beobachten, dass vieles verloren gegangen ist, womöglich unwiederbringlich. Alles Russische soll auf Geheiß engstirniger Leute verschwinden, wobei selbst vor Albernheiten nicht zurückgeschreckt wird. So heißt „Russisch Brot“ jetzt „ABC-Kekse“ und der „Russische Zupfkuchen“ nur noch „Zupfkuchen“ – nicht ganz abwegig, zu vermuten, dass er demnächst in „Ukrainischer Zupfkuchen“ umbenannt wird.
Amerikanisierung und Russophobie
Das machen unsere amerikanischen „Freunde“ geschickter. Sie versorgen den Rundfunk mit ihrer Musik und die Fernsehsender mit Filmen und Serien. So brauchen sie sich nicht mehr großartig zu bemühen, unsere Sprache, unsere Kultur und unser Gemeinwesen umzugestalten, das geht ganz von selbst. Die Bahnauskunft heißt wie selbstverständlich Service Point, die Überschrift Headline, unsere Sportkleidung Sportswear und die Kids spielen outdoor.
Bitterernst wird es, wenn in einem Diplomaten-Handbuch für EU-Staaten steht: „Europäische Diplomaten sollten jegliche bilaterale Kontakte mit Vertretern Russlands vermeiden. Es ist ihnen untersagt, Veranstaltungen zu besuchen, die von der russischen Seite organisiert werden. Dies betrifft unter anderem auch feierliche Empfänge anlässlich des Diplomatentags am 4. November, am 10. Februar, am 23. Februar, am 9. Mai sowie am Tag Russlands am 12. Juni. Russische Diplomaten dürfen nicht zu Veranstaltungen und Empfängen eingeladen werden, die von den Behörden und Vertretungen der EU sowie den Außenministerien der EU-Staaten organisiert werden. Es ist europäischen Diplomaten nicht verboten, Veranstaltungen von Drittstaaten zu besuchen, an denen russische Vertreter teilnehmen. Es ist jedoch wichtig, direkten Kontakt mit den russischen Vertretern zu vermeiden. Es wird empfohlen, dem Gastgeber im Voraus mitzuteilen, dass vermieden werden sollte, dass europäische und russische Delegationen gemeinsam auf Fotos zu sehen sind oder zusammen an offiziellen Sitzungen teilnehmen.“[8] Welchem kranken Gehirn entspringen solche Vorschriften? Gehört Russland jetzt nicht mehr zu Europa, und wer bestimmt das?
Vollends sprachlos machte eine Note der Bundesregierung im April 2024 an die Botschaft der Russischen Föderation in Berlin, wonach die Teilnahme russischer Vertreter an Gedenkveranstaltungen zum 79. Jahrestag der Befreiung der KZ-Häftlinge unerwünscht ist. Eine unglaubliche Böswilligkeit, denn schließlich sind die Häftlinge mehrerer Konzentrationslager 1945 von der Roten Armee befreit worden. Eine Sprecherin des russischen Außenministeriums erklärte: „Wir betrachten diesen provokativen Ausfall als einen weiteren Schritt der deutschen Seite, der darauf abzielt, die historische Erinnerung an den Verlauf und das Ergebnis des Zweiten Weltkriegs auf antirussische Weise zu politisieren. Wir glauben, dass es sich um die Zerstörung des historischen Gedächtnisses und der Wahrheit über den Zweiten Weltkrieg seitens des offiziellen Berlins handelt, das eindeutig hinter dieser Haltung steht und diese auch stimuliert.“[9]
Russland soll isoliert und gedemütigt werden. Die bei westlichen Politikern, Journalisten und in großen Teilen der deutschen Bevölkerung vorhandene Russophobie, die nicht selten in Hass umschlägt, ist systematisch geschürt worden, und wie sich die Bundesregierung dabei verhält, ist beschämend und tut in der Seele weh.
Was nicht passt, wird unterdrückt
Aber es gibt auch die andere Seite: Nach Umfragen im Frühjahr 2024 wollen viele Deutsche friedliche Beziehungen zu Russland, 48 Prozent konnten sogar nachvollziehen, dass es sich vom Westen bedroht sieht.[10] Doch davon ist in den Medien nichts zu vernehmen: Was nicht passt, wird unterdrückt. Das betrifft auch die Reden und Verlautbarungen des russischen Präsidenten.
In einem Gespräch mit russischen Künstlern äußerte sich Wladimir Putin im März 2024 zu dem feindlichen Umgang mit russischer Kultur im Westen: „Wenn wir hören, dass jemand von der Abschaffung der russischen Kultur und der Kultur der Völker Russlands im Allgemeinen spricht, dann wissen wir, dass nur unkluge Menschen so etwas sagen können … Die Kultur, die das geistige Fundament der Nation bildet und unsere Identität stützt, spielt in kritischen, schwierigen und sogar tragischen Momenten natürlich eine sehr wichtige Rolle, denn sie gibt der Nation und jedem Einzelnen Kraft.“ Russland betrachte die eigene Kultur im Kontext der Weltkultur, ohne etwas aus diesem Kontext auszuschließen. Daher habe man nie das getan, was in anderen Ländern mit russischer Kultur und russischen Künstlern getan wurde.
Putin betonte: „Es gibt für uns zwar keine unfreundlichen Länder, aber es gibt uns gegenüber unfreundliche Eliten in diesen Ländern.“ Zur kulturellen Verfassung im Westen sagte er: „Dort, in der europäischen Kultur, gibt es heute viel Gutes, aber auch viele Probleme. So haben wir die einmalige Gelegenheit zu sehen, was in der postindustriellen Gesellschaft und in der Welt geschieht, und angemessen sowie rechtzeitig darauf zu reagieren.“[11]
Quellen und Anmerkungen
[1] Vgl. https://taz.de/Buecherentsorgung-in-der-Ukraine/!5897280/
[2] Vgl. www.nordisch.info/litauen/buchlaeden-verbannen-russische-literatur/
[3] Vgl. Stern, 25.7.2022; www.stern.de/kultur/buecher/russland–literaturagentin-ist-gegen-boykott-von-russischen-verlagen-32561554.html
[4] Vgl. www.wsws.org/de/articles/2022/06/19/ooyj-j19.html
[5] Zit. wie ZDF heute, 1.3.2022; www.zdf.de/nachrichten/politik/muenchen-entlaesst-chefdirigent-der-philharmoniker-100.html
[6] Vgl. BR Klassik, 23.5.2022; www.br-klassik.de/aktuell/news-kritik/anna-netrebko-interview-met-oper-new-york-ukraine-krieg-putin-russland-100.html
[7] Zit. wie NachDenkSeiten, 24.10.2022; www.nachdenkseiten.de/?p=89603
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Da die Nato mittlerweile was von Präventivschlägen gegen Russland in die Mikros kreischt, braucht man sich um Kultur wohl keine Sorgen mehr zu machen.
Schon vor 80 Jahren nicht neu, nie zu den Akten gelegt: Das Herrchen sagt, wer der Feind ist, und die Fußhupen hetzen kläffend drauflos. Der Nächste, der mir sagt, irgendwer hätte irgendwann schon mal irgendwas aus der Geschichte gelernt, kriegt von mir wortlos eine runtergehauen.
Entspricht zu 100% meiner Wahrnehmung.
Wo, wenn nicht hier, braucht es tatsächlich einen Great Reset?
Die Frage, die sich mir stellt: ist nicht die Bildung der veröffentlichten Meinung und die Politik schon so stark in Russophobia gefangen, dass das System nicht mehr reformfähig ist? Oder welcher Schwarze Schwan muss geflogen kommen, damit sich dieses Gespenst in Luft auflöst?